Читать книгу Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum - Thomas Biller - Страница 37
2.2.3.4. Wehrgang und Brustwehr
ОглавлениеDie Stadtmauer des deutschen Raumes wurde – lässt man Türme, Zwingermauern und andere ergänzende Bauteile weiterhin beiseite – fast nur von der Mauerkrone aus verteidigt. Das ist nicht selbstverständlich, denn bereits in der Antike hatte es komplexere Modelle gegeben, bei denen mehrere Schussebenen übereinanderlagen. Als erhaltene Beispiele seien etwa die Aurelianische Mauer von Rom genannt, die in ihrem Endzustand des späten 3. Jahrhunderts zwei Wehrgänge übereinander besaß (was bei der Ummauerung des Vatikans im 10. Jahrhundert übernommen wurde), auch die „Landmauer“ von Konstantinopel (um 412–422 n. Chr.) oder die unter Justinian im frühen 6. Jahrhundert errichtete Mauer von Resafa (Syrien). Dass Derartiges auch im Mittelalter anregend wirkte, jedoch nur im Mittelmeerraum, verdeutlicht etwa ein Blick auf den Ausbau des Crac des Chevaliers in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts oder auf die im 16. Jahrhundert neu entstandene Mauer von Jerusalem.
Schießscharten im unteren Teil der Mauer – vom Boden aus zugänglich, nie von einem unteren Wehrgang – gab es jedoch in Deutschland nur in zwei Regionen bzw. Epochen, einerseits im nördlichen Rheinland, andererseits gelegentlich in der Spätzeit des Stadtmauerbaues im 15./16. Jahrhundert, als schwache Mauern mit Gewehrscharten in Stehhöhe entstanden, ohne Wehrgang auf der Mauerkrone (vgl. 2.2.11.1.).
Im Rheinland dürfte die um 1210–50 entstandene aufwendige Mauer von Köln das Thema vorgegeben haben, indem sie je eine Schlitzscharte, vom Boden aus bedienbar, in der Mitte jedes Wehrgangbogens anordnete; dass dabei ein (spät)römisches Vorbild anregend gewirkt hat, wie bei den Doppelturmtoren dieser Mauer, darf man erwägen, kann aber dieses eventuelle Vorbild nicht mehr benennen (Abb. 41). Das Kölner Modell wurde dann bis ins 14. Jahrhundert verschiedentlich rezipiert, etwa in Oberwesel schon um 1240, in Aachen (ab 1257) und Recklinghausen (um 1300?); im 14. Jahrhundert sind Menden (Westfalen, keine Wehrgangbögen), Zülpich (1376–93) und weiter südlich Boppard, Nassau und Oberlahnstein zu nennen; am weitesten von Köln entfernt ist die Vorstadtmauer des mainzischen Miltenberg (um 1346). Späte Beispiele solcher tief liegender Scharten aus dem 15./16. Jahrhundert sind schon deswegen selten, weil damals kaum noch Mauern neu entstanden, sondern eher einzelne Abschnitte, etwa als Reparatur oder Umbau. Ein Beispiel wohl des 15. Jahrhunderts ist Landshut in Bayern, in Stargard (Pommern) und in Rostock am erneuerten Steintor gibt es Entsprechendes aus dem 16. Jahrhundert. In Jena wurden nachträglich große Schlüsselscharten in 2 m Höhe in die bestehende Mauer eingefügt.
Der Wehrgang und seine Ausgestaltung sind nach dem Gesagten das funktionale Kernstück der Hauptmauer. Bevor wir uns ihm zuwenden, ist aber eine Frage zu behandeln, die man leicht übergehen könnte: Hat eigentlich jede Mauer einen Wehrgang auf ihrer Krone gehabt oder gab es auch Mauern ohne Wehrgang?
Dies ist wieder einmal eine jener Fragen, für die man ob ihrer Grundsätzlichkeit eine einfache und klare Antwort erhofft, die man aber aufgrund der fragmentarischen Erhaltung mittelalterlicher Bauten leider keineswegs erhält. Fraglos spricht schon die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Wehrgänge der Normalfall waren; das Fehlen von Scharten in unteren Mauerteilen und die verbreitete Turmarmut (vgl. 2.2.4.3.) machten Wehrgänge bei weitaus den meisten Mauern unverzichtbar, weil sie ausschließlich von dort verteidigt werden konnten. Zugleich aber ist unbestreitbar, dass die meisten Mauern zu zerstört sind, um eindeutige Aussagen über den Wehrgang zu machen, und dass gerade frühe Darstellungen des 16./17. Jahrhunderts Wehrgänge bzw. Zinnen oft auch dort schematisierend darstellen, wo sie in Wahrheit nachweislich fehlten.
Abb. 41 Köln, die Mauer, die spätestens ab den 1210er Jahren auf einem etwas älteren Wall entstand, besaß als wohl erste im deutschen Raum unter den Wehrgangbögen Scharten, die vom Boden aus benutzbar waren; der im Foto sichtbare Wall mag ursprünglich etwa einen Meter höher gewesen sein, wie auch die Tufffundamentbögen in der Mauer andeuten (Rekonstruktionsversuch bei Wiethase, Kölner Thorburgen …, 1884).
Im Einzelfall wird oft nicht mehr geklärt werden können, ob wirklich und in welcher Form Wehrgänge vorhanden waren. Als Beispiele von Mauern, die auf den ersten Blick mit ihren Türmen ganz normal wirken, aber auf den zweiten Blick keine Wehrgänge besaßen, seien etwa Wimpfen im Tal (Württemberg), die Vorstadt „Freiheit“ in Homberg/Efze (Hessen), Borken und Haltern (Westfalen) oder Reichenbach, Münsterberg, Patschkau und Pitschen (Schlesien) genannt; sie zeigen, vom späten 13. Jahrhundert bis um 1500 entstanden, aber in ihren Regionen jeweils vollkommen isoliert, wie verbreitet und zugleich ungewöhnlich Wehrganglosigkeit war. Aber es sind auch zwei wichtige Gruppen von wehrganglosen Mauern fassbar – eine regional definierte, die brandenburgischen „Wiekhausmauern“, und eine zeitlich definierte, die schon berührten Mauern des 15./16. Jahrhunderts, die nur Feuerwaffenscharten in Stehhöhe besaßen. Auf die letztere, nur verstreut auftretende Spätform bleibt im Zusammenhang der spezifischen Entwicklungen des Artilleriezeitalters zurückzukommen (vgl. 2.2.11.1.). Das „Wiekhaussystem“ war dagegen eine bemerkenswerte Sonderform der Mauer, der im 13. bis 15. Jahrhundert praktisch alle Mauern im damaligen Brandenburg angehörten (also auch solche im heutigen Mecklenburg-Vorpommern und Polen); Ausläufer der Form finden sich in Sachsen-Anhalt (Zerbst, Schmiedeberg, Kemberg), in Sachsen (Delitzsch), Schlesien (Lüben, Namslau, Neumarkt, Falkenberg, Gleiwitz) und weit im Westen ausnahmsweise in Uelzen. Typisch für das „Wiekhaussystem“ (vgl. die detaillierte Darstellung in Band II: 26. Brandenburg) war die vollständige Verlagerung der Verteidigung in regelmäßig gereihte, fast immer rechteckige Türme, die „Wiekhäuser“, die mit mehreren Schartengeschossen ausgestattet und nur von der Mauergasse zugänglich waren. Sie beherrschten durch ihre enge Stellung, in Abständen zwischen 20 und 40 m, das Vorfeld ähnlich gut wie die Scharten eines Wehrgangs, auf den deswegen verzichtet werden konnte. Die Abstützung der Mauer durch die Türme machte es zudem möglich, sie nach oben immer schwächer auszubilden; ob das System von den Baumassen her „billiger“ als eine Mauer mit Wehrgang war, ist angesichts der zahlreichen, wenn auch niedrigen Türme aber anzuzweifeln. In Nachbargebieten Brandenburgs gab es im Übrigen Fälle, verstehbar als Kombination mit dem überregional Üblichen, bei denen das Wiekhaussystem mit Wehrgängen kombiniert wurde; wichtigstes Beispiel ist das Deutschordensland Preußen.
Als seltener Ausnahmefall sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt, dass es auch wehrganglose Mauern gab, bei denen nur kleine Abschnitte der Mauern mit Zinnen versehen waren; das gilt etwa für die um 1500 entstandenen Vorstadtmauern von Worms und Bautzen, und zwar jeweils beidseitig von Toren. Die äußere Mauer von Basel (1361/62–98) soll im größten Teil ihres Umfanges zwar Zinnen, aber keine Wehrgänge besessen haben. In allen drei Fällen handelte es sich um ausgedehnte und spätere äußere Mauern, deren Verteidigungsfähigkeit schon aus Mangel an Verteidigern ein Problem war; offenbar verzichtete man deshalb auf die pflegebedürftigen Wehrgangkonstruktionen, täuschte aber durch die Zinnen zumindest eine gewisse Wehrhaftigkeit vor.
Die Betrachtung des Wehrganges selbst kann in drei Punkte gegliedert werden: die Gestaltung der Brustwehr, die Frage der Überdachung und schließlich die formal höchst vielfältigen stadtseitigen Abstützungen des Wehrganges, der meist breiter als die Mauer war, die ihn trug.
Bis zum Artilleriezeitalter waren nach allen Anzeichen Zinnen, eine im Prinzip seit der Antike bekannte Bauform, die normale Form der Brustwehr – eine nicht überdachte, nicht allzu dicke Mauer von Mannshöhe, mit mindestens mannsbreiten Lücken, durch die die Verteidiger das Vorland beobachten, schießen oder sich hinausbeugen konnten. Die höheren Brustwehrteile zwischen den Lücken, die „wintberge“, enthielten oft zusätzliche Schlitzscharten, die beim Hinausschießen mit Bogen oder Armbrust eine bessere Deckung boten; manchmal, etwa in Österreich, gab es sie nur in jeder zweiten oder dritten Zinne. Die Zinnen sind in weitaus den meisten Fällen mitsamt der Mauerkrone verschwunden, aber dennoch blieben viele Beispiele erhalten; wo die Mauer nicht bis heute gepflegt wurde und etwa unter einem Dach lag, wurden sie meist durch Erhöhung der Mauer oder zumindest durch Einbau von Scharten im Spätmittelalter geschützt (vgl. 2.2.11.3.).
Zinnen bieten wenige Möglichkeiten zur formalen Variation (solange man sich wohlgemerkt mit originalen Zinnen befasst und nicht mit den heute häufigeren Zierzinnen des 19./20. Jahrhunderts). Dennoch zeigen die wenigen Fälle, bei denen einmal Zinnen einer Region vermessen und verglichen wurden (Abb. 42), dass kaum zwei Fälle absolut gleich sind – typisch mittelalterlich, es gab nur „Daumenwerte“, keine Normen. Als erhaltene Beispiele ungewöhnlicher Maße seien etwa Kaufbeuren (um 1230?) mit ungewöhnlich breiten Zinnen (Abb. 352) und Kirchberg/Jagst (nach 1373) mit Zinnen von 7–8 m(!) Breite genannt. Schlitzscharten in den Zinnen sieht man etwa noch in Marbach (vor 1282), Leonberg (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts[?], Zinnen 6 m breit mit gemauerten „Giebeln“) in Württemberg, auf der äußeren Mauer von Nördlingen (1327–90; Abb. 32), und auf verschiedenen Mauern des 14./15. Jahrhunderts im südlichen Hessen, ebenfalls meist mit gemauertem Giebeldach, zum Beispiel in Eltville; in Österreich sind etwa Drosendorf und Dürnstein von Interesse, regionaltypisch mit gemauertem „Giebeldach“. In Thüringen ist Stadtilm zu nennen (vor 1303), ganz im Norden Stralsund (um 1280–1310). Der Zufall der Erhaltung lässt natürlich keine Schlüsse auf die frühere Verbreitung zu.
Dies gilt erst recht für die normalen Zinnen ohne Schlitze. Erhaltene Beispiele bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts findet man unter anderem in Speyer (um 1070–1100; Abb. 409), Duisburg (Mitte des 12. Jahrhunderts; Abb. 420), Fulda (um 1150–65), Konstanz, Heidelberg, Memmingen („Kalchvorstadt“), Wertheim (im Altan der Burg), Worms, Dieburg und Burg bei Magdeburg. Jüngere oder schlecht datierbare Zinnen sind noch in Friesach (Kärnten), in der Thuner Neustadt, in Liestal, Bregenz, Wiedlisbach (Schweiz), in Wildberg/Nagold, Herrenberg, Rottenburg (Württemberg) und Krautheim, in Jauer (Schlesien), in Rostock und Wismar zu sehen.
Dass Wehrgänge vor dem Zeitalter der Feuerwaffen überdacht waren, ist unwahrscheinlich. Aus der Tatsache, dass bisher keine hölzernen Wehrgangkonstruktionen vor das 15. Jahrhundert datiert werden konnten, lässt sich zwar wenig schließen, denn es handelt sich bisher um viel zu wenige Fälle, und natürlich könnte es ältere Konstruktionen gegeben haben, die damals nur ersetzt wurden. Aber Holzkonstruktionen samt Dachdeckung stellen einen Zusatzaufwand dar, der nicht wirklich erforderlich war, solange man die feuchtigkeitsempfindlichen Feuerwaffen nicht systematisch verwendete; demnach darf man mit einigem Grund annehmen, dass Wehrgangdächer tatsächlich erst im 15. Jahrhundert üblich wurden. Die wenigen in größerem Umfang erhaltenen Wehrgangdächer – etwa Nördlingen, Murten, teilweise Rothenburg – zeigen als ältesten Bestand in der Regel Konstruktionen, die sehr sparsam mit dünnen Hölzern, weitem Stützenabstand und einem Minimum an Kopfbändern auskommen (Abb. 43). Kaum vor das Spätmittelalter dürften auch jene Fälle zurückgehen, bei denen ein Wehrgang, zumeist als Gang in Fachwerkkonstruktion, durch das Dach eines angelehnten Hauses führte; zumindest ist kein Fall untersucht, bei dem eine solche Konstruktion vor das 15. Jahrhundert zurückginge.
Abb. 42 Verschiedene Zinnenformen und -maße im Kanton Aargau (Schweiz): 1: Lenzburg, Phase 2; 2: Zofingen, Phase 1; 3: Bremgarten, Phase 2; 4: Bremgarten, Phase 1; 5: Lenzburg, Phase 1 (P. Frey in: Stadt- und Landmauern, Bd. 2, 1996).
Die Zugänge zu den Wehrgängen sind heute nur noch ganz selten zu finden; ein eindrucksvolles Beispiel ist die Mauer von Oberwesel, noch aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, wo mehrere schmale Steintreppen im älteren Mauerteil erhalten sind (Abb. 44). Unverkennbar sind Wehrgangtreppen aus Stein absolute Ausnahmen gewesen; gelegentlich findet man ihre Reste noch in besonderen Bauteilen wie vor allem Torzwingern, die von keinem anderen Bauteil aus erreichbar waren. Holztreppen waren fraglos weitaus häufiger und man findet sie auch noch gelegentlich; aber keine, die ich näher betrachten konnte, war noch mittelalterlich. Wo Türme vorhanden waren, wird man zwanglos annehmen können, dass ihre Treppen zugleich den Zugang zum Wehrgang vermittelten; ein beachtlich frühes, womöglich aus der Bauzeit des Turmes stammendes Beispiel bietet noch der „Luegisland-Turm“ in Luzern.