Читать книгу Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5 - Tanja Noy - Страница 6

2. KAPITEL

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„Kennen Sie die Geschichte vom Hörnermann?“

Norwegen

Noch lange danach würde Edda Holmen sich an diesen frühen Abend erinnern. Ebenso, wie sie die vergangenen Tage nicht vergessen würde. Mitte Dezember hatte eine bittere Kälte eingesetzt und die Temperaturen waren immer weiter gefallen. Dann, vor drei Tagen, stiegen die Temperaturen wieder bis auf null Grad an und brachten starke Schneefälle über das Land. Eine Schicht Schnee fiel auf die nächste, sodass die Räumdienste in Dauerbetrieb inzwischen für einen zwei Meter hohen Haufen gefrorenen Schnees an den Straßenrändern gesorgt hatten.

So hatte der Winter auch an diesem frühen Abend alles fest im Griff. Auch Eddas Peugeot, der wirklich nicht zu den neuesten Errungenschaften der Welt gehörte. Während der Wind die dichten Schneeflocken gegen die Windschutzscheibe trieb, war die Heizung mal wieder ausgefallen. Die Scheiben beschlugen ständig und sie musste mehrmals mit einem Taschentuch eine freie Sichtfläche wischen, während sie dem schmalen Band folgte, das einer der Schneepflüge auf der Straße hinterlassen hatte. Da sie keine Handschuhe trug, waren ihre Hände schon ganz taub und ihre Füße prickelten schmerzhaft. Zu all dem kam noch, dass die Helligkeit der Scheinwerfer nicht so total war wie sonst, es war eher eine Art Dämmerlicht, hell an den Rändern und in der Mitte nichts als weiße Flocken.

Edda stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie war müde. Sie wollte ins Warme. Sie wollte sich in die Badewanne legen, auftauen und irgendwie zur Ruhe kommen. Den Plan, sich an den Computer zu setzen und zu arbeiten, den sie am Morgen noch geschmiedet hatte, verwarf sie wieder. Darauf verspürte sie nicht mehr die geringste Lust.

Als sie zehn Minuten später endlich vor dem bescheidenen Haus ihres Onkels anhielt, dessen Zufahrt ebenfalls hinter einem meterhohen Schneehaufen verborgen lag, atmete sie erleichtert durch.

Kaum hatte sie den Wagen verlassen, peitschte ihr ein eiskalter Wind ins Gesicht. Ein weiterer Windstoß riss ihr die Jacke auf und ließ sie bis ins Mark frösteln. Frierend und bibbernd zog Edda den Reißverschluss der Jacke zu und eilte zum Haus. So schnell es ihr mit ihren tauben Fingern möglich war, schloss sie auf, und als sie eintreten wollte, erfasste der Wind die Tür und knallte sie gegen die Innenwand. Eilig griff sie nach der Tür und schloss sie hinter sich.

Der Geruch von gebratenem Fleisch hing in der Luft, es herrschte vollkommene Stille.

Während sie sich auf den direkten Weg ins Badezimmer machte, zog Edda die Jacke aus. Vor dem Waschbecken blieb sie stehen, um ein paar Mal tief durchzuatmen. Dann drehte sie den Hahn auf und hielt die eiskalten Hände unter heißes Wasser. Schließlich setzte sie sich auf den Toilettendeckel und rieb sich über die brennenden Augen. Die Müdigkeit ergriff immer weiter von ihr Besitz. Vielleicht, überlegte sie, sollte sie das Baden verschieben, sich stattdessen einen Tee kochen und ins Bett legen.

Sie erhob sich wieder, verließ das Badezimmer und ging in die Küche. Licht machte sie keins an, das Licht der Laterne vor dem Fenster genügte. Sie ließ gerade Wasser in einen Topf laufen, als plötzlich das Licht anging.

Mit einem Ruck drehte sie sich um und machte erschrocken einen Satz zurück. „Jesus Christus! Was in aller Welt machst du hier?“

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Betrachte mich als zu Tode erschreckt.“ Eddas zitternde Hand lag auf ihrem klopfenden Herzen. „Du kannst doch nicht einfach hier herumschleichen wie ein Gespenst! Warum hast du nicht gleich auch noch Huh! geschrien?“

„Entschuldige“, sagte Susanne noch einmal.

„Wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?“

„Ich habe einen Schlüssel, schon vergessen? Jo hat ihn mir gegeben, bevor ich nach Deutschland geflogen bin.“

„Oh, ja. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Mensch, Süße … Komm, lass dich umarmen.“ Edda legte die Arme um Susannes Hals und drückte sie herzlich. „Ich bin wirklich froh, dich zu sehen, auch wenn ich das nächste Mal eine andere Begrüßung vorziehen würde. Seit wann bist du schon hier?“

„Seit etwa einer Stunde.“ Susanne erwiderte die Umarmung. „Ich hab geklopft, aber es hat niemand aufgemacht. Also bin ich rein und hab gewartet. Noch einmal: Entschuldigung.“

Edda ließ sie wieder los und betrachtete sie einen Moment lang. „Wieso hast du nicht vom Flughafen aus angerufen und Bescheid gegeben, dass du wieder in Norwegen bist?“

„Ich hab‘s versucht, aber die Leitung war tot.“

„Wirklich?“ Edda ging in den Flur und hielt sich den Telefonhörer ans Ohr. „Tja. Hm. Muss am Wetter liegen.“

„Ich war schon froh, dass ich überhaupt noch einen Flug bekam“, sagte Susanne. „Hübscher Baum übrigens.“

„Was für ein Baum? Was meinst du?“

„Den Christbaum im Wohnzimmer.“

„Oh. Ja, der. Er ist riesig. Ich frage mich, wie Jo es schaffte, den Baumschmuck an den oberen Zweigen anzubringen.“ Edda betrachtete Susanne noch einmal ausgiebig. „Deine Verwandlung irritiert mich immer noch. Als Susanne, die Punkerin, hab ich dich kennengelernt, und an Claudia Müller, die elegante Geschäftsfrau, hab ich mich noch nicht gewöhnt.“

„Ich hab mich selbst noch nicht daran gewöhnt.“ Susanne ließ sich in der Küche auf einen Stuhl sinken. „Vermutlich werde ich das auch nie. Aber jetzt sag mir bitte, wie geht es Jo?“

Edda griff wieder nach dem Topf, in den sie vorhin Wasser hatte laufen lassen. „Er liegt im Krankenhaus.“

„Ja, das sagtest du bereits am Telefon. Auch, dass er einen Herzinfarkt hatte. Ich wollte aber wissen, wie es ihm inzwischen geht?“

Edda stellte den Topf auf eine Herdplatte, schaltete sie ein und drehte sich wieder zu Susanne um. „Die Ärzte hoffen, dass er bald wieder aufwacht. Wir müssen einfach abwarten.“ Sie griff nach zwei Tassen. „Aber natürlich wird er wieder aufwachen. So boshaft ist Gott nicht. Er wird mir Jo nicht wegnehmen. Jo wird ewig leben.“

„Natürlich wird er das.“

Das Licht begann zu flackern. Beide sahen hinauf zur Deckenlampe.

„Das hört gleich wieder auf“, sagte Edda. „Liegt auch am Wetter.“

„Du hast am Telefon gesagt, er hätte es heraufbeschworen. Wie hast du das gemeint?“

Edda hob die Hände in die Höhe. „Ich glaube, er hat auf eigene Faust Nachforschungen angestellt.“ „Nachforschungen? Was für Nachforschungen?“

„Über Sofie Dale.“

„Wer ist das?“

Es dauerte zwei oder drei Sekunden, dann begann Edda zu erzählen…

48 Stunden zuvor.

Hätte Jo Holmen die Kneipe nur ein klein wenig früher wieder verlassen, dann wäre er Claas Mok gar nicht mehr begegnet. Hätte er sich nicht noch ein Bier bestellt und wäre nicht noch etwas sitzen geblieben, dann wäre vermutlich alles ganz anders gekommen. Hätte er die Kneipe an diesem Abend erst gar nicht betreten, sondern wäre zu Hause in seinem Bett geblieben, ja, dann wäre ihm einiges erspart geblieben.

Aber es war Jos chronischer Schlaflosigkeit zu verdanken gewesen, dass er an jenem Abend noch einmal aus dem Bett gestiegen und in die Kneipe gegangen war. Dort hatte er zwei Bier getrunken. Und das hätte es sein sollen. Er hätte wieder gehen sollen. Aber da das Schicksal dem Menschen immer einen Schritt voraus ist, hielt es just an diesem Abend etwas für Jo bereit.

Er war also sitzen geblieben und hatte sich noch ein drittes Bier bestellt. Als die Tür geöffnet wurde, hatte er den Kopf gehoben und beobachtet, wie ein Mann hereinkam, der Prototyp eines lieben, älteren Onkels: Anfang sechzig, mit vollkommen weißen Haaren, rotgesichtig und mit einem nicht zu übersehenden Bäuchlein unter dem viel zu dünnen Mantel. Der Mann war so unscheinbar, dass niemand sonst in der Kneipe Notiz von ihm zu nehmen schien. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und sah sich dann um. Es war kein Tisch mehr frei, aber gleich neben Jo stand noch ein leerer Stuhl.

Der Mann kam auf ihn zu. „Ist der hier noch frei?“ Er hatte eine sonore Stimme und sprach leise.

Jo nickte und forderte ihn mit einer Geste auf, neben ihm Platz zu nehmen.

Nachdem der Mann den Stuhl herangezogen und sich gesetzt hatte, fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare. Dann bestellte er Wodka beim Wirt, ehe er in Jos Richtung sagte: „Furchtbares Wetter.“

„Ja.“

„Das wird ein weißes Weihnachten.“

„Ja.“

Schweigen.

Dann: „Mein Name ist Claas Mok.“

„Jo Holmen.“

Der Wirt brachte den Wodka.

Dann folgte wieder Schweigen.

Sie saßen einfach nur da und starrten in ihre Gläser.

Schließlich sagte Mok: „Ich schätze, ich geh langsam meinem Ende entgegen.“

Jo sah auf.

„Ich rede vom Tod, mein Freund.“ Mok drehte das Wodkaglas zwischen seinen Fingern. „Davon, dass ich meinem Ende entgegengehe.“

„Na ja“, meinte Jo, „das tun wir alle.“

„Ja, das ist wohl richtig. Mich bestürzt nur, dass ich jetzt ein alter Mann bin und es nicht geschafft habe.“

„Was?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich hab Zeit.“

Mok betrachtete Jo einen Moment lang. „Wollen Sie es wirklich wissen?“

„Ja.“

„Also, wenn Sie es wirklich wollen …“ Mok hielt den Zeigefinger seiner rechten Hand in die Höhe, „dann brauchen wir mehr Wodka.“ Er winkte dem Wirt und bestellte eine ganze Flasche.

Der Wodka brannte in Jos Kehle, lief langsam seinen Körper hinab, bis er sich irgendwo in seinem Magen wie eine glühende Kugel entfaltete.

„Sind Sie verheiratet?“, fragte Mok.

„Nein.“

„Also haben Sie auch keine Kinder.“

„Nein. Aber ich hab eine Nichte. Edda.“

„Sie hängen an ihr?“

„Ja.“

„Ja. Natürlich.“ Mok beugte sich nach vorne. „Vielleicht ist das die größte Herausforderung unseres Lebens. Die zu beschützen, die wir lieben.“

„Vielleicht.“ Jo wartete ab, worauf das hier hinauslief.

Mok lehnte sich wieder zurück. „Ich bin verheiratet. Seit einunddreißig Jahren. Ich habe eine Tochter, auf die ich sehr stolz bin und die ich sehr liebe. Und natürlich liebe ich auch meine Frau.“

„Natürlich. Was wollten Sie erzählen?“

„Genau. Der Fall, den ich nie lösen konnte.“ Mok nickte langsam. „Es war 1995. Das Mädchen hieß Sofie Dale. Es war siebzehn Jahre alt, als es spurlos verschwand.“

Jo zog die Augenbrauen hoch, schwieg aber.

„Sofie lebte in Ålesund“, redete Mok weiter. „Bei ihren Pflegeeltern. Ich war damals einer der ermittelnden Beamten. Wir haben nach dem Mädchen gesucht, es aber nicht gefunden. Irgendwann wurde die Suche eingestellt und alle Versuche, sie später noch einmal aufzunehmen, wurden abgewiesen.“ Mok hob den Blick und sah Jo in die Augen. „Noch heute bin ich verbittert darüber, wie es damals gelaufen ist, aber andererseits macht mich genau das noch sicherer.“

„Sicherer worin?“

„Dass ich Sofies Entführer kenne. Nein, ich kenne sie nicht persönlich, aber ich weiß, wer sie sind.“

„Wer?“

Mok verengte die Augen etwas. „Kennen Sie die Geschichte vom ‚Hörnermann‘?“

Jo, der immer noch nicht wusste, wohin das hier führte, sagte: „Jeder Norweger kennt die Geschichte. Der Hörnermann war ein finsterer Geselle, ein Teufel, der irgendwo auf einem Berg wohnte und fand, dass es zu viele gute Menschen auf der Welt gäbe und dass man etwas dagegen tun müsse. Also zog er sich eine gut organisierte Armee heran, die damit begann, alles auszulöschen, was dem Hörnermann nicht in den Kram passte. Damit war vor allem das Gute gemeint. Er wollte das Gute ausrotten.“

Mok seufzte. „Ja, das ist die Geschichte.“

„Und was hat das mit Sofie Dale zu tun?“

„Eine kluge und berechtigte Frage.“ Mok sah Jo wieder in die Augen. „Was, wenn es den Hörnermann tatsächlich gäbe?“

„Nehmen Sie mich gerade auf den Arm? Das ist eine uralte Legende, weiter nichts.“

„Das denken Sie. Sagt Ihnen der Name ‚Zaren‘ etwas?“

„Nein. Wer soll das sein? Ein Russe?“

„Kein Russe. So nennen sie ihn.“

„Wer? Wer nennt ihn so?“

Mok griff wieder nach seinem Glas und trank einen Schluck Wodka. „Wann sind Sie geboren, Jo?“, wollte er wissen, nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte.

„1946.“

„Da war der Krieg schon vorbei.“

„Ja.“

„Dann haben Sie die Nazis nicht mehr kennengelernt.“

„Nein.“ Allmählich stellte Jo sich ernsthaft die Frage, ob der Mann nicht ein bisschen durcheinander war. Vielleicht hatte er zu Hause schon Wodka getankt. Reichlich Wodka.

„Ich hab 1972 bei der Polizei angefangen“, sprach Mok indessen weiter, „und in den Jahren habe ich unzählige Schicksale gesehen. Ich habe Jahre damit verbracht, im Dreck und Elend anderer Leute rumzuwühlen. Aber nichts und niemand hat mich so sehr mitgenommen wie der Zaren.“

„Aber warum?“, fragte Jo. „Wer ist das?“

„Der Zaren ist der vermutlich gefährlichste Mensch auf dieser Erde. Ich hab es leider nicht geschafft, ihn aufzuspüren und auszuschalten. Weil es verdammt noch eins nie auch nur einen einzigen Beweis gab. Ich weiß, dass es ihn gibt, aber der Mann ist total … verschwommen. Ein Schatten, ein Gespenst. Man kommt nicht an ihn heran, so sehr man es auch versucht.“

Jo richtete sich etwas auf. „Wie kommen Sie darauf, dass er der gefährlichste Mensch auf dieser Erde ist, wenn man doch nichts über ihn weiß?“

Mok lächelte dünn. „Vielleicht beflügelt er gerade deshalb so sehr meine Fantasie. Wenn ich ihn mir vorstelle, dann sehe ich eine Fantasiefigur vor mir, ungefähr so, wie wir ihn als Kinder in den vielen Comics gesehen haben: Hut bis über die Augen, schwarzer Mantel bis zum Boden und ein Gesicht mit dämonischen Zügen. Trotzdem ist er keinem Comic entsprungen. Er ist ganz real und niemand, niemand, hat so viele Menschen auf dem Gewissen wie er.“

Sie sahen sich an.

„Ich bin davon überzeugt, dass die Männer des Zaren Sofie entführt haben“, redete Mok weiter.

„Die Männer …?“

„Sein Heer, seine Streitmacht. Genau wie beim Hörnermann. Sie nennen sich ‚Kraniche‘.“

Jo begann, in seinen Taschen nach einer Zigarette zu suchen.

Mok beugte sich wieder nach vorne. „Während meiner Jahre bei der Polizei sind unzählige Menschen verschwunden, die nie wieder auftauchten. Auch nicht ihre Leichen. Und interessanterweise immer nur Menschen, die niemand vermisste oder über deren Verschwinden sich niemand Gedanken machte. Obdachlose, zum Beispiel. Von heute auf morgen, einfach weg. Und nie wieder aufgetaucht.“

„Und Sie meinen, diese Menschen wurden alle von den Kranichen entführt?“

„Ja.“

„Sofie Dale auch?“

Mok nickte.

„Aber warum? Warum sollten diese Vögel Menschen entführen? Wozu?“

„Hmmm“, brummte Mok. „Das weiß ich eben nicht. Aber ich weiß, dass ich recht habe.“

Jo blickte skeptisch.

„Ich verstehe, dass Sie Vorbehalte haben“, setzte Mok hinzu, „aber glauben Sie mir, ich bin kein Spinner. Ich bin alt und erschöpft, aber kein Spinner. Leider kann ich es nicht mehr beenden, denn ich werde bald tot sein.“ Er drehte den Kopf und seine Augen streiften in der Kneipe umher, so als suche er diesen Mann, den er „Zaren“ nannte, zwischen den anderen Gästen. Dann sah er Jo wieder an. „Der Zaren muss ausgeschaltet werden. Er ist ihr Gehirn. Wenn es ihn nicht mehr gibt, dann gibt es auch die Kraniche nicht mehr.“

Irgendwo in Susanne kreischte etwas. Sie versuchte, ihre Zunge dazu zu bringen, Worte zu bilden, aber sie war zu spröde, bewegte sich nur klickend in ihrem Mund. Es brauchte ein paar Anläufe, ehe sie sagen konnte: „Mein Gott, Edda … Wenn dieser Mok tatsächlich auf den Spuren der Kraniche war …“ Sie brach ab. „Was ist dann passiert?“

„Es gab noch am selben Abend, nach diesem Gespräch, einen Unfall. Mok wurde von einem Auto überfahren. Fahrerflucht. Er ist tot.“

Susanne schluckte, hob eine Hand in die Höhe, die sie jedoch sofort wieder sinken ließ. „Das war kein Unfall. Niemals im Leben war das ein Unfall. Das waren die Kraniche. Die haben den Mann umgebracht.“

„Das wissen wir nicht sicher.“

„Das wissen wir nicht sicher?“ Susanne richtete sich auf. „Jetzt pass mal auf, Edda. Ich habe bereits Bekanntschaft mit diesen Kranichen gemacht und ich weiß, dass sie eines ganz besonders gut beherrschen: das Töten.“ Dann sprudelte sie mit allem heraus: „Du erinnerst dich doch noch an den Auszug einer Mail, den wir gelesen haben, als ich noch hier in Norwegen war? Die Mail von Roman Vukovic, dem irren Psychopathen, der mich wochenlang beobachtete und auskundschaftete. Er schrieb in dieser Mail, er wüsste, dass die Kraniche dafür verantwortlich wären, dass ich im letzten Sommer in der geschlossenen Psychiatrie landete.“

„Ich erinnere mich“, sagte Edda. „Ich war dabei.“

„Eben. Daraufhin flog ich zurück nach Deutschland, wie du weißt, um herauszufinden, wer zum Teufel diese Kraniche sind. Tja – was soll ich sagen? – ich habe es herausgefunden. Und das, was ich herausgefunden habe, ließ mich bis ins Mark erzittern.“ Der Stuhl quietschte, als Susanne ganz nach vorne rutschte. „Die Kraniche, Edda, sind tatsächlich ein Heer, eine Streitmacht. Es sind Nazis, die die Weltherrschaft übernehmen wollen. Oder jedenfalls so etwas Ähnliches. Mok hat recht, sie wollen das Gute von innen heraus ausrotten. Es sind Satanisten, die nach der ultimativen Macht streben. So ist das.“

Edda hatte gerade ihre Teetasse angehoben, jetzt ließ sie sie wieder sinken. „Was denn nun? Nazis oder Satanisten? Du musst dich schon entscheiden.“

„Sie sind beides“, sagte Susanne. „Sie sind ein gottverdammter Albtraum. Vielleicht hast du schon einmal von den Behauptungen gehört, dass Hitler sich auf seinem Weg zur Macht mit schwarzer Magie, satanischen Riten und Ähnlichem beschäftigte. Seine Pläne für die Herrenrasse basierten auf völkischem Okkultismus. Er versuchte seine Rasse von den Schwachen und Nichtsnutzigen zu befreien, indem er sie tötete. Und nichts anderes tun die Kraniche auch.“

Edda öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Susanne hob eilig eine Hand in die Höhe. „Glaub es. Es ist wahr.“

„Und woher weißt du das alles?“

„Ich habe dir doch bei einem unserem letzten Telefonat erzählt, dass ich in Deutschland einen Mann kennengelernt habe. Sein Name ist Karl Dickfeld, ich nannte ihn aber nur den Professor, weil er mich an meinen Professor an der Uni erinnerte.“ Susanne machte eine Handbewegung. „Ist auch egal. Er erzählte mir auf jeden Fall, dass die Kraniche sich bereits in den frühen Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts formiert haben. Angeführt von einem Mann namens Elmer Nilson, einem Norweger. Und dass sie bereits damals ein Ziel verfolgten. Sie bereiteten sich auf die neue Zeit vor, auch bekannt unter dem Namen: Tausendjähriges Reich.“

„Wie bitte?“

„Ich hab dem Professor zuerst auch nicht geglaubt. Ich stand ihm vermutlich genauso skeptisch gegenüber wie Jo diesem Mok. Aber er hatte recht mit jedem Wort.“ Susanne rieb sich über die Stirn. „Elmer Nilson und seine Bande fanden damals wohl, es sei ihre Aufgabe, dieses tausendjährige Reich vorzubereiten. Und so formierten sie sich, während sich gleichzeitig in Deutschland die ersten Nazis formierten. Irgendwann taten sich beide Seiten zusammen, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg zerfielen die Kraniche nicht, sondern, im Gegenteil, sie breiteten sich immer weiter aus und ihr Einfluss wurde immer größer.“ Susanne machte eine Pause und als Edda nichts darauf sagte, redete sie weiter: „Es ist wahr, Edda. Es gibt diese Kraniche und sie verfügen über eine Menge Macht. Sie haben eine Menge Leute auf ihrer Gehaltsliste – Polizisten, Politiker, Journalisten, Akademiker … und Mörder. Und die verstehen was von ihrem Handwerk, darauf kannst du dich verlassen. Ich sage dir, diese Vögel führen einen Krieg und sie wollen ihn um jeden Preis gewinnen. Sie wollen den Untergang des Rechtsstaates und sie setzen alles daran, um das auch zu erreichen.“

Ein paar Sekunden vergingen, dann sagte Edda: „Ist das alles?“

„Reicht das nicht? Edda, wenn Mok recht hat, dann wissen wir jetzt, wer der Kopf dieser Vögel ist. Ein Mann, der sich ‚Zaren‘ nennt.“

Edda erhob sich, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn.

„Ich glaube nicht, dass Mok einfach nur eine Geschichte erzählt hat, weil ihm langweilig war“, sagte Susanne. „Er wusste von den Kranichen. Er wusste sehr genau, wovon er sprach. Und genau deshalb ist er jetzt vermutlich tot.“

Edda machte den Kühlschrank wieder zu, ohne hineingesehen zu haben. „Es könnte sich aber auch um einen tragischen Unfall mit Fahrerflucht gehandelt haben.“

„Ja. Könnte. Aber ich glaube es nicht.“

„Und was hat das Ganze mit Sofie Dale zu tun? Warum sollten die Kraniche Menschen entführen und verschwinden lassen? Warum ein Mädchen wie Sofie Dale?“

„Tja, das müssten wir herausfinden.“

Edda hatte den Griff des Kühlschranks noch nicht losgelassen. Sie sah Susanne einfach nur an.

Als zu lange nichts von ihr kam, sagte diese: „Offenbar hat Jo ja auch noch einmal darüber nachgedacht. Wenn es stimmt, was du sagst, dann hat er angefangen zu recherchieren.“

„Ich glaube es. Sicher bin ich mir nicht.“ Endlich ließ Edda den Griff des Kühlschranks los und kam zurück zum Tisch. „Aber er war in den letzten beiden Tagen irgendwie … anders. Er hat getan, als wäre alles in Ordnung, aber mich kann er nicht täuschen. Er wirkte nervös. Schreckhaft. Von einer inneren Anspannung, die ich bei ihm so nicht kannte.“

„Habt ihr darüber geredet?“

„Nein. Ich hab ihn zwar gefragt, wie es ihm geht und so, aber er hat geantwortet, es wäre alles in Ordnung.“

Der Wind blies so heftig gegen das Fenster, dass sie zusammenzuckten.

„Du meinst, er hat etwas herausgefunden? Etwas, das ihn vielleicht so sehr aufregte, dass er …?“

„Ich weiß es nicht.“ Edda ging zum Ofen, um Holzscheite nachzulegen. „Aber möglich wäre es.“ Das sagte sie so leise, dass Susanne es kaum hören konnte.

„Hast du mal darüber nachgedacht, warum Mok ausgerechnet ihm von Sofie Dale, den Kranichen und dem Zaren erzählte?“

„Natürlich hab ich darüber nachgedacht. Und eine Antwort darauf hab ich nicht.“

„Mok sagte, er ginge seinem Ende entgegen, richtig? Das könnte doch bedeuten, dass er ahnte, dass er nicht mehr lange am Leben sein würde. Dass er ahnte, dass die Kraniche ihn schon bald erwischen würden.“

„Und da ging er noch schnell in die Kneipe und schnappte sich den Nächstbesten, um ihm die Geschichte vom Zaren zu erzählen? Also, ich weiß nicht …“ Edda schüttelte den Kopf. „Klingt ziemlich weit hergeholt, wenn du mich fragst.“

„Aber nicht unmöglich.“

„Nein. Nicht unmöglich.“

Zwei Sekunden, drei, herrschte vollkommene Stille im Raum.

Dann sagte Susanne: „Und was machen wir jetzt?“

Edda drehte sich zu ihr um. „Ich weiß nicht. Was schlägst du vor? Sollen wir uns bis an die Zähne bewaffnen und gegen die Kraniche in den Krieg ziehen?“

„Ein paar einfache Fragen stellen würde für den Anfang schon reichen. Ein paar Nachforschungen über Sofie Dales Verschwinden anstellen.“

Wieder vergingen ein paar Sekunden.

Dann nickte Edda und ging zur Tür.

„Wo willst du hin?“, fragte Susanne.

„Ich setze mich an den Computer und beschaffe mir alle nötigen Informationen über Sofie Dale.“

Sofort war Susanne auf den Beinen. „Ich komme mit.“

Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

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