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Kapitel 4

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Die nächsten Tage sind der reinste Horror. Die Nachrichtensender laufen heiß über die Ereignisse, die das Dorf erschüttert haben. Jeden Tag dringen durch die polizeiliche Nachrichtensperre immer mehr Details über den grausamen Mord an Helen Jakobit.

Inzwischen hat man herausgefunden, dass sie an dem fünften Schuss starb, der sie traf. Zuvor hat sie eine Kugel in die linke Schulter und drei weitere in die Brust, nahe ihrem Herzen, getroffen. Letztendlich ist sie an der letzten Kugel, einem Kopfschuss gestorben, der ihr das Gehirn regelrecht aus dem Kopf geblasen haben soll.

Doch neben diesem sind noch mehr schreckliche Dinge an die Öffentlichkeit gelangt.

Zum Beispiel ist bereits am nächsten Tag bekannt geworden, dass Helen nicht einfach nur zufällig entführt worden ist. Sie ist wochenlang vorher ausgekundschaftet und genauestens beobachtet worden. In einem alten Herrenhaus, nahe des Waldes, in dem ihre Leiche gefunden worden ist, hat die Polizei Dutzende Fotos und genaue Pläne über ihre zeitlichen Abläufe gefunden.

Wer auch immer ihr all das angetan hat, hat sie Wochen, wenn nicht sogar Monate zuvor auf Schritt und Tritt verfolgt. Und alles genauestens dokumentiert. Sei es bei ihren täglichen Erledigungen oder nachts in ihrer Wohnung, wenn sie vergessen hat die Vorhänge vor den Fenstern zuzuziehen.

Außerdem ist bekannt geworden, wie schrecklich ihre Gefangenschaft gewesen sein muss. Die Vermisstenanzeige, die ihre Mutter nach etwa zwei Tagen ihres Verschwindens aufgegeben hat, war bereits fünf Wochen alt. Helen muss sich über einen Monat in den Händen ihres Peinigers befunden haben. Und wie sich bei der Hausdurchsuchung ebenfalls gezeigt hat, muss sie unglaublich gefoltert und gequält worden sein. In dem Haus hat die Polizei eine Art Folterkammer gefunden, mit Handschellen, Fußfesseln, Peitschen, Messern und anderen Gegenständen, die sich zum Verletzen und Foltern eines Menschen eignen.

Auf manchen der Bilder ist sogar die Folterung von Helen festgehalten worden. Man hat sie geschlagen, getreten, ihren Körper mit Messern zerschnitten und sie vergewaltigt. Dabei wurde sie nicht nur <<normal>> vergewaltigt, sondern der Täter hat sie mit verschiedenen Gegenständen, wie Kleiderbügeln, Flaschen und Stiften vaginal sowie anal penetriert. Er hat sie gequält, immer und immer wieder. Es ist widerwärtig.

Neben der Folterkammer hat vor allem die Dunkelkammer die Aufmerksamkeit der Beamten erregt. Zum einen, weil sie erklärt, wie der Mann, der Helen entführt und ihr all das angetan hat, seine Fotos entwickelt hat – und zwar selbstständig. Und zum anderen, weil sie in den verschiedenen Becken, in denen sich noch einzelne Fotos befunden haben, Chemikalien gefunden haben, die man eigentlich nicht zur Fotoentwicklung braucht.

Heute Morgen haben sie in den Nachrichten gesagt, die Lela auf dem Weg zur Arbeit gehört hat, dass Helen Jakobit mit diesen Chemikalien verätzt worden sei. Vor allem ihre Augen hätten starke Verätzungen aufgewiesen, sodass man davon ausgehen könne, dass sie fast blind gewesen sei.

Lela machen diese Neuigkeiten krank. Und nicht nur das. Der Gedanke, dass der Kerl, wer immer er auch ist, noch immer auf freiem Fuß ist, es nicht einmal einen Anhaltspunkt zu geben scheint, bereitet ihr unglaubliche Angst. Vielleicht hat der Täter Helen gekannt, vielleicht ist er ein alter Verflossener von ihr, der die Trennung von Helen nie richtig hat verkraften können. Vielleicht hat er nur – so widerlich und krank einem dieser Gedanke auch erscheinen mag – Rache an ihr nehmen wollen. Doch vielleicht ist er auch einfach nur eine gestörte Persönlichkeit, die Helen aus anderen Gründen ausgewählt hat. Vielleicht ist er ein Wiederholungstäter. Ein Serienmörder.

Es nicht zu wissen, bringt Lela beinahe um.

Und nicht einmal auf der Arbeit scheint sie diesen Gedanken und der Trauer um Helen davonlaufen zu können. Als einer der wenigen Blumenläden in dem Dorf kommen nun täglich Dutzende Einwohner vorbei, die Blumensträuße, Kränze und Gestecke für die Beerdigung von Helen bestellen oder Sträuße für Helens Familie kaufen wollen. Manche von ihnen kommen auch einfach nur, um jemanden zu haben mit dem sie über das, was mit einem Mal das ganze Land zu erschüttern scheint, reden zu können. Ob so oder so, Lela wird die ganze Zeit über mit den schrecklichen Geschehnissen konfrontiert. Und je länger sie im Laden ist, je mehr Kunden vorbeikommen, desto mehr schreckliche Details muss sie über die Entführung, Folter und Ermordung ihrer Freundin hören.

All das macht sie von Tag zu Tag kränker. Der Hass, dem sie demjenigen, der Helen, ihrer Familie, ihr all das hat antun können, gegenüber empfindet, scheint von Sekunde zu Sekunde immer mehr zuzunehmen. Dennoch darf sie sich nichts anmerken lassen. Denn sie muss trotz allem arbeiten.

Die Beerdigung von Helen ist für den kommenden Samstag anberaumt. Ihre Leiche soll heute Morgen freigegeben werden und bereits jetzt graut Lela vor dem, was die Medien dann wieder berichten werden. Sie hat Angst davor noch mehr zu erfahren. Denn obwohl es sie innerlich zerfrisst zu wissen, was mit Helen geschehen ist, kann sie eines dennoch nicht tun: Weghören. Es ist wie ein perverser, selbstzerstörerischer Drang alles erfahren zu wollen, so schrecklich es auch sein mag.

„Ähm, Entschuldigung?“

Lela zuckt zusammen und sieht von den Rosen, die sie in der Vase gerade arrangiert, auf. Ein junger Mann, Mitte bis Ende zwanzig, steht vor ihr. Er hat blondes Haar, blaue Augen und einen trainierten Körper. Er ist attraktiv. Und er lächelt sie unsicher an. Sie muss so sehr in ihre Gedanken vertieft gewesen sein, dass sie ihn nicht gehört hat.

„Tut mir leid.“ Eilig rappelt Lela sich auf, klopft ihre Hände an der Schürze ab, so wie sie es immer tut, wenn sie nervös ist, und erwidert dann das Lächeln des Mannes. „Ich war in Gedanken versunken, es tut mir wirklich leid. Was kann ich für Sie tun?“ Sie lächelt noch immer.

Nun festigt sich auch wieder das Lächeln des Fremden. „Das macht doch nichts. Ähm, ich hätte gerne einen Blumenstrauß, für die Beerdigung … Sie wissen schon.“ Sein Lächeln verblasst und er weicht Lelas Blick aus, als er sieht wie sehr seine Worte sie treffen. Es tut weh, immer und immer wieder mit diesen Schrecken konfrontiert zu werden. Immerhin ist es nicht irgendjemand, dem all das widerfahren ist. Niemand, den man einfach wieder vergessen kann. Es ist Helen.

„Ich … ja – ja klar, ich habe davon gehört. Wer nicht.“ Sie versucht sich wieder an einem Lächeln, doch es will ihr nicht so wirklich gelingen. „Können Sie mir vielleicht sagen, was Sie sich denn genau vorgestellt haben?“ Sie tritt ein paar Schritte beiseite, um ihn einen Blick auf die unzähligen Blumen werfen zu lassen.

Er sieht sich kurz um. „Ich denke, dass ich Sie das lieber entscheiden lasse.“ Im Gegensatz zu Lela scheint ihm das Lächeln nicht weiter schwer zu fallen.

„Okay.“ Lela sieht sich nun ebenfalls im Laden um. „Ich würde Ihnen Lilien empfehlen. Sie sind nicht nur sehr schöne Blumen, die recht lange blühen, sonder sie sind auch die Blumen … die Blumen der Toten.“ Ihr Lächeln flackert kurz. „Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einen Blumenstrauß aus weißen Lilien, etwas Schleierkraut, Grün und diesen hell rosanen Gladiolen hier binde?“ Sie deutet auf besagte Blume. „Die würden einen sanften Farbakzent setzen. Außerdem war rosa immer Helens Lieblingsfarbe.“ Ihr Blick verliert sich kurz in den Blüten der Gladiole.

„Hört sich gut an.“ Der Mann lächelt sie wieder leicht verunsichert an.

Lela erwidert es abermals, dann zupft sie vorsichtig die Lilien und die Gladiolen aus den Vasen und sammelt die Blumen in ihrem Arm. „Wie viele Lilien und Gladiolen dürfen es denn sein?“, fragt sie, als sie jeweils drei gesammelt hat.

„So viele wie Sie wollen. Ich verlasse mich da ganz auf Sie.“

Seine Worte werden mit einem weiteren Lächeln belohnt. Lela zupft jeweils zwei weitere Blumen aus den Vasen, dann wendet sie sich, den Arm voller Blumen, zum Arbeitsbereich. Als sie an der Kasse vorbeikommt, lächelt Margret ihr schwach zu. Sie unterhält sich gerade mit der alten Frau, die sie bereits am Morgen des Leichenfundes im Laden besucht hat.

Lela legt die Blumen auf der Arbeitsplatte ab und macht sich daran, unnötige Blätter von den Stielen zu entfernen und diese schräg anzuschneiden, damit die Pflanzen das Wasser besser aufnehmen können. Der Mann ist ihr gefolgt, hält sich jedoch in einem guten Meter Abstand zu ihr auf, vielleicht weil ihm bewusst wird, dass er in dem hinteren Teil des Ladens nichts zu suchen hat. Lela kann sich nicht erinnern, ihn zuvor schon einmal gesehen zu haben.

„Kannten Sie sie?“, fragt er schließlich, als Lela schon dabei ist, die Blumen mit etwas Grün anzuordnen. Immer wieder zupft und schiebt sie an einzelnen Blatt- oder Blumenstielen, damit die Blumen wie erwünscht in ihrer Hand liegen.

„Ja“, antwortet sie, ohne von ihrem Tun aufzusehen. Die Arbeit lenkt sie soweit ab, dass der Schmerz, der sonst auf diese Worte hin immer folgt, dieses Mal ausbleibt. „Wie kommen Sie darauf?“ Sie nimmt sich etwas Schleierkraut.

„Naja, Sie sagten, dass rosa die Lieblingsfarbe von Helen gewesen ist.“ Er zuckt mit den Schultern. „Da habe ich mich gefragt, woher Sie das wissen und bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie sie wohl gekannt haben müssen.“

Lela nickt. „Wir waren seit Jahren befreundet.“

„Es tut mir sehr leid.“ Er spricht die Worte mit einer solchen Inbrunst aus, dass Lela unweigerlich zu ihm aufsehen muss. Er sieht sie intensiv an, als wolle er, dass sie versteht, dass er es wirklich bedauert. Es irritiert sie.

„Danke.“ Sie wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. „Woher kannten Sie sie?“, fragt sie dann und versucht es beiläufig klingen zu lassen. Seine Reaktion eben hat sie neugierig gemacht.

„Durch die Arbeit“, erwidert er ebenso beiläufig.

Dann schweigen sie beide.

Als Lela fertig mit ihrem Strauß ist, zeigt sie ihn ihm und er segnet ihn mit einem Lächeln ab. Sie bindet die Stiele mit festem Bastband zusammen und tritt dann hinter die Kasse, um den Strauß zu verpacken und ihm dann zu berechnen. Nachdem er ihr das Geld gegeben hat, reicht sie ihn ihm über die Theke. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Danke, ich Ihnen auch – äh?“ Er sieht sie fragend an.

„Lela.“ Sie muss lächeln.

Auch er lächelt. „Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag, Lela.“ Er nimmt den Strauß, lächelt sie ein letztes Mal an, dann dreht er sich um und verlässt den Laden. Das Glöckchen, das immer verkündet, wenn ein Kunde den Laden betritt oder verlässt, bimmelt über seinem Kopf. Lela sieht dem gut aussehenden jungen Mann hinterher. Dann wendet sie sich an ihre nächste Kundin.

Im nächsten Moment hat sie ihn bereits wieder vergessen.

Liebe ist tödlich

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