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Kapitel 13

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Eine passende Gelegenheit soll sich erst eine Woche später finden. Zuvor hat Lela es nicht gewagt einfach in Leons Dunkelkammer einzubrechen, da er nie für einen längeren Zeitraum als eine halbe Stunde seine Wohnung verlassen hat. Es war ihr schlichtweg zu riskant.

Doch heute weiß sie, dass sie die Wohnung bis zum Abend für sich haben wird. Leon ist nach Kiel gefahren, um dort mit seinem Chef die Kündigung durchzugehen, die er ein paar Tage zuvor eingereicht hat. Seine Firma möchte ihn nicht gehen lassen, doch letztendlich haben sie keine andere Wahl. Lela kommt der schwache Versuch des Bosses, Leon persönlich zum Bleiben überreden zu wollen, jedoch gerade recht. Es scheint beinahe ein kurioser Zufall, dass Leon ausgerechnet an ihrem freien Nachmittag in der Woche die Fahrt nach Kiel antreten muss.

Mit dem Zweitschlüssel in ihrer Gesäßtasche macht sie sich auf zu seiner Wohnung. Sie parkt in einer Nebenstraße und freut sich insgeheim über den Nieselregen, der ihr einen Grund liefert, die Kapuze aufsetzen zu müssen, unter der sie ihr Gesicht vor neugierigen Blicken verbergen kann. Sie weiß, dass sie sich ein wenig anstellt. So als breche sie in seine Wohnung ein. Natürlich ist es albern, ihr Vorhaben als Einbruch abzutun, hat Leon ihr selbst den Zweitschlüssel gegeben. Er weiß, dass sie jederzeit in seine Wohnung kann, wenn sie die Lust verspürt diese aufzusuchen. Doch dass sie versuchen wird, gewaltsam in seine stets verschlossene Dunkelkammer zu gelangen, um nach den Fotos zu sehen, von denen sie ihn hat sprechen hören, ist alles andere als legal.

Als sie seine Wohnung betritt, kommt Buster ihr mit wedelndem Schwanz entgegen. Lela ist froh, den Hund dazuhaben. Zum einen fühlt sie sich dann nicht so schrecklich allein und … schrecklich, mit dem, was sie gedenkt zu tun, und zum anderen liefert der Hund ihr eine ideale Ausrede, falls Leon früher nach Hause kommen und sie hier entdecken sollte. Denn dann hat sie nur nach dem Hund sehen und ihn kurz ausführen wollen.

Das heißt, wenn Leon sie dann nicht schnüffelnd in seiner Dunkelkammer finden sollte.

Mit einem leicht unguten Gefühl kniet Lela sich vor die Tür zu der Dunkelkammer und zückt den Schraubenzieher, den sie mitgebracht hat. Sie kann nicht behaupten, in dem Aufbrechen einer Tür unerfahren zu sein. Als Teenager hat sie eine wilde, rebellische Phase durchgemacht, in der sie ihre Pflegeeltern mit einem Mal nicht mehr als ihre Eltern hatte ansehen wollen. Es war diese Du-kannst-mir-gar-nichts-sagen-Phase, die sie heute zutiefst bereut. Damals hat Lela des Öfteren Schlösser geknackt, um Fahrräder von anderen Kindern zu stehlen oder um sich Zutritt in fremde Häuser zu verschaffen. Rückblickend ist sie auf diese Zeit nicht gerade stolz, doch nun merkt sie, dass die Erfahrungen, die sie damals gesammelt hat, durchaus von Nutzen sein können.

Sie versucht das schlechte Gewissen, das ihr die ganze Zeit über schon ihren Plan auszutreiben versucht hat, beiseite zu schieben und sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Die Tür ist binnen weniger Sekunden geöffnet, ohne dass man den gewaltsamen Zutritt, den Lela sich soeben verschafft hat, hätte nachweisen können. Kein Kratzer ist in dem Holz zu sehen. Sie steckt den Schraubenzieher in ihre Jackentasche zurück und betritt dann mit langsam schneller schlagendem Herzen die Dunkelkammer.

Nun, wo nicht einmal mehr das schummrige rote Licht an ist, das den Raum sonst erhellt, hat das Zimmer etwas Beklemmendes und Beunruhigendes an sich. Lela holt die kleine Taschenlampe, an die sie ebenfalls gedacht hat, aus ihrer tiefen Jackentasche und lässt den Strahl durch das dunkle Zimmer wandern. Er gleitet über die einzelnen Becken und sie hätte beinahe gelacht, als sie sieht, dass der Briefumschlag noch immer an der Stelle liegt, an der Leon ihn eine Woche zuvor abgelegt hat.

Irgendwer dort oben scheint Lela in ihrem Vorhaben freundlich gesinnt zu sein.

Sie geht auf den Briefumschlag zu und nimmt ihn in die Hand. Er ist nicht besonders schwer, dafür jedoch weitaus größer als ein normaler Briefumschlag. Lela nimmt das Ende der dünnen Stablampe in ihren Mund, um beide Hände frei zu haben. Dann öffnet sie den Umschlag und zieht die Bilder hervor. Als sie das erste Bild betrachtet, will sie nicht verstehen, was sie dort sieht. Es ist der nackte Körper einer Frau, nur dass die blasse Haut über und über mit Schnitten und Brandwunden übersät ist. Die Arme der Frau sind mit Handschellen über den Kopf gefesselt, sie ist wie ein Fisch an einem Haken aufgehängt, die Füße wenige Zentimeter über dem Boden, ein dreckiger Lumpen knebelt sie. Lela blickt direkt in die weit aufgerissenen blauen Augen.

Im nächsten Moment glaubt sie, sich übergeben zu müssen.

Sie lässt die Bilder fallen und stürzt ins Bad. Sie schafft es gerade noch, Klodeckel und -brille zu heben, ehe sie sich lautstark in das weiße Porzellan erbricht. Ihr Magen zieht sich immer wieder zusammen, bis sie ihr ganzes Frühstück in das Klo erbrochen hat und sich mit zittrigen Händen über den Mund wischt. Sie zwingt sich aufzustehen, die Klospülung zu betätigen und sich dann die Hände und das Gesicht zu waschen. Dann geht sie in die Dunkelkammer zurück. Sie hebt die Bilder auf, steckt sie in den Umschlag zurück, vergewissert sich, dass sie nichts zurückgelassen hat, und verlässt dann den Raum. Sie verriegelt die Tür hinter sich und tätschelt kurz halbherzig Busters Kopf, den er träge gehoben hat. Dann verlässt sie die Wohnung.

Sie weiß, dass sie nie wieder in diese Räume zurückkehren will.

Wieder zieht sie sich die Kapuze über den Kopf, den Umschlag hat sie fest an ihre Brust unter der Jacke gepresst. Sie rennt zum Wagen, die Schlüssel zückt sie bereits mehrere Meter, bevor sie ihn erreicht. Als sie ihn aufgeschlossen hat und eingestiegen ist, verriegelt sie die Türen augenblicklich wieder hinter sich. Dann wirft sie den Umschlag neben sich auf den Sitz.

Sie will die Bilder nicht länger als nötig an ihrer Haut tragen.

Sie würgt den Motor zweimal ab, ehe sie es schafft, ihn zu starten. Mit zitternden Händen lenkt sie den Wagen aus der Parklücke und fährt dann blind los. Sie hat kein Ziel vor Augen, sie weiß nur, dass sie weg will, fort von dem, was sie entdeckt hat, obwohl sie weiß, dass ebendiese Entdeckung neben ihr auf dem Sitz liegt und sich in den Tiefen des Umschlages verborgen hält.

Als ihr auffällt, dass ihre Sicht immer schlechter wird, und sie begreift, dass sie weint, fährt sie an den Straßenrand und stellt den Wagen wieder ab. Ihr Atem geht schnell und unregelmäßig, ihr Puls rast, die Schmerzen in ihrem Kopf lassen ihn beinahe bersten. Obwohl sie weiß, dass sie vielleicht nur wieder brechen wird, greift sie erneut nach dem Umschlag. Sie hat das perverse Verlangen, alle Bilder zu betrachten.

Sie blickt wieder in die blauen, angstvoll geweiteten Augen der Frau. Dieser Blick zerreißt ihr das Herz mitten in der Brust, doch sie vermag es nicht die Augen abzuwenden. Wie hypnotisiert schiebt sie das Bild hinter die anderen und betrachtet das nächste. Es zeigt dieselbe Frau, wie sie mit auf den Rücken gefesselten Händen auf kaltem Betonboden kniet. Wieder ist sie geknebelt und Lela sieht die klebrigen Spuren, die ihre Tränen und dürftig abgewaschenes Blut auf ihrer Haut hinterlassen haben. Aus ihren Augen spricht blanke Angst.

Auch auf dem nächsten Bild sieht man die Frau. Sie steht mit Tränen überströmten Gesicht vor einer kahlen Wand. Natürlich sind ihre Hände gefesselt und die Frau selbst geknebelt. Auf ihrer hellen, nackten Haut heben sich die Blutergüsse, die teilweise noch blutenden Schnitte und die Brandwunden, die von Zigaretten stammen könnten, deutlich ab. Am Surrealsten erscheint Lela jedoch die Tatsache, dass die Frau rote High Heels trägt. Ansonsten ist sie nackt und mit Blessuren übersät. Die roten High Heels stechen wie ein makaberes und vollkommen fehl am Platz zu seiendes Detail hervor.

Auf dem nächsten Bild liegt die Frau gefesselt auf einem Bett, Lela sieht den Blutrinnsal, der ihre Oberschenkel hinab läuft. Ihr fällt ebenfalls auf, dass im Vergleich zu dem vorherigen Bild weitere Blutergüsse und Wunden den Körper der Frau bedecken. Obwohl Tränen ihre Wangen hinab laufen, die in dem festgehaltenen Moment wie gefrorene Kristalle wirken, ist ihr Blick leer. Beinahe tot. Hoffnungslos.

Das darauf folgende Bild ist eine Nahaufnahme von ihrem Gesicht. Die Augäpfel sind so stark gerötet, dass man die Farbe der Iriden kaum noch erkennen kann. Tränen überschwemmen das ganze Gesicht und der Blick aus den stark geröteten Augen scheint nichts direkt zu erfassen, so als könne die Frau ohnehin nicht allzu viel erkennen. Es sieht so aus, als seien die Augen verätzt worden.

Und Lela weiß, dass dies tatsächlich geschehen ist. Sie braucht nicht erst die letzten beiden Bilder zu betrachten, die die Frau leblos am Boden liegend zeigen, die Brust von mehreren Kugeln durchsiebt, das Gesicht durch einen einzigen gezielten Schuss fast vollständig zerstört, um zu wissen, was diese Bilder darstellen, wen sie zeigen.

Denn sie hat es vom allerersten Moment an verstanden. In dem Moment, in dem ihr Frühstück sich katapultartig aus ihrem Magen befördert hat, hat sie begriffen, was dort auf den Bildern zu sehen ist. Dass es nicht einfach nur eine geschmacklose Fotosession ist. Denn sie kennt die Frau.

Es ist Helen.

Liebe ist tödlich

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