Читать книгу Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum - Thomas Biller - Страница 41
2.2.4.1. Defensive Funktionen der Türme
ОглавлениеTürme sind ein so selbstverständlicher Bestandteil der mittelalterlichen Stadtmauer, dass die Frage nach ihrer genauen Funktion selten gestellt worden ist. Der tiefere Grund für dieses Versäumnis liegt, hier wie so oft, in den Quellen, die in der Bauzeit der meisten Türme, vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, kein Wort über das Thema verlieren; erst ab dem Spätmittelalter lassen sie in Einzelfällen Nutzungen erkennen, die aber in aller Regel nachträglich entstanden waren. Diese Sekundärnutzungen sind auch der Grund, warum die wenigsten Türme noch in ihrer Urgestalt erhalten sind; sie wurden, falls überhaupt in voller Höhe erhalten, in der Regel verbaut, meist zu Wohnzwecken, oder restauriert. Auch insoweit kann man also nur noch bei einem Bruchteil der erhaltenen Türme unmittelbare und leicht verständliche Hinweise auf die Art der ursprünglichen Nutzung finden.
Abb. 51 Rothenburg ob der Tauber bietet in der nur wenig überhöhenden Dar stellung Matthäus Merians ein Beispiel, wie stark die Mauertürme das Bild einer Stadt prägten; nur die Türme der Pfarrkirche und des Rathauses ragen noch höher auf(M. Merian, Topographia Franconiae, 1656?).
Es ist keine Frage, dass die Türme primär der Verteidigung dienten. Ein Vergleich mit den Bergfrieden der Burgen, die ähnlich weit verbreitet waren, zeigt zudem, dass sie es in noch höherem Maße als diese waren. Der Bergfried konnte im Angriffsfalle, so zumindest ist die herrschende Meinung, als letzter, wenn auch fraglos wenig bequemer Rückzugsort der Verteidiger dienen; Städte hatten dafür zu viele Bewohner und zudem konnten zahlreiche Türme, die Schalentürme nämlich (vgl. 2.2.4.8.), stadtseitig gar nicht verteidigt werden. Der Bergfried konnte ferner, durch geschickte Positionierung an der Angriffsseite, die Burg gegen Wurfgeschosse decken, was bei den weit größeren Städten natürlich unmöglich war. Dehnt man den Vergleich auf die Wohntürme der Burgen aus, so wird die funktionale Beschränkung der Mauertürme noch deutlicher, denn Stadtmauertürme waren anfangs, mit äußerst seltenen Ausnahmen einzelner Räume, eindeutig unbewohnbar.
Wenn die Türme also nicht nur primär, sondern fast ausschließlich der Verteidigung dienten, wie erfüllten sie diese Aufgabe? Gedeckte Standplätze für Schützen bot auch die Mauer selbst – zumindest bei jener Mehrzahl aller Mauern, die Wehrgänge aufwiesen – und die Schießscharten, die auch die Türme meist besaßen, boten insoweit keine entscheidenden Vorteile. Lediglich Scharten, die in der Seitenwand des Turmes angeordnet sind, wo sie vor die Mauer vorspringt, konnten einen zusätzlichen Vorteil bringen: die Möglichkeit, den Angreifer seitlich, aus der Deckung heraus effektiver zu beschießen. Diese Möglichkeit, die „Flankierung“, spielte in der Neuzeit, beim „bastionären“ System des 16.–19. Jahrhunderts, die entscheidende Rolle, als der gesamte Grundriss der Befestigungen konsequent so gestaltet wurde, dass der „flankierende Schuss“ wirklich alle Außenmauern erreichen konnte. Die Idee der recht tief angeordneten, flankierenden Scharte in der Seite eines vorspringenden Bauteiles ist aber weitaus älter, findet sich vor allem schon bei spätrömischen und byzantinischen Befestigungen.
Umso erstaunlicher ist es daher, dass die flankierende Scharte bei den mittelalterlichen Stadtmauertürmen ziemlich selten war. Eine wichtigere Rolle spielte sie vor allem bei zwei exakt abgrenzbaren Baugruppen: den (halb) runden Türmen des 13. Jahrhunderts im nördlichen Rheinland – die in Köln wohl römisch, später auch französisch beeinflusst waren – und den ebenfalls meist runden Türmen, die im Zeichen der Feuerwaffen ab dem 15. Jahrhundert häufig wurden, besonders auch als „Streichwehren“ an den Zwingern („bestreichen“ ist im Wesentlichen ein Synonym für „flankieren“). Der normale Mauerturm des deutschen Raumes im 13./14. Jahrhundert besaß zwar oft Scharten, meistens einfache Schlitzscharten, aber diese waren überwiegend frontal angeordnet, und wenn sie doch in den Turmseiten lagen, dann blieb ihre Wirkung fast immer beschränkt, weil sie in den oberen Geschossen angeordnet waren und auch die Türme oft zu wenig vorsprangen, sodass der Mauerfuß aus ihnen nicht einsehbar war.
Es ist in Deutschland kaum möglich, eine Regel dafür zu erkennen, wie weit die Türme vor die Mauer vorsprangen. Im Normalfall treffen die Kurtinen etwa in der Mitte auf die Seitenwand des Turmes – wobei „Mitte“ als die mittleren beiden Viertel der Wandlänge definiert sei –, aber die Variationsbreite umfasste durchaus auch die beiden Extreme, also einerseits den Turm, dessen Front ohne Vorsprung im Mauerverlauf liegt, als auch andererseits jenen, der in ganzer Tiefe außen vorspringt. Nur eben ist der letztere Fall, der für systematische Anwendung der Flankierung an sich die besten Voraussetzungen bot, recht selten, tritt durchaus nicht konsequent in Verbindung mit flankierenden Scharten auf und ist außerdem so verstreut, dass eine besondere Absicht im Auftreten weit vorspringender Türme nicht zu erkennen ist. Man kommt vielmehr an dem Eindruck nicht vorbei, dass das Vorspringen der Türme von Stadt zu Stadt und manchmal sogar von Turm zu Turm neu entschieden wurde und dass man dabei keinen allgemeinen Regeln folgte, schon gar nicht der Zielvorstellung konsequenter Flankierung. Einen Extremwert bieten hier jene ganz wenigen Beispiele von Stadtmauertürmen, die vollständig hinter der Mauer standen, sie gar nicht oder höchstens leicht berührend (Lindenfels, Ortenberg, Gelnhausen, alle in Hessen; Wertheim, Crailsheim, Neudenau in Württembergisch Franken; Abb. 52). Obwohl diese meist runden Türme – das Beispiel des quadratischen Rothenburger „Markusturms“ (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) ist die Ausnahme – am ehesten an die Bergfriede bestimmter Burgen erinnern, stammen sie fast alle erst aus dem 15. Jahrhundert, also eben aus der Zeit, in der im Zeichen der Feuerwaffen das Gegenteil dieser Turmstellung aufkam, nämlich das weit vorspringende, besonders bewusst platzierte Rondell.
Vorsprung vor die Mauer, Flankierung
Als anschauliches Beispiel seien auch die „Wiekhäuser“ bzw. Schalentürme des brandenburgischen Raumes angesprochen, bei denen eine optimierte Wehrhaftigkeit schon deswegen wünschenswert war, weil sie in Abwesenheit von Wehrgängen die einzigen Standorte der Verteidiger waren und die Kurtinen mit verteidigen mussten. Trotzdem springen die Wiekhäuser meist nur wenige Dezimeter, maximal in ihrer halben Tiefe vor und verzichteten so gut wie völlig auf seitliche Scharten; vor allem das Erdgeschoss, wo sie am effektivsten gewesen wären, ist grundsätzlich schartenlos. Deutlicher könnte nicht demonstriert werden, dass der Wert flankierender Scharten nicht begriffen wurde, auch wenn es Weiterentwicklungen gab, wie etwa in Ostpreußen, wo nicht nur Wehrgänge existierten, sondern auch mehr seitliche Scharten, bis zu mächtig vorspringenden, schartenreichen Bollwerken wie etwa in Lauenburg.
Auch der Abstand der Türme voneinander zeigt, dass fortifikatorische Überlegungen nicht allzu konsequent verfolgt wurden, zumindest nicht vor dem Zeitalter der Feuerwaffen. Zwar findet man in der lokalen Literatur manchmal die Überlegung oder gar Behauptung, die Turmabstände seien von der Schussweite von Bogen oder Armbrust abgeleitet. Aber solche Annahmen kollidieren nicht nur mit der allzu geringen Rolle flankierender Scharten, sondern noch mehr mit der Tatsache, dass die Turmabstände sehr unterschiedlich waren, sowohl im Vergleich der Städte untereinander als auch oft genug von Turm zu Turm an derselben Mauer. Auch hier lag der bestimmende Faktor gewiss in den verfügbaren Mitteln – reiche Städte haben die Türme sogar dichter gestellt, als die recht erhebliche Schussweite der Armbrust es erforderte, weniger finanzkräftige konnten überhaupt kaum Türme erbauen (vgl. 2.2.4.3.).
Nach alledem ergibt sich, dass die Höhe der Türme neben ihrer puren Festigkeit nicht nur ihre wichtigste, sondern ihre praktisch allein entscheidende Eigenschaft war. In einer Zeit, in der Fernwaffen zwar existierten, aber entweder in der Reichweite beschränkt – wie Pfeil und Bogen – oder aber aufwendig und daher selten waren – wie größere Wurfmaschinen bzw. Bliden –, war eine höhere Position der Schützen ein entscheidender Wert. Sie verbreiterte jenen Streifen vor der Mauer, in dem der Angreifer gesehen, beschossen oder beworfen und in seinen Aktivitäten behindert werden konnte, und mehr war mit den Mitteln des Zeitalters nicht zu erreichen. Erst die enorm vergrößerte Schussweite und Durchschlagskraft der Feuerwaffen, die im 15. Jahrhundert allmählich wirksam wurden, änderte das.
Die Bedeutung der Turmhöhe wird besonders dort erkennbar, wo einzelne Türme extrem hoch aufgeführt wurden, um einen bestimmten Überblick zu sichern, der von einem normalen Turm aus nicht möglich gewesen wäre. Damit sind einerseits jene Türme gemeint, mit denen man eine nahe gelegene Burg kontrollieren wollte, die eine Bedrohung im Sinne stadtherrlicher Ansprüche darstellte (vgl. 2.2.10.1.). Interessanter für das Thema des Überblicks über das Vorfeld sind aber andererseits jene Türme, die „nur“ das Land überblicken sollten und die in der Regel deswegen so hoch aufgeführt wurden, weil Hügel oder Bodenwellen sonst den Ausblick eng begrenzt hätten. Ihre Funktion wurde dort am deutlichsten, wo sie den Namen „Luginsland“ trugen; solche Fälle sind aus München, Marktredwitz und Memmingen bekannt, in diesen Fällen wohl aus dem 14. Jahrhundert, und vor allem aus Augsburg, wo 1515 ein Turm von höchst komplexer Form und 60 m(!) Höhe errichtet wurde, dessen Standfestigkeit gerade für 17 Jahre ausreichte (Abb. 349). Auch die anderen „Luginslande“ sind leider nur in Resten erhalten. Wohlerhaltene Beispiele für besondere, das Vorfeld beherrschende Turmhöhe bieten dagegen noch Aachen, („Langer Turm”), Rothenburg („Faulturm”; Abb. 53), Dinkelsbühl („Grüner Turm“) und Iphofen („Faulturm“), durchweg aus dem 14. Jahrhundert; in Aachen und Dinkelsbühl sind die Türme gegen überragende Berge platziert. In Iphofen ist die Funktion in einer Wachordnung anschaulich beschrieben: „So der Türmer ein gerenn im Felde und sonst was feindschaft betrifft ersieht“, so soll er das mit einem Trompetenstoß anzeigen.
Abb. 52 Lindenfels (Hessen), der Rundturm (Mitte/2. H. 14. Jh.) steht hinter der Ecke der Hauptmauer; heutiger Zustand und Darstellung bei Matthäus Merian (Topographia Palatinatus Rheni, 1645).
Die Türme hatten natürlich Innenräume und die Idee liegt nahe, dass auch sie dem defensiven Zweck nutzbar gemacht wurden, etwa, indem sie von Verteidigern bewohnt wurden (vgl. 2.2.4.2.), oder zumindest zur Aufbewahrung von Waffen. Für die Aufbewahrung von Waffen fehlen jedoch alle Befunde. Schon die Häufigkeit von Schalentürmen deutet darauf hin, dass man die Innenräume der Türme eher wenig benötigte, denn bei ihnen fehlte zumindest oft der schützende bzw. in Mauerwerk ausgeführte Abschluss gegen die Witterung. Zudem waren gerade wertvollere Waffen (Schusswaffen, Blankwaffen) in der Frühzeit der Städte meist Eigentum der Bürger bzw. Verteidiger, die sie schon aus Gründen der Pflege fraglos zu Hause verwahrten. Für die Aufbewahrung in den Türmen kam daher ohnehin nur „billiges“ Verbrauchsmaterial wie etwa Pfeile oder Steine zum Werfen infrage. Dies jedoch forderte kaum wandfeste Einrichtungen in den Türmen, die bis heute hätten überleben können.
Höhe der Türme
Erst im spätesten Mittelalter und der frühen Neuzeit dürfte sich daran etwas geändert haben, weil zunehmend auch Söldner für die Städte kämpften und weil mit den Feuerwaffen neuartiges Gerät aufkam, das nicht mehr leicht transportabel war. Erst jetzt wurde es sinnvoller, ein gewisses Maß von Waffen im städtischen Besitz – also unter der Obhut des Rates – bereitzuhalten, und dabei kamen neben den neuen Zeughäusern für das Großgerät wohl auch die Türme für Handfeuerwaffen und Blankwaffen infrage. Eine Anschauung dessen gibt noch in besonders wertvoller Weise die Waffenkammer im „Wiener Tor“ in Hainburg (Niederösterreich); auch in einem 1875 abgebrochenen Turm in Klausen/Tirol wurden angeblich noch Waffen gefunden, nachdem der Turm lange nicht mehr betreten worden war. Das bei Weitem bekannteste Beispiel für derartige nachträgliche Nutzungen der Türme in der Neuzeit sind jedoch die Pulvertürme, ein weitverbreitetes, bis heute oft noch im Namen überliefertes Phänomen. Mit der Verbreitung der Geschütze und Handfeuerwaffen musste Pulver auf Vorrat gehalten werden, nicht nur bei festungsmäßig ausgebauten Städten, sondern bei jeder noch unterhaltenen Befestigung. Die Mauertürme waren, wenn man sie mit guten Türen versah, dafür ideal, nicht nur, weil sie selbst Bestandteil der Mauer waren, sondern auch wegen der Stadtrandlage, die im Falle einer Explosion den Schaden begrenzte.