Читать книгу Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum - Thomas Biller - Страница 44
2.2.4.3. Turmlose und turmarme Mauern
ОглавлениеTürme gehören zwar unabdingbar zur heutigen Vorstellung einer mittelalterlichen Stadtbefestigung, in der Realität jedoch waren Mauern, die keine oder fast keine Türme besaßen, ausgesprochen häufig. Deutlich wird dies vor allem dann, wenn man ausschließlich die Mauertürme betrachtet, also die Tortürme mit ihrer anderen Funktion beiseitelässt. Wenn eine Mauer außer an den Toren keine Türme besitzt, wird sie im Folgenden als „turmlos“ bezeichnet und als „turmarm“, wenn sie nur einen Mauerturm aufweist. Die Betrachtung wird zeigen, dass turmlose und turmarme Mauern einerseits in der Frühzeit der Stadtmauern auftraten – oft wohl auch ohne Tortürme, also wirklich vollkommen turmlos (vgl. 2.2.6.1.) –, andererseits aber auch noch bei den späten Mauern kleinerer Städte.
Der Nachweis, dass eine Mauer wirklich keine Türme besaß, ist dabei nicht einfach zu erbringen, denn ihr pures Fehlen stellt ja noch keinen Beweis dar; sie könnten schließlich später abgebrochen sein. Streng genommen, bedarf es also einer vollständig erhaltenen Mauer, um sagen zu können, dass Türme effektiv nie vorhanden waren, und Derartiges gibt es bekanntlich nur noch sehr selten. In der Praxis kann man anfänglich turmlose oder turmarme Mauern aber auch dann wahrscheinlich machen, wenn Türme eindeutig sekundäre Anbauten sind, und zwar mehrere Türme und nicht solche untergeordneter Art, sondern Haupttürme an wichtigen Stellen der Mauer, etwa an Ecken. Besonders, wenn dieses Phänomen bei bedeutenden und früh ummauerten Städten auftritt, wird man an eine anfangs turmlose Mauer denken dürfen. Selbstverständlich – und das sei bei so diffiziler Problemstellung nochmals besonders unterstrichen – können Grabungen, Bauuntersuchungen und eventuell Quellen auch in solchen Fällen gelegentlich Türme „zum Vorschein bringen“, die unbekannt waren; Beispiele bieten etwa die frühen Mauern von Basel und Worms. Dass aber gleich mehrere Türme entdeckt werden, sodass eine turmarme komplett zu einer „turmreichen“ Mauer umdeklariert werden müsste, ist doch eher unwahrscheinlich.
Die frühen turmlosen und turmarmen Mauern, entstanden bis Mitte des 13. Jahrhunderts, findet man vor allem entlang der Rheinschiene und in der Nordschweiz, was zwanglos damit zusammenhängt, dass hier ohnehin die frühesten Mauern entstanden. Speyer, die um 1070–1100 entstandene, offenbar älteste mittelalterliche Mauer Deutschlands, zeigt keinerlei Hinweise auf Tor- oder Mauertürme; diese wurden offenbar erst ab dem mittleren 13. Jahrhundert ergänzt. In Basel („Burkhardsmauer“, um 1080–1100) ist neuerdings ein ursprünglicher Eckturm erwiesen; mindestens ein Rechteckturm wurde außerdem relativ bald vorgesetzt (Abb. 99; für den Eckturm mag es ein nur noch indirekt belegbares Pendant in Worms gegeben haben). Befestigungen des 12. Jahrhunderts, die erst im 13. Jahrhundert Türme oder zumindest Tortürme erhielten, findet man auch in Duisburg (um/nach 1120/25) und in den Zähringerstädten, von denen der mauerbekleidete Wall von Freiburg im Breisgau (um 1120–50, Tortürme ab der Zeit um 1200) das älteste Beispiel bietet. Das andere Freiburg erhielt bald nach 1157(?) eine Mauer an der Angriffsseite, ähnlich Bern (um 1200?), wobei Tortürme nicht vor etwa 1230 belegbar sind. Beide Städte befestigten noch im 13. Jahrhundert Vorstädte und auch dort verzichtete man noch auf Mauertürme.
Turmlose Mauern bis Mitte des 13. Jahrhunderts
In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gab es am Oberrhein erste Tortürme, etwa in Freiburg, und beispielsweise in Worms oder Straßburg wurden auch schon Mauern errichtet, die ausgesprochen turmreich waren. Dennoch entstanden in spätstaufischer Zeit weitere turmlose Mauern, teils in Reichs- und anderen wichtigen Städten; in dieser Phase gibt es auch erste Beispiele weiter östlich. Das pfalzgräfliche Heidelberg erhielt eine 1225 erwähnte Mauer mit abgerundeten Ecken (Abb. 330), deren Türme und Tortürme nach allen Indizien erst im 14./15. Jahrhundert ergänzt wurden. Das nach 1227 ummauerte, kleinere Eberbach/Neckar ist ein wertvoller Fall, weil alle vier Ecktürme erhalten und eindeutig sekundär sind und weil sogar eines der romanischen, turmlosen Tore erhalten ist (Abb. 104) – ein besseres Bild einer turmlosen romanischen Mauer gewinnt man heute nirgends mehr. Weiter neckaraufwärts war die Mauer von Heilbronn wohl 1241 schon fertig, aber ihre erhaltenen Ecktürme entstanden erst im 14. Jahrhundert; ähnlich kann man Marbach beschreiben. Auch die Reichsstädte Esslingen und Reutlingen besaßen schon gegen Mitte des 13. Jahrhunderts Mauern; die Buckelquadermauer in Esslingen besaß Tortürme, aber offenbar keine weiteren Türme, in Reutlingen wurde der Wehrgang sekundär verbreitert und das Tübinger Tor ist wenige Jahrzehnte jünger. In Villingen schließlich, wo zahlreiche Dendrodaten vorliegen, entstand die Mauer im frühen 13. Jahrhundert, die Tortürme um 1230–70 und die sonstigen Türme erst Ende des 14. Jahrhunderts.
Außerhalb des südwestdeutschen Raumes sind die erkennbaren Beispiele früher turmarmer Mauern selten. Oberwesel am Mittelrhein besaß anfangs einen einzigen Halbrundturm zur Bergseite, 1241/42 dendrodatiert und fraglos von der turmreichen Kölner Mauer angeregt. Das münzenbergische Dieburg hatte eine turmlose Mauer mit abgerundeten Ecken, was an Heidelberg erinnert; die bis zum 14./15. Jahrhundert turmlose Mauer von Münzenberg selbst dürfte Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sein. Weiter östlich, wo ohnehin nur wenige Mauern vor 1250 entstanden, sind die Beispiele der turmarmen Mauer noch seltener. Schongau im Voralpenland, sicher noch 1225/40 befestigt, besitzt eine voll erhaltene Mauer, deren Tor- und Mauertürme alle erst ins 15. Jahrhundert gehören. In Wertheim am Main fehlen alle Hinweise auf ursprüngliche Türme der spätromanischen Mauer und in Mühlhausen/Thüringen steht es ähnlich, wobei turmlose Ecken gut erhalten sind. Für das nahe Gotha (Mitte des 13. Jahrhunderts) ist Turmlosigkeit aus alten Abbildungen belegbar.
Bis Mitte des 13. Jahrhunderts – also grob bis zum Ende der Romanik – könnte man turmlose oder turmarme Mauern auch in dem Sinne interpretieren, dass Türme noch nicht „in Mode“ waren; dementsprechend müsste sich diese Art Mauer ab dem späten 13. Jahrhundert verlieren. Das war jedoch nicht der Fall, vielmehr finden sich ganze Landschaften, in denen weiterhin turmlose und turmarme Mauern vorherrschten, und auch dort, wo das nicht der Fall war, kamen einzelne turmarme Kleinstadtmauern zumindest vor. Da es sich nun, in der „Boomphase“ des Stadtmauerbaues, meist um kleinere Städte handelte, bestätigt dies letztlich den Aspekt der Finanzschwäche, der zum vorläufigen oder auch endgültigen Turmverzicht führte.
Turmlose Mauern ab Ende des 13. Jahrhunderts
Turmlosigkeit – immer mit Ausnahme der Tortürme – war in dieser Phase praktisch für den gesamten Alpenraum typisch, also für die österreichischen Alpenländer, Tirol und die deutschsprachige Schweiz, auch für das Voralpenland in Österreich, Bayern, Oberschwaben und schließlich das Oberrheingebiet. Vor dem 15. Jahrhundert war hier ein einziger Mauerturm pro Mauer schon eine seltene Ausnahme. Im Elsass setzte sich die Tradition der turmlosen Kleinstadtmauer aus romanischer Zeit (Maursmünster, Neuweiler, Egisheim, Rosheim, Rufach) bis ins mittlere 14. Jahrhundert fort und auch in Baden waren Mauertürme bis 1300 Ausnahmen (Freiburg/Neuburg, Waldkirch, Lichtenau) und blieben es zumindest im Südteil des Landes bis zum 15. Jahrhundert. In der Schweiz bietet das ergrabene, 1292 ersterwähnte und nach der Ermordung König Albrechts 1309 zerstörte (Alt-) Eschenbach eine schöne „Momentaufnahme“ einer turmlosen Kleinstadtmauer; sie war noch unvollendet, sollte aber eine gemauerte Contrescarpe erhalten (Abb. 58). Im bayerischen Schwaben ist die 2,7 km lange äußere Mauer von Nördlingen (um 1327–90) erwähnenswert, denn ihr hervorragender Zustand lässt die Aussage zu, dass alle Türme erst nachträglich angefügt wurden.
Das Rheinland stellte unter jenen überwiegend westlichen Landschaften, die schon im 13. Jahrhundert zahlreiche Mauern entstehen sahen, die Ausnahme dar. Hier hatte schon Köln vor 1250 und dann ein deutlicher französischer Einfluss zur frühen Verbreitung von Mauern mit eng gereihten Rundtürmen geführt (vgl. 2.2.4.6.). Dennoch gibt es auch hier turmarme Einzelfälle, etwa die ab 1257 entstehende äußere Mauer von Aachen, die anfangs kaum Türme besaß. Schon direkt östlich, in Hessen, sah die Lage ganz anders aus, weil der Höhepunkt des Mauerbaues erst später einsetzte. Gibt es am hessischen Oberrhein um/nach 1300 zumindest einzelne turmlose Kleinstadtmauern (Steinau, Lindenfels, vielleicht Neckarsteinach, Zwingenberg), die an den badischen Raum anschließen, so findet man im nördlichen (Ober-)Hessen gleichzeitig nur unklare Verdachtsfälle turmloser Befestigungen (Grebenstein, Eschwege, Lauterbach, Gudensberg, Melsungen, etwas deutlicher Allendorf), während der Höhepunkt des Mauerbaues erst um 1350–1500 lag, mit nahezu genormten Rundtürmen (vgl. 2.2.4.6.).
Überhaupt war es Merkmal der östlicheren Gebiete, dass die meisten Mauern erst im 14./15. Jahrhundert entstanden, wobei dann schon ein gewisser Turmreichtum üblich war, aber daneben immer noch turmarme Mauern vorkamen. So scheinen in der Oberpfalz die dort frühen Mauern von Cham (vor 1266) und Nabburg anfangs turmlos gewesen zu sein. In Franken einschließlich Württembergisch Franken war die turmlose oder turmarme Kleinstadtmauer im späteren 14. und frühen 15. Jahrhundert durchaus noch normal, obwohl gerade hier bei den mittleren und großen Städten Turmreichtum üblich war, mit berühmten Beispielen wie Rothenburg oder Dinkelsbühl, von Nürnberg zu schweigen. Auch Thüringen kann ähnlich beschrieben werden; nach einer romanischen turmarmen Mauer wie Mühlhausen und neben jüngeren, durchaus turmreichen Mauern gab es noch im 15. Jahrhundert Kleinstadtmauern ohne Türme wie etwa Kölleda oder Clingen; aussagekräftig ist auch ein Fall wie Freyburg/Unstrut, dessen turmlose Mauer, wohl aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, erst Mitte des 15. Jahrhunderts mit 14(!) Rundtürmen verstärkt wurde. Das angrenzende Sachsen bleibt wegen der fast völligen Zerstörung seiner Mauern auch hier eine Erkenntnislücke.
Abb. 58 Alt-Eschenbach (Schweiz), eine wohl im 13. Jahrhundert gegründete und 1309 schon wieder zerstörte Zwergstadt im Kanton Luzern, im Anschluss an eine ältere Burg, wurde 1944/45 ergraben. Sie war von einer turmlosen Mauer umgeben (W. Drack in: Innerschweizerisches Jahrbuch für Heimatkunde 19/20, 1959/60).
Eine bemerkenswerte Ausnahme war dagegen Schlesien, dessen Mauerbau im 13. Jahrhundert mit einer bemerkenswerten Vielfalt von turmreichen Mauerformen begann und erst ab Mitte des 14. Jahrhunderts zu sparsameren Mauern überging(!), bei denen Türme fast nur noch neben den Toren standen (vgl. Brandenburg, Sachsen-Anhalt); vor Mitte des 14. Jahrhunderts scheint diese Form kaum nachweisbar (Habelschwerdt, Groß-Strehlitz, Pitschen, Sagan?). Die weitgehend erhaltene Mauer von Neumarkt bei Breslau zeigt das Ende dieser Entwicklung: Im 14. Jahrhundert turmlos begonnen, fügte man bald (brandenburgisch beeinflusste?) Wiekhäuser und Wehrerker hinzu; im 15. Jahrhundert wurden schließlich die ältesten Teile mit vorgesetzten Halbrundschalen verstärkt.
Im norddeutschen Flachland, das eher mauerarm war und wo wenig erhalten ist, kann man nur näher untersuchte Einzelbeispiele turmloser Mauern nennen. So fehlen Belege für Türme der ins 12. Jahrhundert zurückgehenden Braunschweiger Mauer und auch an die um 1230–44 erbaute Mauer von Helmstedt wurden die Türme erst im 14./15. Jahrhundert angebaut; in (Hannoversch) Münden ist die ab 1247(?) erbaute Mauer archäologisch erwiesen (Abb. 430), ihre erhaltenen Halbrundtürme gehören aber alle erst in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erbaute schwache Backsteinmauer von Buxtehude erhielt erst nachträglich (Eck-)Türme. Im Bereich der Magdeburger Börde gibt es schließlich eine ganze Gruppe kleinststädtischer Mauern des 15. Jahrhunderts, wo Türme nur neben den Toren standen, manchmal erkennbar erst nachträglich hinter die Mauer gesetzt (Aken, Burgtor; Hettstedt, Turm 1434). Die Wiekhausmauern Brandenburgs schließlich, um 1300 entwickelt und das gesamte 14. Jahrhundert beherrschend, waren eines der eindrucksvollsten Beispiele von turmreichen Mauern im deutschen Raum. Dennoch gab es auch hier in der Frühzeit vor 1300 Einzelbeispiele von Mauern, die zumindest turmarm waren (Brandenburg, Stendal, Berlin, Zerbst in Sachsen-Anhalt); Zielenzig, 1519 im Bau, ist mit seinen lediglich zwei Türmen ein ganz isoliertes Beispiel einer sehr späten turmarmen Mauer in Brandenburg.
Die beachtliche Anzahl von turmlosen und turmarmen Mauern, die über das gesamte Mittelalter hin zu beobachten ist – angesichts der Schwierigkeit, den Befund sicher nachzuweisen, hat man zudem eine hohe Dunkelziffer anzunehmen –, bedeutet offenbar, dass die Errichtung einer Mauer zunächst ohne Türme ein verbreitetes Verfahren war, und zwar nicht nur in den Anfängen des Mauerbaues, sondern auch bei den weit zahlreicheren Mauern des Spätmittelalters. Ist diese Tatsache bisher höchstens hier und dort angedeutet worden, so ist sie doch relativ gut erklärlich. Die Mauer stellte auch ohne Türme durchaus schon einen Schutz dar, der den von einem Wall oder einer Palisade gebotenen deutlich übertraf; insoweit war es bei begrenzten Mitteln durchaus sinnvoll, ihren Ring zunächst zu schließen und die Errichtung der Türme auf später zu verschieben. Dies dürfte etwa in Fritzlar so gewesen sein, wo das Franziskanerkloster 1237 Baugelände „vom Tor bis zum nächsten Turm“ erhielt, wobei aber die Mauer im 13. Jahrhundert an dieser Seite noch turmlos war und der betreffende Turm ein Bau erst des 14./15. Jahrhunderts ist; dennoch war er 1237 offenbar schon geplant!