Читать книгу Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5 - Tanja Noy - Страница 15
11. KAPITEL
Оглавление„Okay. Ich denke, wir haben jetzt genug geredet.“
Hannover
0:56 Uhr
Julia kam es so vor, als hätten sie ewig gebraucht, um das Krankenhaus wieder zu verlassen - und zugleich waren nur ein paar Minuten verstrichen. Während sie durch die Straßen eilten, blickte sie immer wieder über die Schulter und vergewisserte sich, dass ihnen niemand folgte. Aber es folgte ihnen niemand mehr.
„Sie sind also Julia Wagner“, sagte der Mann mit dem struppigen Vollbart. „Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.“
„Woher wissen Sie, wer ich bin?“
„Oh, ich habe schon eine Menge über Sie gehört.“
„Und von wem?“
„Susanne Grimm.“
Unvermittelt blieb Julia stehen. „Wer sind Sie?“
„Bleiben Sie nicht stehen, gehen Sie weiter. Mein Name ist Karl Dickfeld, aber alle nennen mich nur ‚Professor‘. Wenn Sie wollen, können Sie das auch tun. Ich werde Ihnen gerne alles erklären, aber es wäre mir lieber, wenn wir es nicht auf der Straße tun würden. Kommen Sie, dort drüben ist ein Taxistand.“
Julia blieb stehen, wo sie war, und er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Vertrauen Sie mir, Frau Wagner. Ich werde Ihnen alles erklären, aber zuerst brauchen wir ein Taxi. Mein Bus steht zu weit von hier entfernt. Gut einen Kilometer, auf jeden Fall zu weit, um die Strecke bei dem Wetter zu laufen. Jetzt kommen Sie.“ Er setzte sich wieder in Bewegung.
Julia rührte sich immer noch nicht.
Der Professor kam zu ihr zurück. Seine schweren Stiefel hinterließen tiefe Krater im Schnee. „Wenn Sie weiter hier draußen rumlaufen, werden Sie früher oder später umkommen. Das ist eine Tatsache. Sie haben ja gesehen, wie leicht man Ihnen folgen kann. Also bitte …“ Er legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie vorwärts. „Wirklich, Sie können mir vertrauen.“
Kurz darauf öffnete er die vordere Tür eines Taxis und sah hinein. Drinnen saß ein Mann, der das Rentenalter schon lange überschritten hatte. Über einem dünnen Haarkranz trug er eine Baseballmütze mit dem Aufnäher eines Fußballvereins.
„Gut, dass Sie fahren“, sagte der Professor erleichtert.
Der Fahrer grunzte. „Ob es gut ist, werden wir erst noch sehen. Eigentlich dürfte ich bei dem Wetter gar nicht fahren.“
„Nun, wir riskieren es.“
„Komische Zeit, um eine Spazierfahrt zu machen“, bemerkte der Taxifahrer, während er den Motor startete. „Mitten in der Nacht.“
„Möglich“, sagte der Professor, „aber wir leben ja auch in einer komischen Welt, nicht wahr?“ Er öffnete die hintere Tür und drehte sich zu Julia und Eva. „Steigen Sie ein.“
Während der kurzen Fahrt schien das Wetter noch einmal schlimmer zu werden. In kleinen Tornados kam der Schnee vom Himmel herab, prallte gegen die Frontscheibe und wirbelte in den Lichtkegeln der Scheinwerfer.
Zum Glück waren sie nicht lange unterwegs. Sie erreichten einen alten VW-Bus, an dessen linkem Scheibenwischer ein durchnässter Strafzettel klemmte. Der Professor stopfte ihn in seine Manteltasche und schloss die Fahrertür auf. Dann stieg er ein und öffnete die Beifahrertür. „Steigen Sie ein.“
Julia warf Eva einen kurzen Blick zu, dann stieg sie vorne ein. Eva nahm auf einem der hinteren Sitze Platz.
Der Professor lächelte und startete den Bus. „Willkommen an Bord. Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie die Fahrt. In schätzungsweise zwanzig Minuten sind wir am Ziel.“
„Wohin fahren wir?“, wollte Julia wissen.
„Das werden Sie schon sehen.“
„Jetzt hören Sie mal …!“
„Wenn ich Ihnen alles erklärt habe, werden Sie es verstehen.“ Der Professor machte eine Bewegung mit der Hand. „Im Handschuhfach befindet sich ein trockenes Tuch. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Fensterscheibe von innen trocken zu wischen?“
Julia öffnete den Mund, sah es dann aber selbst ein. Von ihrem Atem waren die Scheiben beschlagen. Außer dem trüben Lichtkegel der Scheinwerfer war kaum etwas von der Straße zu erkennen. Also öffnete sie das Handschuhfach, und als sie das Tuch herauszog, fiel ihr eine leere kleine Cognacflasche in den Schoß.
„Hoppla!“, machte der Professor. „Das ist ein Erinnerungsstück. Legen Sie es bitte zurück.“
Julia steckte die Flasche zurück ins Handschuhfach und machte sich daran, die Innenscheiben mit dem Tuch zu trocknen. Als sie fertig war, reichte sie es an Eva weiter, die sich daranmachte, die hinteren Scheiben zu trocknen.
„Vielen Dank“, sagte der Professor.
„So.“ Julia verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann können Sie ja jetzt anfangen. Was haben Sie und Susanne miteinander zu tun?“
„Hm, ja, also …“ Er kniff die Augen zusammen. „Die Kurzversion ist, dass wir, Frau Grimm und ich, vor zwei Tagen beinahe gleichzeitig über eine Leiche und somit quasi übereinander stolperten.“
„Über was für eine Leiche?“
„Oh, eine Dame, deren Name Ihnen bekannt sein dürfte: Britta Stark.“
Julia blinzelte. „Britta Stark? Die Anwältin, die Susanne in der geschlossenen Psychiatrie auf mich hetzte?“
„Genau die.“
„Wer hat sie umgebracht?“
„Die Kraniche.“
Vor ihnen wurde eine Ampel rot. Der Professor bremste vorsichtig ab.
„Und was ist dann passiert?“, fragte Julia weiter. „Wo ist Susanne jetzt?“
„Das weiß ich leider nicht sicher. Als ich sie das letzte Mal sah, machte sie sich gerade auf die Suche nach Ihnen.“ Die Ampel wurde grün. Der Professor fuhr wieder an. „Aber sie hat Sie nicht gefunden“, redete er weiter. „Also hat sie die Kassette dorthin zurückgebracht, wo wir sie zuvor gemeinsam fanden. Das hat Frau Grimm mir bei unserem letzten Telefonat noch erzählt. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört.“
Julia betrachtete den Professor aufmerksam. Er wirkte aufrichtig, aber konnte sie sich da wirklich sicher sein?
Er räusperte sich. „Zuvor wurde ich angeschossen, von einem Mann namens Eduard Schiller. Ein Kranich. Ein fürchterlicher Mensch, widerlich. Er wollte unbedingt die Kassette haben. Fragen Sie mich nicht nach weiteren Einzelheiten. Ich weiß nur noch, dass ich auf einmal auf dem Boden lag und dachte, ich würde sterben. Aber Frau Grimm hat mir das Leben gerettet. Wir brachten die Kassette in Sicherheit und Schiller wurde verhaftet. Meinetwegen hätte er auch tot sein können. Ihm weine ich keine Träne nach.“
„Und dann?“
Der Professor zuckte mit den Schultern. „Nichts. Die Geschichte ist hier zu Ende.“
Julia schüttelte den Kopf. „Wohl noch nicht ganz. Denn offenbar haben Sie – im Gegensatz zu Susanne – die Suche nach mir ja nicht aufgegeben.“
„Nun ja, ich war angeschossen, aber nicht traumatisiert, wie andere in meiner Situation es vielleicht gewesen wären. Ich habe angefangen nachzudenken. Bevor Frau Grimm in mein Leben trat, habe ich es damit verbracht, mich von morgens bis abends zu betrinken. Das aber hat sich inzwischen grundlegend geändert. Sie hat mich sozusagen ins Leben zurückgeholt.“ Der Professor zuckte mit den Schultern. „Die Geschichte ließ mich nicht los. Und so beschloss ich, auf Sie zu warten.“
„Vor dem Haus von Susannes Bruder?“
„Ja. So in etwa. Ich denke, die Kraniche haben dasselbe getan, allerdings ist mir niemand aufgefallen. Oh, sie sind verdammt gut.“
„Und wohin fahren wir jetzt?“, wollte Julia wissen.
Der Professor warf ihr einen kurzen Blick zu. „Nun ja, es wird Zeit, dass wir die Geschichte beenden, nicht wahr? Ich habe mich inzwischen mit der Kassette beschäftigt und mehr darüber herausgefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte. Es wird Sie erleuchten. Vertrauen Sie mir.“
Vertrauen.
Schon wieder.
Der Professor parkte den Bus am Straßenrand und stellte den Motor ab. „Wir sind da. Kommen Sie mit.“
Sie hetzten über eine Straße, auf ein großes, kastenartiges Gebäude zu und stiegen mehrere mit Schnee bedeckte Stufen hinauf. Der Professor klopfte gegen eine Glastür und ein Wachmann kam ihnen entgegen. Ein großer, kräftiger Mann in den Fünfzigern, mit breiten Schultern, dessen graue Uniform eine Nummer zu klein war.
„Ja?“, fragte er nicht gerade freundlich durch die geschlossene Tür.
„Wir möchten zu Herrn Eylenstein“, sagte der Professor.
„Um diese Uhrzeit?“
„Er erwartet mich.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Mein Name ist Dickfeld. Karl Dickfeld. Rufen Sie ihn bitte an.“
Der Wachmann zögerte, griff dann aber doch nach seinem Handy, wartete, wechselte ein paar dürre Worte und sah den Professor dann wieder an. „In Ordnung.“ Er drückte auf einen Knopf und die Glastür schwang auf. „Er ist in seinem Büro.“ Mit dem Zeigefinger deutete er einen Flur entlang.
„Danke“, sagte der Professor. Und an Julia gewandt: „Kommen Sie.“
Sie gingen einen gefliesten Gang entlang, der sich irgendwo in der Ferne verlor. Von dort drang Licht aus einem Büro.
Als sie es erreichten, sagte der Professor: „Hier ist es.“
Neben der Tür war ein Namensschild angebracht, auf dem in silbernen Großbuchstaden Eylenstein stand.
Der Professor klopfte an, und als eine Stimme von drinnen „Herein“ sagte, betraten sie einen einschüchternden Raum. Er war vollgestopft mit Büchern, die in mehreren bis zur Decke reichenden Regalen standen.
Der Mann, von dem anzunehmen war, dass es sich um Eylenstein handelte, saß hinter einem Schreibtisch aus massiver Eiche und lächelte freundlich. Ein älterer Mann mit buschigen weißen Haaren. „Herr Dickfeld!“
„Ja, ich bin es wieder“, sagte der Professor. „Und dieses Mal habe ich jemanden mitgebracht.“
Eylenstein sah Julia an. „Ist das die junge Dame, über die wir sprachen?“
„Ja.“
Er erhob sich und reichte ihr die Hand.
„Bis jetzt habe ich noch keine Ahnung, was ich hier soll“, sagte sie.
„Das werden Sie sofort erfahren. Möchten Sie etwas trinken? Einen heißen Tee vielleicht?“
„Nein danke.“
Auch Eva schüttelte den Kopf.
„Dann setzen Sie sich doch bitte.“
Während Eva sich erschöpft auf einen der Stühle sinken ließ, die im Halbkreis vor dem Schreibtisch aufgestellt waren, sagte Julia: „Ich bleibe lieber stehen.“
Eylenstein nickte und setzte sich ebenfalls wieder. „Haben Sie die Kassette inzwischen gefunden?“
„Ja.“
„Aber Sie haben sie noch nicht geöffnet.“
„Nein. Es war noch keine Zeit dafür.“
„Gut.“ Eylenstein nickte zufrieden. „Es könnte zu Ihrem Schaden sein, wenn Sie sie zu früh öffnen.“
Julia ließ ihn nicht aus den Augen. „Was meinen Sie damit?“
Er neigte etwas den Kopf. „Ich bin bereit, Ihnen wichtige Informationen darüber zu liefern, Frau Wagner, aber wenn ich es tue, müssen Sie im Gegenzug all Ihre rationalen Gewissheiten fallen lassen. Denn es mag in Ihren Ohren fantastisch und abwegig klingen, aber es geht hier um etwas, das nicht der Welt der Vernunft und der Ratio angehört.“
Julia runzelte die Stirn. „Geht es um etwas Religiöses?“
„Ich entnehme Ihrem Tonfall, dass Sie selbst nicht besonders religiös sind.“
„Nein, nicht besonders.“
Eylenstein nickte und verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch. „Nun, wenn Sie an keinen Gott glauben, dann glauben Sie auch nicht daran, dass es das Böse gibt, richtig?“
„Oh nein, ganz im Gegenteil. An das Böse glaube ich unbedingt, denn ich habe es gesehen. Allerdings meine ich das menschliche Böse, keine Hölle, wie sie in Büchern beschrieben wird. Ich glaube auch an keinen Teufel mit Dreizack und gespaltenen Hufen, nur falls Sie darauf hinauswollen.“
„Aber woher kommt das Böse, wenn nicht vom Teufel?“, wollte Eylenstein wissen. „Darüber müssen Sie nachdenken, Frau Wagner. Sie müssen über den Ursprung des Bösen nachdenken.“ Er beugte sich nach vorne und sah Julia in die Augen. „Weshalb, denken Sie, ist Jesus auf die Erde gekommen?“
„Um die Menschen zu retten. So habe ich es jedenfalls gelernt.“
„Richtig. Er kam, um uns zu retten. Um uns von unseren Sünden zu erlösen.“
„Und?“
„Und? Denken Sie nach, Frau Wagner. Wenn Jesus auf die Erde kam, um die Menschen zu erretten, was ist dann die logische Schlussfolgerung? Dass das Böse schon lange vor ihm da war.“ Eylenstein betrachtete Julia immer noch aufmerksam. „Das Wort ‚Satan‘ leitet sich übrigens von der hebräischen Wurzel ‚stn‘ ab und bedeutet so viel wie ‚der Widersacher‘ oder ‚der Widerwirker‘, und genau das ist es, womit wir es zu tun haben: Ein übernatürliches, mächtiges Wesen.“
Julia atmete ungeduldig aus. „Ich weiß wirklich nicht, warum ich dieses Gespräch führe …“
„Es ist wichtig für den Kampf, den Sie führen“, wandte Eylenstein ein. „Je mehr Sie über Ihre Gegner wissen, desto besser können Sie sich gegen sie rüsten.“
„Womit ich es hier zu tun habe, ist nichts Übersinnliches“, beharrte Julia. „Ich habe es mit realen Menschen zu tun. Mit verdammt bösen, aber auch verdammt realen Menschen.“
„Nun, dass es Gut und Böse auf der Welt gibt, streiten Sie ja nicht ab. Richtig?“
Julia nickte.
„Aber es kann nicht beides gleichzeitig geben, Frau Wagner. Zwei Gegensätze können nicht nebeneinander existieren, es muss einer dem anderen weichen. Verstehen Sie?“
Statt einer Antwort machte Julia eine unbestimmte Handbewegung.
„Nur weil die Menschen an keinen Gott mehr glauben, denken sie, könnten sie sich auch von Satan befreien“, sprach Eylenstein weiter. „Ihn ablegen, sozusagen, aber so einfach ist es nicht. Er ist überall und nirgends. Integriert. Unsichtbar. Lautlos auf dem Vormarsch. Glauben Sie mir, er war noch nie so mächtig wie heute.“
„Eine hübsche Rede, wirklich. Aber ich …“
„Sie gewinnen diesen Kampf nicht, wenn Sie den Feind unterschätzen, Frau Wagner. Natürlich sind es Menschen, die all die bösen Dinge tun. Der Teufel nimmt unterschiedlichste Erscheinungsformen an, das ist sein größtes Kapital. Sie dürfen nicht bei dem stehen bleiben, was Ihre Augen sehen und Ihre Ohren hören können. Es wäre fatal, wenn Sie das täten. Denn das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, ist es, die Menschen zu unterschätzen, die den ‚Hölleneid‘ geschworen haben.“
Julia sah auf. „Den was?“
„Den Hölleneid. Der Teufel gibt niemals etwas umsonst, er bietet immer nur einen Handel an. Macht gegen völlige Unterwerfung bis in den Tod. Dieses Geschäft wird ‚Hölleneid‘ genannt. Der Faustische Pakt, den der Ketzer mit seinem Blut unterschreibt.“
„Oh Mann“, murmelte Eva.
„Die Kraniche haben den Hölleneid geschworen“, sagte Eylenstein. „Sie betrachten sich selbst als die Knechte des Satans. Und deshalb sind sie von allen üblen Gestalten, denen wir bisher begegnet sind, bei Weitem die gewalttätigsten und gefährlichsten. Und mit der Kassette wird die Übernahme vollendet.“
„Die Übernahme?“, fragte Julia. „Was soll das jetzt wieder heißen?“
„Es wird behauptet, sie bestünde aus einem geheimnisvollen Metall.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“
„Aber doch. Sie ist deshalb so ausgestattet, weil sie die Kräfte des Bösen beinhaltet.“
„Was?“
„Sie haben richtig verstanden. In ihrem Inneren soll sich die Teufelsbibel befinden.“
Für einen kurzen Moment herrschte absolute Stille im Raum.
Dann lachte Julia auf. „Was reden Sie denn da? Teufelsbibel? Was soll das sein?“
„Ob sich dieses Buch tatsächlich in der Kassette befindet, wissen wir natürlich erst, wenn Sie sie geöffnet haben. Aber ganz sicher glauben die Kraniche daran. Sie glauben, sie könnten damit auf direktem Wege die Mächte des Bösen erschließen und somit Kräfte heranziehen, die sie brauchen, um die totale Macht zu übernehmen.“ Er machte eine kurze Pause. „Glauben Sie mir, ich habe alles darüber gelesen. Das Buch soll im frühen Mittelalter von einem Mönch geschrieben worden sein, kurz bevor er durchdrehte und sich selbst bei lebendigem Leib anzündete und verbrannte. Es heißt, er habe es in nur drei Nächten niedergeschrieben und Satan persönlich habe ihm dabei die Feder gehalten. Deshalb soll es in einer Sprache geschrieben sein, die nur wenige Menschen beherrschen. Die, die sie beherrschen, sind jedoch in der Lage, mit dem Teufel persönlich in Kontakt zu treten. Oder ihn in seine Hölle zurückzuschicken.“
Julia starrte Eylenstein an. „Sie nehmen mich gerade auf den Arm, richtig?“
„Ganz und gar nicht.“ Kurz huschte ein verärgerter Ausdruck über sein Gesicht. „Ich bin nicht verrückt, Frau Wagner. Ich höre keine Stimmen. Ich renne nicht nackt durch die Gegend und ich werfe nicht mit meinem eigenen Kot um mich. Ich bin vollkommen klar und das hier ist kein leeres Geschwätz, auch wenn Sie das offensichtlich gerade denken.“ Er atmete tief durch, dann redete er weiter. „Auf unbekanntem Wege soll das Buch im siebzehnten Jahrhundert nach Norwegen gelangt sein.“ Er deutete auf einen Stapel Papier, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. „Sagt Ihnen der Name Albert Treutner etwas?“
„Nein.“
„Ein Mann, der Anfang des letzten Jahrhunderts lebte. Ein strenggläubiger Mann, der in Hannover einen Eisenwarenladen unterhielt und als Kenner des Okkulten bekannt war. Er war davon überzeugt, dass es die Kassette gibt und dass sie das beinhaltet, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Mit vierzig Jahren schloss er sein Geschäft und verbrachte den Rest seines Lebens damit, die Kassette zu suchen. Ein Erfolg blieb ihm jedoch versagt. Am Ende starb er völlig verarmt und als Spinner verschrien im Alter von dreiundfünfzig Jahren. Aber er hat zuvor noch alles in diesem Manuskript festgehalten.“ Eylenstein hob die Hand und ließ sie dann schwer zurück auf den Schreibtisch fallen. „Ich habe es mit Interesse gelesen. Was ich mir aber nicht vorstellen konnte, war, dass es diese Kassette tatsächlich geben könnte.“ Er schob den Papierstapel zu Julia hinüber. „Sie können es gerne lesen.“
Julia fasste die Seiten nicht an. „Das ist lächerlich. Haltlose Behauptungen, durch nichts bewiesen. Treutner hätte besser daran getan, das Manuskript an irgendeinen Schundverlag zu schicken, der sich nicht zu schade ist, auch den größten Mist zu drucken. Oder er wäre besser gleich ganz bei seinem Eisenwarengeschäft geblieben.“
„Es gibt keinen Beweis für Treutners Behauptungen, das stimmt. Aber es gibt auch keinen Beweis für das Gegenteil. Und jetzt …“, Eylenstein breitete die Arme aus, „stehen die Raunächte an.“
Julia stöhnte auf. „Was sind jetzt schon wieder die Raunächte?“
„Das sind die Nächte zwischen Heiligabend und dem 6. Januar. Es heißt, in diesen Nächten steht das Geisterreich offen und sie ermöglichen es dämonischen Wesen und Seelen unguter Verstorbener, zu erscheinen. Wenn sie nicht rechtzeitig zurückgetrieben werden, bleiben sie auf immer frei. Deshalb wollen die Kraniche jetzt die Kassette. Sie muss während der Raunächte von ihnen geöffnet werden.“
Als daraufhin zu lange nichts von Julia kam, fügte Eylenstein hinzu: „Wenn die Kassette in diesen Nächten geöffnet wird, dann muss es von der guten Seite aus geschehen, und dafür braucht es einen mutigen Menschen. Einen Menschen, der vorbereitet ist. Einen Menschen, der in der Lage ist, die Schrift zu lesen und zu verstehen. Einen Menschen, der weiß, was zu sagen ist.“
Julia starrte ihn an. „Und dieser Mensch soll ich sein?“
Er legte sich die Hände auf die Brust. „Ich halte es zumindest für ein Zeichen, dass ausgerechnet Sie danach suchen. Und Sie beherrschen die Sprache, nicht wahr? Die Sprache, die sonst kaum jemand beherrscht.“
Julia sagte nichts darauf und für einen kurzen Moment wurde es still im Raum.
„Okay“, sagte Julia dann. „Ich denke, wir haben jetzt genug geredet.“ Sie griff in die Plastiktüte. „Machen wir das Ding auf und überzeugen uns davon, dass das alles nur Spinnereien sind.“ Sie holte ein eingewickeltes Paket heraus, das sie auf den Schreibtisch stellte, und begann damit, das Packpapier zu entfernen.
Schließlich stand die Kassette vor ihnen auf dem Tisch.
„Jesus“, murmelte Eylenstein und beugte sich nach vorne, um sie besser ansehen zu können. „Das ist sie tatsächlich. Und sie ist wunderschön!“
„Sie hat tatsächlich drei Schlösser“, stellte Eva fest. „Mach sie damit auf, Julia. Worauf wartest du?“
„Mal angenommen, es wäre das in der Kassette, was Sie behaupten“, sagte Julia zu Eylenstein, „dann bekämen wir ein großes Problem. Denn ich hätte keine Ahnung, was ich dann tun sollte.“
„Vielleicht haben wir es aber auch mit etwas ganz anderem zu tun“, warf der Professor mit einem leichten Lächeln ein. „Vielleicht befindet sich darin keine Teufelsbibel, sondern die Koordinatoren zum Bernsteinzimmer.“
„Hmm“, machte Julia. „Vielleicht befindet sich darin aber auch eine Bombe und wir fliegen gleich alle in die Luft.“ Sie zögerte noch einen Moment, dann holte sie die drei Schlüssel aus ihrem Rucksack. Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen steckte sie den ersten ins Schloss. Als sie ihn umdrehte, war ein leises Knacken zu hören.
„Oh, mein Gott, es funktioniert“, sagte Eylenstein atemlos.
Ja, es funktionierte.
Der erste Schlüssel passte.
Julia steckte den zweiten in das nächste Schloss, und als sie ihn drehte, war erneut ein leises Knacken zu hören.
Später entsann sie sich noch oft daran, dass das Knacken beim dritten Schloss ein anderes war. Und dass sie deshalb einen kleinen Moment zögerte. Dann hob sie vorsichtig den Deckel an und sah in die Kassette hinein.
Sie enthielt – nichts.
Bis auf einen kleinen Zettel mit der Zahl 3891.
„Soll das ein Witz sein? Das ist ein Witz, oder?“ Julias Gemütszustand schwankte irgendwo zwischen hysterischem Lachen und hemmungslosem Weinen. „Ich werde hier doch nach Strich und Faden verarscht!“
Eylenstein ließ niedergeschlagen die Schultern hängen.
Der Professor starrte fassungslos in die leere Kassette.
Eva blinzelte ungläubig.
Schließlich streckte der Professor die Hände aus und begann, die Kassette von innen abzutasten. „Sie ist tatsächlich vollkommen leer. Nichts, wo man etwas verstecken könnte.“
„Dann ist es nicht die richtige Kassette“, stellte Eylenstein fest.
„Wie bitte?“ Julia drehte sich zu ihm um. „Sie ist es eindeutig. Sie war verdammt gut versteckt, schwer zugänglich und genau dort, wo sich das X auf der Karte befand. Sie ist es.“
„Und ich sage Ihnen, dass das hier nicht die richtige Kassette ist.“
Frustriert warf Julia die Hände in die Höhe und ließ sie wieder sinken.
Eva sagte: „Wenn man so darüber nachdenkt, passt es.“
„Was passt?“, wandte Julia sich an sie.
„Es war zu einfach.“ Eva deutete auf die Kassette. „Das hier war ein Täuschungsmanöver. Ja, die Kassette war gut versteckt und wir mussten einige Hürden überwinden, um sie zu finden, aber man hütet ein Geheimnis am besten dadurch, dass man weitere Geheimnisse drum herum schafft, nicht wahr? Außerdem würde es zum Vorgehen deines Vaters passen.“
„Hast du schon vergessen, wie viele Menschen für das verdammte Ding gestorben sind?“, fragte Julia gereizt.
„Nein, das habe ich ganz und gar nicht vergessen. Aber es ist nun mal eine Tatsache: Wenn das hier die falsche Kassette ist, dann ist sie nur ein weiteres Stück des Puzzles. Und dann ist die richtige noch irgendwo. Das heißt, wir müssen weitersuchen und sie finden.“
„Aaaaaaaahhhh!“ Julia ging zu einem der Stühle und ließ sich darauf sinken. „Seit Tagen laufe ich einem Hinweis nach dem anderen hinterher, um am Ende DAS zu finden! Wozu die ganze verdammte Geheimnistuerei? Wozu der verschlüsselte Brief meines Vaters? Warum hat er mir darin nicht einfach mitgeteilt, wo sich die richtige Kassette befindet? Das wäre doch viel einfacher gewesen.“
„Gerade habe ich es dir erklärt“, sagte Eva. „Er wollte oder musste die Täuschung aufrecht und die Kassette außer Reichweite der Kraniche halten. Was, wenn sie sie vor dir finden würden? Das muss die wichtigste Frage gewesen sein, mit der er sich beschäftigte. Ihm blieb überhaupt keine andere Wahl. Und geben wir es zu, sie waren ja tatsächlich schon sehr nahe dran.“
Der Professor nickte zustimmend. „Richtig.“
Julia seufzte tief auf und rieb sich über die Augen. „Aber wenn das da die falsche Kassette ist, wo bitte schön ist dann die richtige? Ich habe keine Ahnung, wo ich noch danach suchen soll. Ich habe auch keinen Hinweis mehr. Es gibt keinen Stein mehr, den zu wenden sich noch lohnen würde. Sehen wir es ein, es ist vorbei.“
Eva hielt den Zettel in die Höhe. „Hier ist ein Hinweis.“
„3891? Was soll das sein? Ein Zahlenschloss? Eine Fluglinie? Eine Hausnummer? Das kann alles Mögliche bedeuten, Eva.“
„Es überrascht mich, dass Sie die Beute so schnell loslassen, Frau Wagner“, sagte der Professor.
„Was für eine Beute?“, wandte Julia sich an ihn. „Haben Sie gerade nicht zugehört? Ich weiß nicht mehr weiter.“
„Es gibt immer einen Hinweis“, beharrte der Professor.
Julia schüttelte den Kopf und schwieg.
„Ich stimme Herrn Dickfeld zu.“ Auf Eylensteins Stirn glänzte das Licht der Deckenlampe. „Sie haben Ihre Hausaufgaben bis hierher gemacht und das haben Sie mit Bravour getan. Aber es muss noch weitere Hinweise geben. Sie müssen eben weitersuchen.“
„Ich …“, fing Julia an, aber es war überflüssig, den Satz auszusprechen. Mit einer müden Handbewegung erhob sie sich vom Stuhl und verließ das Büro.