Читать книгу Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum - Thomas Biller - Страница 26
2.2.1.6. Städte ohne Befestigung?
ОглавлениеVor allem von historischer Seite wurde früh festgestellt, dass eine nicht geringe Anzahl mittelalterlicher Städte dem Augenschein nach unbefestigt war; H. Stoob hat in seiner Karte der befestigten Städte dafür eine besondere Signatur eingeführt, die vor allem im Osten des deutschen Raumes sehr häufig auftritt; für Sachsen etwa kam man auf 174 „offene“ Städte gegenüber nur 74 mit Befestigung durch Mauern oder Wallgräben. Nachvollziehbar hat sich aus solchen Feststellungen gelegentlich die Diskussion entwickelt, ob die Befestigung wirklich ein definierender Bestandteil der mittelalterlichen Stadt war. Dem ist an dieser Stelle nicht weiter nachzugehen – nicht nur, weil die Frage der Definition von „Stadt“ heute flexibler gesehen wird, sondern einfach, weil es hier vor allem um die Befestigung als Bauwerk geht. Was also ist aus diesem Blickwinkel zur Frage der „Stadt ohne Befestigung“ zu sagen?
Aus den letzten Kapiteln ist klar geworden, dass Befestigung keineswegs immer „Mauer“ bedeutet hat, dass vielmehr Anlagen aus Erde und Holz bzw. Gräben sehr häufig waren. Diese aber sind, wie schon der gesunde Menschenverstand belegt, höchst anfällig, wenn sie nicht regelmäßig gepflegt werden. Holz verrottet innerhalb weniger Jahrzehnte und muss erneuert werden, Wälle werden allein durch Regen im Laufe der Zeit wieder in die vorgelagerten Gräben hineingespült, diese verlanden auch ohne benachbarten Wall oder werden verfüllt. Dabei ist weiterhin nicht zu vergessen, dass die Bewohner der Stadt nicht nur durch den Verzicht auf Pflegearbeiten zum Verfall beitragen konnten, sondern von allem Anfang an auch aktiv. Denn die Befestigung war ja auch ein Hindernis zwischen der Stadt selbst und den Vorstädten, Mühlen, Äckern, Wiesen usw. vor der Stadt; Abkürzungen zwischen intra und extra muros waren daher ebenso naheliegend wie die Nutzung der Wälle und Gräben selbst, etwa als Weide, Garten oder Fischteich. Abstrakt gesagt: Schon die Alltagsinteressen der Bürger standen in einem grundsätzlichen Konflikt mit ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und bewirkten insofern eine Art Erosion der Befestigungen, vor allem, wenn diese aus wenig dauerhaftem Material bestanden (aber auch Mauern wurden aus den gleichen Gründen geschädigt, etwa durch Einbruch von Pforten und Fenstern).
Daraus ergibt sich, dass Holz-Erde-Befestigungen auch früh, also schon im Mittelalter selbst, wieder abgegangen sein können, wenn die Stadt eine allzu lange Zeit nicht die Kraft aufbrachte, sie durch eine Mauer zu ersetzen. In diesem Falle können sie durchaus verschwunden sein, ohne dass eine einzige Quelle beschreibender oder abbildender Art Zeugnis von ihrer Existenz ablegt. Man darf ja nicht vergessen, dass dieser Fall nur kleine Städte von geringer Wirtschaftskraft betroffen haben dürfte, deren frühe Schriftüberlieferung in aller Regel ausgesprochen spärlich ist, genauso wie vor dem 18./19. Jahrhundert die Darstellung in Plänen. Gerade im Falle vieler vermeintlich unbefestigter Städte im östlichen Flachland – Brandenburg, Pommern, teils auch Sachsen und Schlesien – liegen mehrere Faktoren auf der Hand, die diesen Ablauf gefördert haben dürften. Späte Gründung – in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts oder noch später – verkehrsferne Lage, Mangel an Baumaterial und geringer Ertrag der eiszeitlichen Böden haben die Entwicklung solcher Städte verzögert, sodass ihr Mauerbau oft bis Mitte des 14. Jahrhunderts nicht begonnen war; die dann einsetzende große Wirtschaftskrise, zuletzt das Aufkommen der Feuerwaffen, dürfte ein Übriges getan haben, um den Mauerbau endgültig zu verhindern. In solchen Fällen könnte letztlich bestenfalls die Archäologie klären, ob nicht doch eine Befestigung vorhanden war; Drebkau oder Rhinow in Brandenburg sind etwa Beispiele oder am anderen Ende des deutschen Sprachraumes Lebnitz in der Steiermark, das 1296 Befestigungsrecht erhielt, aber nie eine Mauer. Da die Archäologie aber immer nur Einzelfälle untersuchen kann, während die vermeintliche „Stadt ohne Befestigung“ regional durchaus ein häufiges Phänomen war, ist mit einer wirklichen, das heißt halbwegs flächendeckenden Klärung auch langfristig kaum zu rechnen.
Für die Frage, ob Befestigung ein unabdingbares, definierendes Merkmal der mittelalterliche Stadt gewesen sei, bedeutet all dies, dass sie nach wie vor nicht abschließend zu beantworten ist. Jedoch steigt die ohnehin hohe Wahrscheinlichkeit, dass wirklich jede mittelalterliche Stadt befestigt werden sollte – und es gerade zu Anfang fast immer auch wirklich war –, durch diese Feststellungen und Überlegungen nochmals deutlich an. Dafür spricht nicht nur, dass die eindrucksvolle Mehrheit der Städte in Stein befestigt war, und auch nicht nur die weitere Tatsache, dass in einer zunehmenden Anzahl von Fällen außerdem Holz-Erde-Befestigungen nachgewiesen sind. Auch die Erkenntnis, dass sehr wohl Befestigungen verschwunden sein können, ohne dass wir etwas von ihnen wissen, verstärkt die Annahme, dass „Stadt“ und „Befestigung“ im Mittelalter wirklich unabdingbar miteinander verbunden waren.