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1. KAPITEL

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Der Turm der Seelen

23. Dezember 2010

Hannover

16:46 Uhr

Der Wind pfiff auf eine Art und Weise, wie sie es noch nie zuvor gehört hatten, während nadelspitze Kristalle durch die Luft und ihnen in die Gesichter jagten. Frierend zog Eva sich die Strickmütze etwas weiter über die Ohren und sagte: „Es kommt mir vor, als würden wir uns auf dem Mond bewegen.“

Und da hatte sie nicht unrecht. Einmal ganz davon abgesehen, dass sie in ihren dicken Jacken und den unförmigen, kniehohen Stiefeln tatsächlich aussahen wie Mitglieder einer Mondlandungsexpedition, hätte ein Abend auf dem kalten Mond vor allem nicht einsamer sein können. Erst sehr weit hinter ihnen war das Glitzern der fernen Lichterkette zu sehen, die Stadt und Leben bedeutete. Vor ihnen schlängelte sich lediglich ein schmaler Weg, kaum breiter als ein Nadelöhr. Das einzige Geräusch - abgesehen vom launischen Wind, der abwechselnd mal drohend und mal melancholisch pfiff - waren ihre Schritte im hohen Schnee. Am dunklen Himmel war nicht ein einziger Stern zu sehen, übrigens auch kein Mond, und allmählich ging ihnen die Puste aus.

Julia blieb stehen, kniff die Augen zusammen und sah einen Moment lang in den dunklen Himmel. Dann blickte sie wieder geradeaus. Vor ihnen tauchten bereits die unregelmäßigen Konturen des Turms auf, der sich eindrucksvoll über der weißen Schneelandschaft erhob.

„Ich finde diesen Turm unheimlich“, bemerkte Eva, ohne stehen zu bleiben.

„Es ist ein ganz normaler Turm.“ Julia setzte sich wieder in Bewegung und folgte ihr. „Im Sommer eine Touristenattraktion und jetzt im Winter eben einsam und verlassen.“

Eva machte ein Geräusch, das nicht zu deuten war. „Es ranken sich jede Menge Gerüchte darum, das weißt du. Es heißt, er sei seit seiner Erbauung das Tor zu einer anderen Welt. Es wird behauptet, er wäre die Heimat aller bösen Geister und …“

„Hör auf damit, okay? Wir dürfen nicht darauf hereinfallen.“

„Worauf?“

„Auf solche Legenden. Das ist genau die Art Angst, die die Kraniche schüren. Und gerade du als Wissenschaftlerin glaubst ja wohl an die Macht der Tatsachen und des wissenschaftlichen Beweises. Nicht an solchen Aberglauben.“

Eva schob ihren Schal etwas weiter übers Gesicht, sofort blieben die Schneeflocken in der weichen Wolle hängen und durchnässten sie noch weiter. „Gerade in der Wissenschaft ist nichts unmöglich, Julia. Nur im wissenschaftlichen Sinne unwahrscheinlich. Und nach allem, was wir bereits hinter uns haben …“

„Es ist nur ein alter Turm. Daran ist absolut nichts Übernatürliches. Können wir es bitte dabei belassen?“

„Wenn du meinst.“ Eine unerwartet heftige Windbö erwischte Eva und brachte sie ins Wanken. Mühsam kämpfte sie um ihr Gleichgewicht.

„Häng dich bei mir ein“, sagte Julia, die ebenfalls Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu halten.

Eva griff nach ihrem Arm und hielt sich daran fest. „Und übrigens sage ich als Wissenschaftlerin auch“, setzte sie nach ein paar weiteren Metern hinzu, „dass der Schlüssel zu jedem Geheimnis in der Dekonstruktion liegt. Das Ganze muss zerlegt werden, um die Einzelteile zum Vorschein zu bringen. Die einzelnen Teile sind bedeutungsvoller als das Ganze.“

„Die Einzelteile haben vor einer Stunde noch vor uns auf dem Tisch gelegen“, gab Julia zurück. „Drei Schlüssel, ein Medaillon, ein Schwert und ein paar Kinderzeichnungen. Und bis auf das Medaillon gab mir nichts davon eine Antwort.“

„Hast du es bei dir?“

„Was?“

„Das Medaillon.“

„Ja.“

„Zeig es noch mal.“

„Jetzt?“

„Ja.“

Julia blieb stehen und zog das Medaillon mit einem Seufzer aus ihrer Jackentasche. Es war rund, golden und mit allerlei Motiven und Schriftzügen verziert. Stunden hatten sie mit dem Versuch verbracht, es zu öffnen, doch es gab keine erkennbare Möglichkeit. Sie hatten es in alle Richtungen gedreht und nach Ritzen Ausschau gehalten, in die man einen Fingernagel hätte schieben können. Nichts. Das Medaillon war und blieb verschlossen. Was ihnen am Ende weitergeholfen hatte, waren die Gravuren auf dem Deckel. Kreise, Striche, Kreuze und Punkte. Eine Schrift, krakelig und völlig fremd, eine Sprache, die man nicht in der Schule lernte. Nicht Griechisch, nicht Hebräisch, nicht Arabisch. Trotzdem konnte Julia ihre Bedeutung verstehen. Jedenfalls teilweise: Die Engel leiten dich. Und: Seelenturm.

Sie steckte das Medaillon zurück in die Jackentasche. Den Seelenturm, den Turm der Seelen, hatten sie gefunden. Was jetzt kam, was sie dort erwartete, stand in den Sternen.

Sie setzten sich wieder in Bewegung und marschierten schweigend ein paar Meter.

„Und was ist mit dem fürchterlichen Schwert?“, fragte Eva dann.

Julia spürte, wie ihr linkes Auge unwillkürlich anfing unkontrolliert zu zucken. Sie trug es bei sich, in dem großen Seesack, der über ihrer Schulter hing. Das fürchterliche Schwert.

„Es wirkt ziemlich alt, oder?“, fügte Eva hinzu. „Fast so, als käme es aus dem Mittelalter.“

„Vielleicht ist das Absicht.“ Julia schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: „Auf jeden Fall wollte Sten Kjaer mich damit umbringen.“ Für einen kurzen Augenblick sah sie die Bilder wieder vor sich, sah sich selbst, sah Kjaer, sah den Kampf mit ihm, bei dem sie ganz auf sich alleine gestellt gewesen war. Er hatte das Schwert. Sie hatte nichts. Und trotzdem hatte sie den Kampf gewonnen.

„Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass ein Schwert die Seele seines Kriegers in sich trägt“, bemerkte Eva. „Und manchmal auch die Seelen derjenigen, die durch das Schwert starben.“

„Wirklich? Das würde bedeuten, dass Kjaer jetzt auf meiner Schulter sitzt.“ Julia verzog das Gesicht. „Das würde mir gar nicht gefallen.“

„Wie auch immer. Du warst besser als er.“

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich besser war. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur mehr Glück.“

Kurze Zeit später hatten sie den Turm erreicht.

„Wir sind da. Gott sei Dank.“ Die Erleichterung in Evas Stimme war nicht zu überhören.

Julia blickte nach oben und spürte, wie ihr Herz zu pochen begann. Sie senkte den Blick wieder und leuchtete mit der Taschenlampe den Eingang des Turms an. Dort verdichtete sich ihr Schein zu einer unruhigen Lache aus Licht. „Lass uns reingehen und es hinter uns bringen.“

Während sie die steilen Steintreppen hinaufstiegen, schien sich das Stöhnen des Windes auf einmal zu verändern. Jetzt hörte er sich plötzlich an wie ein altes Ungeheuer, das aus einem jahrhundertelangen Schlaf erwacht war.

„Mann, das ist wirklich unheimlich“, murmelte Eva.

„Es ist nur der Wind“, sagte Julia. „Nur der Wind.“

Oben abgekommen befanden sie sich in zwanzig Metern Höhe und unter ihnen breitete sich ein lang gestrecktes weißes Tal aus. Die Häuser am Horizont waren kaum noch auszumachen, lediglich ein paar schwache Lichter waren durch die dichten Schneeflocken zu erkennen. Unheimlich und gleichzeitig wunderschön wirkte der Ausblick, wie aus der Wirklichkeit herausgelöst.

Eva zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzte sich. „Unter anderen Umständen würde ich Fotos machen und sie mir zu Hause an die Wand hängen.“ Sie steckte das Taschentuch zurück in die Jackentasche und sah sich um. „Also, wonach könnten wir hier suchen? Nach einer Notiz? Einer Botschaft?“

„Ich weiß es nicht. Ich …“ Julia stockte. „Hörst du das?“

„Was?“

„Diese Melodie.“

„Was für eine Melodie?“

Julia starrte Eva an. „Hörst du es denn nicht?“

„Nein. Ich höre nichts, nur den Wind.“

Julia stand völlig starr. „Jetzt ist es wieder weg. Ist das dein Ernst? Du hast es wirklich nicht gehört?“

„Nein, wirklich nicht.“

Langsam schüttelte Julia den Kopf. „Dann habe ich es mir wohl nur eingebildet. Ich bin ja im Moment auch nicht gerade berühmt für meinen klaren Verstand.“

„Was war es für eine Melodie?“, wollte Eva wissen. „Hast du sie erkannt?“

„Nein, es war keine … bestimmte Melodie. Es klang so, als ob …“ Noch einmal schüttelte Julia den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich habe es mir wohl wirklich nur eingebildet.“

Einen Moment lang sah Eva sie prüfend an. Dann sagte sie: „Okay. Und was jetzt?“

„Hm.“ Julia senkte die Taschenlampe und leuchtete den Boden ab. „Ich weiß nicht.“ Sie leuchtete die Wände ab. „Ich sehe hier beim besten Willen keine Stelle, an der man etwas verstecken könnte. Ich sehe nur festen Stein auf Stein.“

„Aber warum steht dann ‚Seelenturm‘ auf dem Medaillon?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt.“

„Zeig es noch mal.“

„Was?“

„Das Medaillon.“

Julia zog es erneut aus ihrer Jackentasche. Um es besser greifen zu können, zog sie dieses Mal die Handschuhe aus. Sofort traf die eisige Luft ihre nackten Finger und gleich darauf fühlten sie sich schon steif an.

Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Etwas Unglaubliches. Etwas, was sie niemals geglaubt hätten, wenn sie es nicht selbst gesehen und erlebt hätten: Ein leises ‚Klick‘ war zu hören.

„Hast du das auch gehört?“, fragte Julia tonlos.

Eva nickte. „Dieses Mal hab ich es auch gehört. Was war das?“

„Das Medaillon. Ich glaube, der Mechanismus hat sich gerade bewegt.“

In der nächsten Sekunde sprang das Medaillon auf. Julia erschrak so sehr, dass sie es um ein Haar fallen gelassen hätte. „Ach, du …!“ Sie starrte auf das geöffnete Schmuckstück. „Das ist … Es ist ein Kompass! Die Nadel zeigt nach Norden.“ Sie hob den linken Zeigefinger und deutete in die Richtung, in die die Nadel zeigte. „Da. Da vorne muss es sein.“

„Was?“, fragte Eva.

„Das Ziel. Offenbar war der Turm nur eine Zwischenstation.“ Julia setzte den Seesack ab, öffnete ihn, holte ein Fernglas heraus und hielt es an die Augen.

„Siehst du etwas?“, fragte Eva nach ein paar Sekunden.

„Nichts. Nur Bäume. Nein, warte … da ist ein Haus! Das könnte es sein.“

„Was meinst du, wie weit es bis dahin ist?“

„Schwer zu sagen. Ungefähr einen Kilometer.“

„Na dann …“ Eva war schon an der Treppe. „Los!“

Es wurde ein beschwerlicher Marsch.

Ein wirklich beschwerlicher Marsch.

Sie kamen nur mühsam voran, bewegten sich wie zwei Zombies, fielen mehr als einmal fast über ihre eigenen Füße, und die Stöße des eisigen Windes, die weiter unablässig in ihre Gesichter peitschten, waren am Ende kaum noch zu ertragen.

Doch schließlich erreichten sie das Haus. Ein nicht sehr großes, schmuckloses Gebäude, das alt und schief war, und offenbar nie einen Tupfer Farbe gesehen hatte.

„Hier möchte ich nicht wohnen“, schnaufte Eva. „Hier ist ja weit und breit nichts.“ Sie wollte weitergehen, doch Julia griff nach ihrem Arm, um sie daran zu hindern.

„Was ist?“

„Die Tür ist offen.“

Eva runzelte die Stirn. „Was kann das bedeuten?“

„Es bedeutet, dass du erst einmal hier stehen bleibst.“ Julia griff nach ihrer Pistole. „Ich meine es ernst, Eva. Du bleibst genau hier stehen und bewegst dich nicht von der Stelle.“

Als Eva nickte, setzte sie sich in Bewegung. Pistole und Taschenlampe im Anschlag, drückte sie mit der Schulter die Tür auf und betrat das Haus.

Es schien niemand da zu sein. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe sah Julia jedoch, dass der Raum, der offenbar als Wohn- und Esszimmer diente, völlig verwüstet war. Die Möbel waren zerbrochen, Regale umgekippt, die Holzböden teilweise herausgerissen, die Schränke auseinandergenommen.

Wer immer hier gewütet hatte, hatte wirklich alles zerstört.

Vorsichtig machte Julia einen weiteren Schritt in das Haus hinein. Es war so kalt, dass sie ihren eigenen Atem sehen konnte. Vor ihr auf dem abgenutzten Teppichboden befand sich etwas, das aussah wie Erbrochenes, das festgefroren war. Sie machte zwei weitere Schritte, und während sie über eine zerbrochene Lampe stieg, nahm sie aus den Augenwinkeln für den Bruchteil einer Sekunde ein hässliches Gemälde mit Engeln wahr, das an der Wand hing. Es bestand aus fürchterlich bunten Farben und die Engel wirkten wenig Vertrauen einflößend. Das Einzige hier drinnen, was nicht zerstört worden war.

Es war wirklich nur der Bruchteil einer Sekunde, und vielleicht hätte Julia mehr darauf geachtet, wenn sie nicht im nächsten Moment mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe die gegenüberliegende Wand angeleuchtet – und Eva, die in der Tür stand, nicht aufgeschrien hätte.

Aus Evas Gesicht war alle Farbe gewichen. Zitternd lehnte sie sich an den Türrahmen.

Julia hätte das auch gerne getan, aber da wo sie stand, gab es nichts zum Anlehnen. Was sie sah, drehte ihr den Magen um: Ein toter Körper, der offensichtlich an die Wand genagelt worden war. Der Körper eines Mannes. Er hing dort, mit ausgebreiteten Armen, wie Jesus am Kreuz, und seine offenen Augen starrten ins Leere.

Eva begann zu husten und hektisch in der Jackentasche nach ihrem Asthmaspray zu suchen.

Julia sah sie an. „Kriegst du einen Anfall?“

Husten und Röcheln war alles, was sie zur Antwort bekam. Evas Kopf war jetzt nicht mehr blass, sondern hochrot. Als sie das Spray gefunden hatte, umklammerte sie es mit beiden Händen und inhalierte tief. Dann überfiel sie ein weiterer Hustenanfall, und einen Moment lang dachte Julia, Eva würde ersticken, aber dann bekam sie sich wieder in den Griff. Das Röcheln blieb, aber der Atem wurde wieder gleichmäßiger. Noch einmal inhalierte sie. Dann setzte sie an: „Waren das …? Das waren die … Kraniche, oder? Nur die Kraniche können … so etwas tun!“

Julia antwortete nicht darauf. Sie machte einen Schritt auf die Leiche zu und blieb dann wieder stehen. Sie wusste, dass sie sie nicht berühren durfte, ebenso wie sie aus ihrer Erfahrung als Polizistin wusste, dass dieser Mann schon lange tot war, dass er schon seit vielen Stunden so an der Wand hing und dass hier nichts mehr zu machen war. Ebenso wie sie wusste, dass sie so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden mussten. Trotzdem machte sie noch einen weiteren Schritt und stellte fest, dass sich der erste Eindruck bestätigte: Der Mann war tatsächlich an die Wand genagelt worden. In seinen Händen steckten große Zimmermannsnägel. Zuvor allerdings hatte er noch eine Kugel in die Stirn bekommen. Aus dieser rann ein dünner Blutfaden, der zu glitzernden Eiskristallen gefroren war.

„Wir müssen die Polizei rufen“, sagte Eva.

„Nein“, gab Julia zurück. „Wir müssen von hier verschwinden.“

„Julia, wir können doch nicht …!“

„Wir können nichts mehr für ihn tun.“

„Mag sein. Trotzdem kommt es mir nicht richtig vor, einen Mann zurückzulassen, der an die Wand genagelt wurde wie Jesus Christus.“

Julia ging zu Eva, fasste sie bei den Schultern und sah ihr in die Augen. „Wir können nichts mehr für ihn tun. Und wenn das tatsächlich die Kraniche waren, dann sollten wir uns auf gar keinen Fall länger als nötig hier aufhalten.“

Damit griff sie nach Evas Hand und zog sie mit sich aus dem Haus.

Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

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