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2.2.4.2. Nichtdefensive Nutzungen der Türme

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Warum Mauertürme im Mittelalter kaum zum Wohnen genutzt wurden, obwohl dies bei der Enge vieler Städte, der Armut mancher Bewohner und dem ungenutzten Volumen der Türme auf den ersten Blick nahezuliegen scheint, war schon bei den Ausführungen über die Mauergasse (vgl. 2.2.3.6.) begründet worden. Die Stand- und Bewegungsflächen der Verteidiger, also Wehrgänge und Turmräume, mussten frei gehalten werden, und mit unabgestimmten Aktionen der Stadtbewohner, die dies behindert hätten, musste grundsätzlich immer gerechnet werden. Nebennutzungen der Türme wurden daher sicherlich aus dem gleichen Grunde vermieden, wie Mauergassen geschaffen wurden, nämlich, um die Verteidigungsfähigkeit nicht einzuschränken.

Aber waren die Türme anfangs wirklich nie bewohnt? Nachdem ein hoher Prozentsatz der Stadtmauertürme in der Neuzeit, nach Aufgabe der Verteidigungsfunktion, zum Wohnen und anderen Zwecken umgebaut worden ist, ist zunächst zu fragen, an welchen Merkmalen eine auch ursprüngliche Bewohnbarkeit der Türme denn heute noch erkennbar wäre. Aborterker sind an den Türmen recht häufig, in der Regel auf der Höhe der anschließenden Wehrgänge oder im obersten Geschoss, und zwar verständlicherweise an der Grabenseite. Bewohnbarkeit beweisen sie nicht, denn auch die Wachen und Verteidiger benötigten solche Einrichtungen. Überhaupt ist der Aufenthalt der Verteidiger in den geräumigeren und besser vor der Witterung geschützten Türmen etwas, womit man zu rechnen hat und was auch weitere Merkmale der Türme erklären könnte, die man sonst einer Wohnfunktion zurechnen würde.

Insbesondere gilt dies für die Durchfensterung, denn natürlich benötigten die Innenräume der (Voll-)Türme ein Minimum an Licht, auch dann, wenn sie nicht bewohnt waren, und sei es nur, um das Benutzen der Treppen zu erleichtern. Bei Weitem die meisten originalen Fenster an Stadtmauertürmen erfüllen nicht mehr als diesen Anspruch, das heißt, sie sind in der Regel klein und rechteckig und verzichten auch fast immer auf Profilierung und weiteren Schmuck. Dass man ihnen kaum technische oder gestalterische Aufmerksamkeit zuwandte, wird deutlich etwa auch im Rheinischen Schiefergebirge, wo Fenstergewände aus Basalt oder Sandstein besonders wichtig gewesen wären, weil das örtliche mörtelreiche Schiefermauerwerk besonders zum Zerbröckeln neigt. Man findet trotzdem fast nur gemauerte Gewände aus Schiefer, die stets witterungsgefährdet waren, oder bestenfalls Blockzargen aus Holz; aus größerer Entfernung zu beschaffende Werksteine galten für Mauertürme offenbar als zu teuer. Nur ganz selten zeigen Mauertürme Fenster, die, etwa als Doppel- oder Kreuzstockfenster, einen höheren formalen Anspruch erheben und damit an zeitgenössische Bürgerhäuser oder Burgen erinnern. Derartiges fand man etwa – nur als Auswahl – am achteckigen Eckturm in Hainburg/Donau, am rechteckigen „Ketzerturm“ in Zürich und auch am „Langen Turm“ in Aachen, beide aus dem 13. Jahrhundert. Aus dem 14. Jahrhundert kann man entsprechend etwa den „Straubinger Turm“ in Cham (Oberpfalz) zitieren und nach 1337(?) erbaute Schalentürme in Quedlinburg, wo die spitzbogigen Doppelfenster genast sind und damit schon fast schmuckreich wirken; der große „Graue Turm“ in Fritzlar zeigt ein Kreuzstockfenster zum Graben hin (Abb. 55).

Sind nun solche seltenen Fenster Belege für bewohnbare Räume im Turm? Wohl nicht zwingend, denn ihre Funktion kann auch ornamental gewesen sein, ein Versuch, den allzu kahlen Turmkörper etwas zu akzentuieren. Insbesondere kommt man auf diese Idee, weil die Fenster überwiegend an der Feldseite der Türme angebracht sind, wo sie die Außenwirkung der Stadt bereichern und notfalls als Schießscharten dienen konnten, wo sie aber zugleich den Schüssen der Angreifer im direktesten Sinne „offen standen“, während eine Verlegung an die Stadtseite dies ohne Nachteile verhindert hätte.

Einen wirklich bewohnbaren Raum in Stadtmauertürmen wird man nach alledem nur dann erkennen können, wenn eine Mehrheit von Merkmalen – Abort, Fenster, Kamin und andere – die Wohnfunktion belegt. Ein solcher Turm muss entweder gut erhalten und zugänglich sein oder seine Merkmale müssen durch Bauforschung eindeutig nachgewiesen sein. Beide Fälle sind recht selten und daher kann bisher nur eine sehr geringe Anzahl von Türmen genannt werden, in denen sich Menschen von Anfang an dauerhaft und halbwegs bequem aufhalten konnten. Der deutlichste Fall ist der inschriftlich und dendrodatierte „Kaiserturm” in Villingen (1370–72), in dem eine Stube mit Kachelofen lag, die feldseitig ein Gruppenfenster mit Kreuzblumenbekrönung besitzt (Abb. 56). Der runde „Dicke Turm“ in Euskirchen (nach 1355) hat einen Gewölberaum mit Fenstern und Kaminen; in beiden Fällen wird man nicht eigentlich einen Wohnraum vermuten, sondern eher einen Raum für das Kommando im Belagerungsfall, vielleicht noch eher eine Stube für Feste und Gelage, etwa des Rates oder einer Zunft. In Gundelsheim am Neckar besitzt ein Rundturm gegen den Neckar über der Wehrplatte noch ein weiteres Geschoss mit Rechteckfenstern und einem Erker; die Nähe zur Burg, die über ein kurzes Wehrgangstück erreichbar war, deutet hier auf eine Art „Belvedere“, das eigentlich auf die Burg zu beziehen ist.

Am Mittelrhein findet man etwa in Sankt Goarshausen, gleich zweimal in Kaub, in Bacharach und Rhens quadratische oder runde Ecktürme am Rhein, mit mehreren beheizbaren, gut durchfensterten, über einen Treppenturm zugänglichen und teils gewölbten Geschossen (Abb. 405). Hier darf man nun sicherlich an den Sitz von Amtsträgern denken, am verkehrsreichen Mittelrhein vor allem an den eines Zolleinnehmers; in Monheim steht neben dem landseitigen Haupttor ein gut erhaltener Wohnturm der Zeit um 1420, der wohl analog zu deuten ist. Auch die monumentalen „Wahrzeichentürme“ an den Ecken mehrerer rheinischer Städte (Oberwesel, Andernach, Köln; vgl. 2.2.4.10.) mögen sich aus solchen Funktionen entwickelt haben, betonten aber primär die Symbolwirkung. Im Ordensland Preußen schließlich findet man mehrfach neben der Pfarrkirche rechteckige Ecktürme mit ungewöhnlichem, die anderen Türme deutlich übertreffendem Volumen. Sollten es die Wohnungen der Pfarrer gewesen sein, die bei der recht einheitlichen Entstehung der dortigen Gründungsstädte mitgeplant und mitausgeführt wurden?


Abb. 55 Fritzlar (Hessen), „Grauer Turm“. Aufwendigere Fensterformen, die in ihrer Formgebung über Lichtschlitze und kleine Rechteckfenster hinausgehen, sind an Stadtmauertürmen selten; hier ein Kreuzstockfenster an der Feldseite des „Grauen Turms“


Abb. 56 Villingen (Baden-Württemberg), die Feldseite des „Kaiserturms“ (1370–72) mit dem Gruppenfenster einer beheizbaren Stube im Geschoss unter der Wehrplatte – seltenes Beispiel eines besser nutzbaren Raumes in einem Stadtmauerturm (B. Jenisch, Villingen, 1999).

Insgesamt unterstreichen diese wenigen Bauten, für die es eine wahrhaft erdrückende Anzahl von Gegenbeispielen gibt, die oben schon getroffene Feststellung, dass Stadtmauertürme im deutschen Raum in der Regel einfach ausgestattete, nur defensiven Zwecken dienende Bauten waren. Die Ausnahmen scheinen jeweils Sonderlösungen, keineswegs Beispiele eines Typus. Zwar werden genauere Untersuchungen erhaltener und umgebauter Türme die Anzahl der Fälle sicherlich vermehren, aber angesichts des schon jetzt erkennbaren extremen Zahlenverhältnisses dürfte sich schwerlich etwas an der Kernaussage ändern, dass bewohnbare Türme Ausnahmen waren.

Anders steht es mit einer weiteren Funktion der Türme, die ebenfalls mit dem „dauernden Aufenthalt von Menschen“ zu tun hat, wenn auch unter recht anderen Vorzeichen: Sie dienten als Gefängnisse. Neben der Bezeichnung „Pulverturm“ sind jene Namen, die auf die Gefängnisfunktion der Türme hinweisen, wohl die häufigsten: „Bürgerturm“, „Diebsturm“, „Hexenturm“, „Fronfeste“, „Faulturm“, „Stock(haus)turm“, „Schuldturm“ und „Arrestturm“ (Schlesien), „Folterturm“ und „Malefizturm“ (Schwäbisch Hall), „Bürgergehorsam“ und andere mehr. Die Anfänge auch dieser Funktion lagen wahrscheinlich im Mittelalter, als die leeren, aber mauerstarken und ohnehin von Wachen kontrollierten Türme sich dafür geradezu anboten. Reste aus so früher Zeit gibt es aber kaum, erklärlich aus der Primitivität der damaligen „Ausstattung“, außer festen Türblättern oder Bodenklappen und Ringen zum Anschließen der Ketten ist hier wenig zu erwarten. Immerhin gehört der älteste Fall, als ein Turm nachweislich als Gefängnis umgebaut wurde, noch ins Mittelalter, ein „1431” bezeichneter Eckturm in Forchtenberg (Württembergisch Franken); ob ein von vornherein mit Abschlusswand errichtetes Wiekhaus in Rössel im Ordensland wirklich von Anfang an, also im 14. Jahrhundert, ein Gefängnis gewesen ist, wäre zu prüfen. 1548 jedenfalls war der Turm am „Eckstädter Tor“ in Freyburg/Unstrut schon ein Gefängnis und der 1556 erbaute „Spittelturm“ in Bremgarten, der bis Anfang des 19. Jahrhunderts als Gefängnis diente, bewahrt eine Fülle von Inschriften und Graffiti. Die enorme Mehrzahl der erhaltenen Gefängnistürme – oft sind es die einzigen, die aufgrund ihrer Funktion die Zerstö-rung der Mauer überlebten – verdankt ihre überlieferte Form aber erst dem 18./19. Jahrhundert, wobei Reste älterer Ausstattungen verschwanden. Auch die Quellen zu den Gefängnissen sind weit überwiegend erst neuzeitlich. Die Art der Ausbauten ist prinzipiell immer ähnlich und kann etwa am untersuchten Turm des „Marientores“ in Naumburg belegt werden (Abb. 57). Es entstand ein neues Treppenhaus, die Zellen wurden durch Querwände abgetrennt; größere, vergitterte Fenster und von außen heizbare Öfen belegen verbesserte Einsichten in menschliche Minimalbedürfnisse. Die typischen, rechteckigen und axial geordneten Gitterfenster sind das Merkmal, das solche Umbauten bis heute auch von außen kenntlich macht. Eine Wächterwohnung wurde nun gern in der Nähe untergebracht, weshalb Toranlagen besonders geeignet waren (Abb. 498), auch mehrere kleinere Zellen pro Geschoss waren denkbar. Das Ende dieses räumlich allzu beschränkten Gefängnistypus kam im 19. Jahrhundert, als mit dem rapiden Anstieg der Bevölkerungszahlen viel größere Gefängnisse neuen Typs erbaut wurden. Ein Turm, der durch einen Anbau im Volumen lediglich verdoppelt wurde, wie die Günzburger „Fronfeste“ war nun eine Ausnahme.

Türme als Gefängnis

Eine eher seltene, aber optisch wirkungsvolle Nebenfunktion von Stadtmauertürmen war die als Windmühle. Der Mühlentypus des „Holländers“ verfügt über ein drehbares Oberteil auf einem hohen, festen Unterbau, wofür sich ein Mauerturm geradezu anbot; die Mühle war natürlich in Kriegszeiten sehr gefährdet, aber im Frieden profitierte sie von der Höhe des Turmes. Bei besonderer Höhe musste das drehbare Oberteil von einer umlaufenden Galerie aus bewegt werden („Galerieholländer“). Eine solche Galerie in noch gotischen Formen findet man bei einem ehemaligen Tor in Köln (vor 1446; Abb. 199); dort gab es früher mehrere der Art. In Kempen ist eine Mühle auf 1581 datiert, die anderen, auch am Niederrhein, sind in der Regel noch jünger; auch die Mühlen auf den Türmen stellten also eine weitgehend erst nachmittelalterliche Nutzung der Stadtmauertürme dar.

Schließlich sei der „Zytturm“ in Luzern erwähnt, der schon mit seiner Errichtung 1403 eine große, aus der ganzen Stadt sichtbare Uhr erhielt – als öffentliche Uhr zeittypisch, während aber sonst eher Rathaus- und Kirchtürme diese Funktion übernahmen.


Abb. 57 Naumburg (Sachsen-Anhalt), „Marientor“, Turmgeschosse mit Gefängniszellen wohl des frühen 19. Jahrhunderts. Die Zellen waren durch Öfen beheizt, die durch den Wärter von der gleichzeitig eingebauten Treppe aus bedient wurden (vgl. Abb. 147; Th. Biller in: Forschungen zu Burgen und Schlössern, Bd. 5).

Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum

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