Читать книгу Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5 - Tanja Noy - Страница 9

5. KAPITEL

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„Case closed.“

Norwegen

20:27 Uhr

Ungefähr 900 Kilometer Luftlinie entfernt saß Susanne im Arbeitszimmer neben Edda und spürte, wie ihre Ohrmuscheln vibrierten. „Was, um Himmels willen, hörst du da?!“, fragte sie über laute Posaunen und Trommeln hinweg.

„Auf Deutsch übersetzt heißt es so etwa: Musik für die Seele“, sagte Edda. „Sie soll einem positive Energie, Mut und Kraft geben. Also genau das, was wir gerade brauchen können.“

„Ich könnte gut darauf verzichten.“

Edda machte die Musik noch etwas lauter. „Dieses Stück hier heißt übrigens ‚Drachenjagd‘.“

„Aha.“

„Es gefällt dir wirklich nicht?“

„Geht so. Ich hab‘s ja eher mit Punkmusik, wie du weißt.“

Edda nickte wissend. „Hier“, sagte sie. „Es steht alles hier.“

Susanne blickte auf den Bildschirm und erkannte die Titelseite einer norwegischen Zeitung, die von einem einzigen Wort dominiert wurde: Mord. Sie verstand kaum Norwegisch, aber das war auf keinen Fall misszuverstehen. Sie blinzelte. „Ich dachte, Sofie Dale wäre damals nur verschwunden.“

„War sie ja auch. Aber das hielt die Zeitung nicht davon ab, über einen Mord zu spekulieren.“ Edda öffnete mit einem Klick die erste Doppelseite, die große Bilder enthielt, aber wenig Text. Auf einer Aufnahme war das Haus zu sehen, in dem Sofie vor ihrem Verschwinden mit ihren Pflegeeltern gewohnt hatte. Dazu gab es jeweils ein paar Zeilen.

Susanne drängte nicht mehr auf eine Übersetzung, sondern ließ Edda in Ruhe lesen. Erst als diese ein Foto anklickte, fragte sie: „War das Sofie?“

„Ja“, sagte Edda. „Das Foto war damals noch kein halbes Jahr alt. Genauso hat sie vor ihrem Verschwinden ausgesehen.“

Susanne beugte sich nach vorne, um das Bild besser betrachten zu können. „Hübsches Mädchen.“

„Hmm. Sofie wurde 1978 in Bergen geboren. Die Eltern sind unbekannt.“

„Was? Auch die Mutter?“

„Ja. Es war eine anonyme Geburt.“

„Okay. Und weiter?“

„Sofie kam ins Waisenhaus und lebte in verschiedenen Pflegefamilien, konnte sich aber bei keiner gut einleben. Mit acht Jahren kam sie zu den Dales. Mit denen schien es immerhin einigermaßen gut zu klappen, die haben sie auch adoptiert und bei ihnen blieb sie, bis sie verschwand. Warte kurz.“ Eddas flinke Finger flogen über die Tastatur und ein paar Minuten später öffnete sich ein neues Fenster.

„Was ist das?“, fragte Susanne.

„Das ist die Akte ‚Sofie Dale‘.“

„Du hast dich in den Polizeirechner gehackt?“

„Das habe ich für dich auch schon mal getan, falls du es vergessen hast.“ Edda deutete auf den Bildschirm. „Also, so wie ich das sehe, führte die Polizei damals gründliche Ermittlungen durch, aber geholfen hat es nichts.“ Sie klickte und öffnete eine weitere Textdatei. Offenbar eine Akte.

„Was steht da?“, fragte Susanne.

„Hier steht, dass Sofie kein besonders gutes Verhältnis zu ihren Pflegeltern hatte. Dass sie bereits mehrmals zuvor ausbüxte und dass man deshalb davon ausging, dass es sich dieses Mal genauso verhielt. Nur dass sie dieses Mal nicht wieder zurückkam.“

„Wo hat sie noch mal gewohnt?“

„In Ålesund. Schöne, kleine Stadt am Hafen. Ungefähr eine Stunde von hier.“ Edda scrollte. „Niemand hat Sofie vor ihrem Verschwinden mit einem Fremden gesehen. Niemand sah sie in ein fremdes Auto steigen. Sie war von einer Minute zur anderen einfach spurlos verschwunden. Als hätte die Erde sich geöffnet und sie verschluckt.“

Der Wind vor dem Fenster stöhnte. Das Licht über ihnen wurde matt, flackerte und erlangte dann zögernd wieder seine volle Stärke.

Edda scrollte weiter runter und deutete dann mit dem Finger auf den Bildschirm. „Hier steht, die Polizei vermutete, dass sie sich ins Ausland abgesetzt hätte.“

„Alleine? Das Mädchen war siebzehn.“

„Ja, aber Sofie war der Polizei nicht unbekannt, wie gesagt. Sie war zuvor nicht nur ein paar Mal ausgebüxt, sie war auch einige Male von der Polizei wegen Drogenbesitzes aufgegriffen worden. Das Mädchen war offenbar ziemlich renitent. Und so reimte man eins und eins zusammen und ging davon aus, dass sie wohl einen ausländischen Freund hatte, von dem die Pflegeeltern nichts wussten, dass sie mit ihm durchgebrannt war, und bereits drei Monate später waren die Ermittlungen abgeschlossen.“

„So schnell? Hat die Polizei denn gar nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es sich um ein Verbrechen gehandelt haben könnte?“

„Doch“, sagte Edda. „Aber es gab keine Spuren und keine Hinweise in dieser Richtung, alle Nachforschungen verliefen ins Leere. Case closed.

Es folgte ein langes Schweigen.

„Was, wenn Mok recht hatte und es tatsächlich die Kraniche waren, die Sofie entführt haben?“, sagte Susanne dann.

Edda warf ihr einen Blick zu. „Das würde uns zu unserer ursprünglichen Frage zurückbringen: Warum? Selbst wenn es stimmt, was Mok gesagt hat, und die Kraniche tatsächlich seit Jahren Menschen von der Straße weg entführen, warum? Aus welchem Grund?“

„Keine Ahnung“, räumte Susanne ein. „Ich wünschte, ich hätte eine schlaue Erklärung dafür, aber ich hab keine. Noch nicht.“ Sie richtete sich etwas auf. „Trotzdem passt das für mich zusammen: Die Kraniche entführen und töten Sofie Dale aus einem Grund, der uns noch nicht klar ist. Claas Mok wusste damals schon, wer es getan hat, konnte aber nichts ausrichten. Er ermittelt all die Jahre privat weiter und sie töten ihn.“

„Warum erst jetzt?“

„Gute Frage.“ Susanne entwich ein tiefer Seufzer. „Vielleicht überschlägt sich nur gerade wieder meine Fantasie, aber wenn es um die Kraniche geht, gerate ich nun mal schnell in Hysterie, weil ich schon zu viel mit ihnen erlebt habe. Und weil ich weiß, dass es keine Zufälle gibt, wenn diese Vögel im Spiel sind. Die sind bösartig, Edda. Die interessiert nur Schmerz, Tod und Angst. Und diese verdammte Kassette. Dafür gehen Sie über Leichen.“

Edda hob den Kopf. „Was für eine Kassette? Wovon sprichst du?“

Susanne brummte etwas, was nicht zu verstehen war.

„Von was für einer Kassette sprichst du?“, hakte Edda nach.

Susanne zögerte einen Moment. „Wir fanden sie auf einem Friedhof“, sagte sie dann.

„Das glaub ich nicht“, murmelte Susanne. „Da ist tatsächlich die Kassette!“

Ja, sie war es. Etwa dreißig Zentimeter breit, zwanzig Zentimeter lang und aus Metall.

„Mich trifft der Schlag.“ Der Professor schluckte.

Vorsichtig hob Susanne die Kassette aus der Erde. Als sie zwischen ihnen auf dem Boden stand, sahen sie, dass sie mit drei Schlössern gesichert war.

„Sie ist … hübsch“, sagte der Professor.

Das war sie tatsächlich. Verschlungene Gravuren bedeckten die Kassette. Faszinierende Gravuren, die aufwendig hineingearbeitet worden waren. Die Details waren fast fotografisch genau, und jede einzelne Gravur war ein Kunstwerk für sich. Unter anderem waren sonderbare Zeichen zu sehen, die wirkten wie eine fremdartige Schrift, verschlungene Spiralen, Kreissymbole. Dazu Gestalten, eine davon groß, sie trug ein langes Gewand und darüber einen ebenso langen Umhang. Mit der linken Hand umklammerte sie ein langes, furchterregendes Schwert. Ihr gegenüber stand eine andere Figur, die etwas in den Händen hielt, was nicht einfach zu erkennen war. Die beiden standen sich in Angriffshaltung gegenüber. Dann ein großer Vogel, der durch Wolken flog.

„Ich würde zu gerne wissen, was sich in der Kassette befindet“, sagte der Professor.

„Wir werden es nicht erfahren, solange wir die passenden Schlüssel nicht haben“, gab Susanne zurück. „Außerdem hat die Anwältin ganz klar gesagt, dass ich nicht hineinsehen soll. Wir sollten uns zuerst einmal darauf konzentrieren, die Kassette sicher nach Hause zu bringen.“

„Ich bin ganz bei Ihnen, nur sollten wir eines nicht vergessen.“ Der Professor hob einen Finger in die Höhe. „Dass eigentlich nicht wir es sind, die diese Kassette finden sollten. Was ist, wenn Julia Wagner hierherkommt, und die Kassette ist nicht mehr da?“

„Warte“, unterbrach Edda. „Warte, warte, warte! Jetzt komm ich nicht mehr mit. Julia Wagner? Was hat sie damit zu tun?“

„Sie ist offenbar auf der Suche nach dieser Kassette.“ Susanne tastete ihre Taschen ab und zog eine Packung Zigaretten heraus. „Sie war für sie bestimmt. Wir, der Professor und ich, trafen zufällig auf einen Mann, sein Name war Walter Wendt, der darauf aufpassen sollte, bis Julia bei ihm eintraf. Leider haben die Kraniche den Mann zuvor ausgeschaltet. Und nicht nur das. Sie haben ihn an die Wand genagelt. Ich musste mich übergeben, als ich es gesehen habe.“ Susanne zündete die Zigarette an und inhalierte tief. „Ich weiß nicht, was sich in der Kassette befindet. Man braucht drei Schlüssel, um sie zu öffnen, und wir hatten nicht einen. Da die Kraniche aber bereits viel zu nahe dran waren, hab ich das Ding erst einmal an mich genommen.“

„Obwohl sie für Julia bestimmt war?“

Susanne blies den Rauch in Richtung Decke. „Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass sie den Kranichen in die Hände fällt. Aber dann habe ich eingesehen, dass ich vielleicht einen Fehler gemacht habe. Und so habe ich sie in Sicherheit gebracht und Julia einen Hinweis hinterlassen. Meine Hoffnung ist, dass sie ihn inzwischen gefunden hat. Aber …“ Susanne brach ab.

„Das ist heikel“, bemerkte Edda.

„Die ganze verdammte Geschichte ist heikel, Edda, und ich wusste mir nicht anders zu helfen.“

„Und nachdem du die Kassette versteckt hast, hast du dich entschlossen, zurück nach Norwegen zu kommen?“

„Nein. Zuvor habe ich versucht Julia zu finden, aber leider hatte ich nicht die geringste Ahnung, wo sie stecken könnte. Ich vermutete zwar, dass sie auf dem Weg nach Hannover war, vielleicht war sie sogar schon dort, aber da auch sie es mit den Kranichen zu tun hat, checkt sie natürlich nicht mit ihrem richtigen Namen in irgendwelchen Hotels ein. Sie wird alles tun, um nicht von ihnen gefunden zu werden. Und so hatte auch ich keine Chance, sie zu finden. Dann hast du angerufen und gesagt, dass Jo einen Herzinfarkt hatte …“

Das Heulen des Windes verwandelte sich nun in ein lautes Dröhnen. Wieder flackerte die Birne an der Decke.

„Wer weiß noch davon?“, fragte Edda.

„Niemand.“

„Okay.“ Edda wandte sich wieder dem Rechner zu.

„Was hast du vor?“, fragte Susanne.

„Julia suchen.“

„Und wie willst du das machen? Ich hab dir doch gerade erklärt …“

„Ich weiß noch nicht, wie ich es anstellen werde, aber ich bin verdammt gut am PC, und wenn es nur die geringste Chance gibt, dann werde ich sie finden. Du hast gesagt, sie ist entweder schon in Hannover oder zumindest auf dem Weg dorthin, also werde ich … Hey, was ist denn jetzt los?“ Edda blinzelte irritiert. „Der Rechner bekommt plötzlich keine Signale mehr vom Router. Und der Ersatzrouter funktioniert offenbar auch nicht.“

„Wie können denn zwei Router gleichzeitig ausfallen?“, fragte Susanne.

„Das weiß ich auch nicht.“ Edda tat alles, um den Rechner wieder zum Leben zu erwecken, doch vergebens. Der Bildschirm war und blieb schwarz. „Das gibt‘s doch gar nicht.“

„Kann es am Wetter liegen?“, fragte Susanne.

„Kann es. Aber dass gleich beide Router ausfallen …“ Eddas Ehrgeiz war geweckt. „Ich werde den Fehler finden und dann kümmern wir uns um Julia.“

Susanne nickte, doch gleichzeitig spürte sie plötzlich eine undefinierbare Angst in sich.

Was, wenn es bis dahin schon zu spät war?

Was, wenn …?

Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

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