Читать книгу Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5 - Tanja Noy - Страница 12

8. KAPITEL

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„Da unten steht jemand.“

Hannover

22:44 Uhr

Julia und Eva standen im gelblichen Licht einer Straßenlampe, inmitten von unzähligen Schneeflocken, und betrachteten das Mehrfamilienhaus, das weiß und rot gestrichen war, einladend und elegant aussah und umgeben war von ähnlich eleganten Häusern.

„Glaubst du das wirklich?“ Eva rieb die behandschuhten Hände gegeneinander. „Ich meine, könnte S. G. nicht auch etwas ganz anderes bedeuten? Warum sollte ausgerechnet Susanne Grimm dir eine Nachricht in einem Totenkopf hinterlassen? Woher sollte sie überhaupt gewusst haben, dass sich die Kassette in der Kapelle befindet?“

„Keine Ahnung.“ In Julias Kopf wirbelte alles durcheinander. „Aber wenn es so ist, dann bedeutet das, dass sie ebenfalls mitten in dieser Geschichte steckt. Und dass sie vermutlich Ärger hat. Eine Menge Ärger.“

„Na, das ist ja nichts Neues.“ Eva schnaubte. „Soviel ich weiß, gibt es überall Ärger, wo diese Frau auftaucht.“

Julia blieb stehen und sah sie an. „Ich weiß, dass du nicht gerade Susannes größter Fan bist, aber jetzt ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt für Eifersucht, okay?“

„Ich bin nicht eifersüchtig.“

„Nein? Was dann?“

„Es macht mich einfach nur krank, dass …“ Eva brach ab. „Vergiss es. Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“

Begib dich in den Schoß der Familie und sieh, was Brüder dir tun können. Dann findest du die Antwort.“ Julia schaute an der Fassade des Hauses hoch. „Ich wüsste nicht, was das sonst bedeuten könnte.“ Sie setzte sich wieder in Bewegung.

Eva folgte ihr. „Das Ganze könnte aber auch eine Falle sein.“

„Du meinst, Susanne wartet bei ihrem Bruder auf uns, um uns umzubringen? Das ist lächerlich.“

„Sie vielleicht nicht. Aber die Kraniche.“

„Du meinst, sie hat uns verraten?“

„Warum nicht? Zuzutrauen wäre es ihr. Immerhin war sie in der geschlossenen Psychiatrie.“

„Da war ich auch.“

„Sie war aber dort wegen eines Mordversuchs.“

„So eindeutig war das nicht. Sie wollte eine andere Frau vor einer Vergewaltigung bewahren.“

„Und hat mit einer Glasscherbe zugestochen.“

Julia blieb wieder stehen und blickte einen Moment in den schwarzen Himmel, ehe sie Eva ansah. „Sie ist ein guter Mensch. Können wir es dabei belassen?“

Eva erwiderte den Blick trotzig. „Das sagst du nur, weil du in sie verliebt warst.“

„Das war ich nicht. Das ist Unsinn. Susanne und ich waren in der Psychiatrie sehr einsam, nur deshalb haben wir uns dort aufeinander eingelassen. Ja, wir hatten Sex. Aber das hatte überhaupt nichts mit irgendwelchen Gefühlen zu tun. Und ich meine auch, ich hätte dir das mehr als einmal ausführlich erklärt.“

Eva öffnete den Mund und sagte etwas, doch eine heftige Windbö riss ihre Worte fort. Gleich darauf machte sie eine resignierende Handbewegung. „Ja, hast du. Hast du. Komm, lass es uns hinter uns bringen.“

Sie setzten sich wieder in Bewegung.

„Glaubst du, er macht uns überhaupt auf? Mitten in der Nacht?“, sagte Eva.

„Das werden wir sehen“, gab Julia zurück.

Beim Haus angekommen, nahm sie die Klingeln neben Messing-Namensschildern ins Visier, drückte dann auf den Namen „Jörg Grimm“ und wartete.

Es dauerte eine ganze Weile, dann meldete sich eine Stimme aus der Sprechanlange. „Ja?“

„Julia Wagner. Entschuldigen Sie die späte Störung. Aber …“

„Warten Sie, ich komme runter.“

Gleich darauf kam ein schlanker, großer Mann, ungefähr einen Meter neunzig, aus dem Haus. Er sah überhaupt nicht so aus, als hätten sie ihn aus dem Bett geklingelt. „Zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis“, sagte er zu Julia.

Sie suchte in ihrer Jackentasche, fischte den Ausweis heraus und reichte ihn ihm.

Er studierte das Dokument eingehend, dann hob er den Blick und sagte: „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie tatsächlich kommen würden. Aber meine Schwester war sich sicher.“

„Sie wissen also, worum es geht?“, sagte Julia.

„Ich weiß nicht alles. Aber was ich weiß, reicht. Kommen Sie mit.“ Er führte sie zu einem dunklen Audi Kombi, der am Straßenrand geparkt stand.

„Wo fahren wir hin?“, wollte Julia wissen.

„Zu meinem Büro. Tut mir leid, aber anders war die Sache leider nicht zu lösen. Ich habe Susanne versprochen, ihr und Ihnen zu helfen, aber ich weiß auch, wie gefährlich die Menschen sind, mit denen wir es hier zu tun haben.“ Er öffnete den Wagen. „Steigen Sie ein.“

Während sie über die verschneite Straße fuhren, sagte Jörg Grimm: „In meinem Büro habe ich einen Stahltresor. Ich dachte, dort ist er sicher.“

„Wer?“, fragte Julia.

„Der Schlüssel, den Susanne mir gegeben hat.“ Immer wieder blickte Jörg in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgte. „Er gehört zu einem Schließfach.“

Ein paar Minuten später erreichten sie ein Bürogebäude.

„Kommen Sie“, sagte Jörg und stieg aus.

Das Bürogebäude selbst war unscheinbar und unterschied sich nicht von den Nebengebäuden.

Sie verzichteten darauf, einen der Fahrstühle zu nehmen, und stiegen stattdessen die Treppen hinauf bis in den sechsten Stock. Dann gingen sie einen langen, mit Teppichboden ausgelegten Flur entlang, vorbei an mehreren Türen. Schließlich blieb Jörg stehen und öffnete eine davon mit einem Kartenschlüssel aus Plastik. Das Klicken des Schlosses hallte leise im Flur wider. „Treten Sie ein.“

Sie betraten ein mittelgroßes Büro, in dessen Mitte sich ein Schreibtisch befand. An der Wand stand ein großes Regal mit Aktenordnern und überfüllten Kisten.

Da alle Heizungen abgestellt waren, war es eiskalt.

Jörg ging zu einem Safe in der Ecke, gab eine Zahlenkombination ein und öffnete die schwere Stahltür. Mit einem kleinen Schlüssel kam er zu Julia zurück. Er reichte ihn ihr. „Bitte sehr.“

Sie griff danach und drehte ihn zwischen den Fingern. Er gehörte zu einem Bahnhofsschließfach. „Wann hat Susanne Ihnen den Schlüssel gegeben?“, wollte sie wissen.

„Gestern.“

„Gestern?“ Julia sah auf. Dann hatten sie sich nur knapp verpasst. „Und wo ist sie jetzt?“

„Das weiß ich nicht.“ Jörg breitete die Arme aus. „Wir haben uns getroffen, sie gab mir den Schlüssel und dann ist sie wieder verschwunden.“

„Aber sie muss doch irgendetwas gesagt haben.“

„Sie meinte nur, ich müsse ihr vertrauen. Und dass ich sehr vorsichtig sein müsse. Das war es. Dann ist sie, wie gesagt, wieder verschwunden.“ Jörg deutete auf den Schlüssel in Julias Hand. „Ich schätze, Sie werden alles erfahren, wenn Sie damit das Schließfach geöffnet haben.“

Julia blickte wieder auf den Schlüssel in ihrer Hand. „Ich habe Susanne das letzte Mal gesehen, als ich ihr bei der Flucht aus der Psychiatrie geholfen habe. Das war im letzten Sommer.“ Sie sah Jörg wieder an. „Wo war sie die ganze Zeit? Hat sie es bis nach Norwegen geschafft?“

„Ja.“

„Dann war sie in meinem Ferienhaus?“

„Nein. Sie war bei Ihrem Nachbarn. Jo Holmen.“

„Bei Jo?“ Jetzt war Julia ehrlich überrascht.

Jörg nickte. „Sie wäre um ein Haar von der Polizei erwischt worden und er bot ihr Unterschlupf, bis sie unbedingt nach Deutschland zurückkommen wollte …“ Seine Stimme verebbte.

„Und warum wollte sie unbedingt nach Deutschland zurückkommen?“, fragte Julia weiter.

„Sie hatte herausgefunden, dass sie hereingelegt worden war. Jemand wollte, dass sie in der geschlossenen Psychiatrie landete, und sie wollte herausfinden, wer ihr das angetan hatte.“

„Hat sie Namen genannt?“

„Kraniche.“

Julia nickte langsam. Sie hatte es befürchtet.

Jörg wollte noch etwas hinzufügen, doch in dem Moment sagte Eva: „Da unten steht jemand.“

„Was?“ Julia neigte den Oberkörper etwas nach vorne und spähte aus dem Fenster. Tatsächlich, unten auf der Straße stand ein Mann, der genau in dem Moment zu ihnen heraufsah.

Schnell zog Julia sich zurück und Eva mit sich. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ein Kranich? Und wenn ja, was tun? Flüchten? Wenn sie flüchteten, würden sie vermutlich am Ausgang des Gebäudes kaltblütig erschossen werden.

„Glaubst du, das ist ein Kranich?“, fragte Eva alarmiert.

„Ich weiß es nicht. Aber ich möchte es auch nicht darauf ankommen lassen, es herauszufinden. Wir müssen irgendwie hier raus.“

„Auf der hinteren Seite des Gebäudes gibt es eine Feuerleiter“, sagte Jörg. „Eine alte Metallleiter, die an der Fassade entlangführt.“

„Und wenn sie dort auch auf uns warten?“, sagte Eva. „Was dann?“

„Ich schätze“, gab Julia zurück, „wir müssen es versuchen.“

Um zur hinteren Seite des Gebäudes zu gelangen, mussten sie den Flur bis zum Ende durcheilen. Dann erreichten sie ein Fenster. Jörg öffnete es und sagte: „Sie werden ein Stück klettern müssen.“

„Und Sie?“, fragte Julia.

Er machte eine kurze Handbewegung. „Ich werde nach unten gehen und versuchen, sie aufzuhalten.“

„Und wenn sie auf Sie schießen?“

„Durchaus möglich, dass sie das tun werden. Aber in der Zeit, in der die Kerle bemerken, dass Sie nicht bei mir sind, können Sie beide abhauen. Allerdings sollten Sie sich jetzt wirklich beeilen.“

Julia sah Eva an. „Ich zuerst.“ Sie stieg auf das Fensterbrett und setzte ein Bein nach draußen. Die Treppe war einen Meter unterhalb des Fensters montiert. Auf halber Höhe gab es einen Sims, nicht sehr breit, aber breit genug, um sich daran festzuhalten. Sie kletterte aus dem Fenster und hielt sich am Sims fest, während ihre Füße nach der ersten Stufe der Leiter suchten. Als sie sie gefunden hatte, stellte sie sich darauf.

Eva stieg ebenfalls ins Fenster, wollte den Rahmen aber nicht loslassen. „Komm“, sagte Julia. „Halt dich am Sims fest.“

„Ich kann nicht.“

„Doch, du schaffst das.“

Vorsichtig kletterte Eva aus dem Fenster, hielt sich am Sims fest und ließ ganz langsam den rechten Fuß hinunter zur Leiter gleiten. Fast hätte sie dabei das Gleichgewicht verloren, und Julia glaubte, ihr müsse das Herz stehen bleiben.

Vor lauter Schreck presste Eva sich wieder an den Sims. Sie holte tief Luft, versuchte es noch einmal, und diesmal berührte ihr rechter Fuß die Stufe der Leiter.

Es folgte der linke Fuß. Dann stand sie auf der Leiter, und sie begannen so schnell wie möglich, die Stufen hinunterzuklettern.

Sechs Stockwerke.

Die Minuten zogen sich endlos in die Länge.

Als nur noch wenige Stufen übrig waren, sprang Julia seitlich über das Geländer und landete im Schnee.

Eva tat dasselbe und landete neben ihr. „Und was jetzt?“, fragte sie außer Atem.

„Wir müssen zum Bahnhof laufen“, sagte Julia. „Oder ein Taxi nehmen, wenn wir eins finden.“

Sie liefen so schnell sie konnten.

Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

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