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Kapitel 5

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Die Sonne scheint, doch es kommt Lela falsch vor. Sie ist bis jetzt erst einmal auf einer Beerdigung gewesen. Es war die Beerdigung ihres Pflegevaters. Ihre leiblichen Eltern sind gestorben, als Lela keine zwei Jahre alt war. An sie hat sie keinerlei Erinnerungen mehr. Sie landete in einem Heim, kam jedoch nach ein paar Jahren in eine Pflegefamilie, in der sie unter der größten Fürsorge und Liebe aufgewachsen ist, die sie sich nur hat wünschen können.

Vor zwei Jahren, im Alter von achtundfünfzig Jahren, erlitt ihr Pflegevater einen Herzinfarkt. Kurz darauf ist ihre Pflegemutter an Alzheimer erkrankt. Die Krankheit ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie Lela nicht mehr erkennt. Der Tod ihres Mannes hat ihr wahrhaftig den Verstand geraubt. Und das Herz gebrochen. Auf der Beerdigung ihres Pflegevaters hat es damals geregnet.

Doch nun scheint die Sonne.

Lela findet es unpassend. Mit dem Tod und dem Abschied von einem geliebten Menschen verbindet sie Schmerz, Trauer, Wut und Verzweiflung. Sie will, dass die Welt dies alles mit ihr teilt. Dass die Welt mit ihr weint. Doch der Schein der Sonne zeigt ihr stattdessen, dass das Leben weitergeht, egal welche Schicksalsschläge es auch erschüttern mögen.

Es ist verkehrt. Denn jetzt, in diesem Moment, möchte Lela nicht daran erinnert werden, dass jeder Schmerz einmal versiegt, und jede Wunde, so tief sie sich auch ins Herz gerissen hat, einmal vernarben wird. Sie möchte in dem Gedanken ertrinken, dass dieser Schmerz, der Verlust einer ihrer guten Freundinnen, die Erinnerungen, die Helens Tod an den ihres Vaters und ihrer leiblichen Eltern weckt, für immer anhalten wird. Dass er sie zerreißen wird.

Auch wenn die Wahrheit anders aussieht.

Nachdem der Sarg in das Grab gelassen ist, tritt Helens Mutter Carmen vor und legt als erste eine tiefrote Rose auf den Sarg ihrer Tochter. Lela bemerkt, dass sie nicht weint. Vermutlich hätten Tränen ihrem Schmerz nicht genug Ausdruck verliehen. Ihr folgt Helens Schwester Anja, die Lela bis jetzt erst zweimal in ihrem Leben gesehen hat. Sie ist zwei Jahre älter als Helen und studiert in Leipzig, soweit Lela weiß. Im Gegensatz zu ihrer Mutter wird sie von Schluchzern geschüttelt, als sie ebenfalls eine Rose auf das Grab legt und eine Handvoll Erde hinterher wirft.

Lela und Stella warten bis alle Verwandten und näheren Angehörigen von Helen ihre letzten Minuten an ihrem Sarg haben, ehe sie sich ebenfalls dem Sarg nähern, um ihre Blumen auf ihm abzulegen. Sie haben beide eine weiße Lilie, die sie auf das dunkle Holz legen. Danach schütten sie ebenfalls eine Handvoll Erde in das Grab. Der Pastor richtet ein paar letzte, wie er meint, tröstliche Worte an die Trauergemeinschaft, ehe sich nach und nach alle langsam zerstreuen. Lela und Stella wollen der Trauerfeier bei den Jakobits zu Hause nicht beiwohnen, haben sie mit Helens Familie nie besonders viel zu tun gehabt.

Da Lela jedoch den Tag von Margret frei bekommen hat, beschließen die beiden in einem nahe liegenden Café einen Cappuccino trinken zu gehen und die ganze Beerdigung erst einmal etwas sacken zu lassen, ehe sie den Heimweg anschlagen. Langsam schlendern sie mit getrübten Gesichtern in ihren pechschwarzen Kleidern über den Friedhof auf die Tore zu, die ihn von der Straße abgrenzen. Sie sprechen beide kein Wort.

„Lela!“

Lela dreht sich nach der Stimme um, die sie gerufen hat. Ein Mann kommt auf sie zu, er muss in der Nähe der Tore gestanden haben. Es dauert etwas bis Lela in ihm den Mann erkennt, der ein paar Tage zuvor bei ihr im Laden gewesen ist. Der Arbeitskollege von Helen. Sie bleibt stehen und Stella folgt ihrem Beispiel. Als der Mann näher tritt, wirft er ihr einen nervösen Blick zu. Stella versteht sofort. „Ich geh schon mal vor, Lia. Cappuccino?“

„Ja, bitte.“ Lela sieht Stella hinterher, die sich mit raschen Schritten von ihnen entfernt. Am Tor dreht sie sich noch einmal zu ihnen um und wirft ihr einen neugierigen Blick zu. Lela zuckt kaum merklich mit den Schultern. Sie hat Stella nichts von dem Mann erzählt, weil sie ihn über den Tag hinweg schlichtweg vergessen hat. Er war ein Kunde wie jeder andere auch. Was er nun von ihr wollen kann, ist ihr ein Rätsel.

„Lia?“ Sie wendet sich wieder an den Mann. „Sie sagten mir, Sie heißen Lela.“ Er sieht verunsichert aus, so als bereue er bereits Lela angesprochen zu haben.

Sie zuckt halbherzig mit den Schultern. „Ich heiße auch Lela, Lia ist nur mein Spitzname. Zumindest nennt Stella mich so.“ Sie deutet in die Richtung, in die Stella verschwunden ist, damit er weiß, wen sie meint. Sie kann sich selbst nicht genau erklären, weswegen sie ihm überhaupt ein dermaßen privates Detail von sich erzählt. Im Grunde geht es ihn nichts an. Doch er hat etwas an sich, dass ihr gefällt. Was ihr die Zuversicht gibt, ihm vertrauen zu können.

„Achso.“ Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.

Kurz schweigen sie beide. „Was – was möchten Sie denn?“ Lela kommt sich dumm vor.

„Oh, eigentlich …“ Er lächelt verlegen. „Ich schätze, dass ich Ihnen nur kurz Hallo sagen wollte.“ Sein Blick sucht den ihren. „Hallo.“

Sie muss ein Seufzen unterdrücken. Natürlich, er ist nett. Und er ist sehr attraktiv. Doch ist das einfach nicht der richtige Moment für solche Lappalien. Hinter seinem Rücken kann sie die Totengräber sehen, die Helen begraben. „Es freut mich, Sie wiederzusehen, ähm ...“ Sie hält inne und überlegt, ob er ihr seinen Namen überhaupt schon gesagt hat.

„Oh, verzeihen Sie!“ Er schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn, als wolle er sich für seine eigene Unhöflichkeit bestrafen. „Mein Name ist Leon. Leon Berger.“ Er reicht ihr die Hand und sie ergreift sie recht widerwillig.

„Okay, es freut mich wirklich Sie wiederzusehen, Leon, doch nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen sage, dass das einfach gerade ein ganz, ganz unpassender Moment für Smalltalk ist.“ Sie deutet auf die Totengräber hinter ihm. „Außerdem wartet meine beste Freundin auf mich.“

„Oh, ja, das verstehe ich natürlich!“ Sie glaubt zu sehen, wie er rot anläuft. „Tut mir leid, es war wirklich dumm von mir, ich habe mich nur so gefreut Sie hier wiederzusehen, das ist alles, wirklich …“

Lela muss ein Lächeln unterdrücken. Dieser Leon ist wirklich süß. „Das macht doch nichts, wirklich. Nur ein anderer Zeitpunkt wäre vielleicht besser gewesen.“

„Ja, ja, da haben Sie Recht …“ Er versucht sich an einem Lächeln. „Es tut mir wirklich leid. Vielleicht ein andermal.“ Er räuspert sich leise. „Sie sollten Ihre Freundin nicht warten lassen. Gehen Sie nur, ich wollte noch zu – zu ihr.“ Er nickt in die grobe Richtung von Helens Grab und zeigt ihr dann die schlichte weiße Lilie, die er in der Hand hält. Es ist die gleiche Blume, die auch Lela und Stella auf ihr Grab gelegt haben.

„Gut.“ Lela schenkt ihm ein Lächeln. „Es war wirklich nett Sie wiederzusehen, Leon. Vielleicht sieht man sich ja noch einmal. Ich wünsche Ihnen noch einen, naja, vielleicht nicht schönen, aber den Umständen entsprechend angenehmen Tag.“

„Danke. Ich Ihnen auch.“

Sie reichen sich erneut die Hand. Dann geht Lela mit einem letzten Lächeln an ihm vorbei auf das Tor zu, die Hände tief in die Taschen ihres Mantels vergraben. Obwohl es bereits März ist, sind die Tage noch immer recht frisch wie ihr wieder einmal auffällt. Vielleicht liegt ihr Frösteln aber auch nur an der inneren Kälte, die Helens Tod in ihr geschaffen hat. Sie verlässt den Friedhof.

Leon sieht ihr hinterher.

Liebe ist tödlich

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