Читать книгу Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum - Thomas Biller - Страница 38
2.2.3.5. Abstützung des Wehrgangs
ОглавлениеDie Wehrgänge, im engeren Sinne die umlaufende schmale Plattform hinter der Brustwehr, wären bei den meisten Stadtmauern zu schmal gewesen, wenn sie einfach nur auf der Mauer selbst gelegen hätten. Geht man von einer Dicke der Brustwehr aus, die bei 0,60–0,80 m lag, so blieb bei durchschnittlicher Dicke der Mauer selbst ungefähr nochmals dieselbe Breite für die Plattform und das reichte keineswegs, um zwei Bewaffnete aneinander vorbeizulassen. Da dies aber fraglos eine Minimalanforderung effektiver Verteidigung war, wurde die Plattform bei einer großen Anzahl von Mauern – dem heutigen Augenschein nach bei der eindeutigen Mehrzahl – verbreitert, indem man die Gehbeläge aus Stein oder Holz stadtseitig vorkragen ließ und sie auf verschiedenartige Weise abstützte.
Abb. 43 Weißenburg in Bayern (Mittelfranken), Wehrgangkonstruktion an der Nordwestecke der älteren Stadtmauer, dendrochronologisch 1450 datiert (D. Burger).
Wie vielfältig die Methoden der Verbreiterung selbst an einer einzelnen Mauer waren, kann heute noch die besonders gut erhaltene äußere Mauer von Rothenburg ob der Tauber veranschaulichen – einfach vorkragende Steinplatten, teils durch Kragsteine abgestützt, teils zusätzlich durch Bögen zwischen Kragsteinen, an anderen Stellen durch Strebepfeiler (Abb. 45). Deutlich wird in dieser längst nicht vollständigen Sammlung möglicher Formen vor allem der pragmatische Charakter der Konstruktionen.
Neben dem einfachen Absatz auf der hinreichend dicken Mauer war die stadtseitige Vorkragung einer hölzernen Plattform die wohl einfachste Möglichkeit, einen Wehrgang zur Verfügung zu stellen, vor allem bei besonders dünnen Mauern. Entsprechend den geringen Mauerdicken der Frühzeit, sahen so offensichtlich die Wehrgänge etwa in Speyer (um 1070–1100) und Basel (um 1080–1100) oder auch in Duisburg (um 1120 bis Mitte des 12. Jahrhunderts; Abb. 420) aus. Auch später wurde diese einfache Form noch verwendet, etwa in Franken kann man noch Beispiele finden. Eine weitere Möglichkeit, einen hölzernen Wehrgang zu konstruieren, bestand bei Mauern mäßiger Höhe darin, die Konstruktion hinter der Mauer auf den Boden zu stellen; bei Wehrgängen, die oft nur 3–4 m über dem Boden lagen, erforderte dies keineswegs besonders lange Stützen. Wie alle Holzkonstruktionen sind auch solche kaum erhalten, sodass die frühere Häufigkeit nicht einzuschätzen ist. In Friedberg bei Augsburg ist ein Rest wohl des späten 14. Jahrhunderts erhalten (Abb. 354), in Neustadt/Donau weist manches auf einen solchen Wehrgang hin; bei den umfänglichen Grabungen in Duderstadt wurden in der Mauergasse Balkenlöcher gefunden, die auf eine derartige Konstruktion noch im 13. Jahrhundert deuten.
Abb. 44 Oberwesel (Rheinland-Pfalz), eine gemauerte Wehrgangtreppe an der rheinseitigen Mauer.
Die einfachste Art einer Wehrgangverbreiterung in Stein bestand darin, die Plattform mit Steinplatten zu belegen und diese etwas überkragen zu lassen. Begreiflicherweise war dies vom Steinmaterial abhängig und auch bei gutem Material war die Vorkragung aufgrund der Bruchgefahr begrenzt. Am ehesten findet man diese noch immer schlichte Konstruktion im Sandsteingebiet, zum Beispiel recht häufig in Franken oder in Herrenberg (Württemberg). Wo Schiefer zur Verfügung stand – ein von Natur plattiges Gestein, das aber eher dünne und kleine Platten bildet –, also insbesondere im Rheinischen Schiefergebirge, wurde oft mit viel Mörtel über mehrere Schichten hinweg eine schräge Vorkragung aufgemauert.
Wo man die Steinplatten weiter auskragen lassen wollte bzw. ihnen nicht traute, waren Konsolen die einfachste Art der Unterstützung; auch dies ist vor allem im Sandsteingebiet anzutreffen, als frühe Beispiele aus spätromanischer Zeit seien etwa Wertheim oder Rufach im Elsass genannt; im letzteren Falle belegen sogar regelrechte lange „Balken“ die Bruchfestigkeit des Materials. Die Konsolen als solche konnten durch Bögen ergänzt werden, eine wesentlich aufwendigere Form, die offenbar erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts aufkam und im 15. Jahrhundert im süddeutschen Raum weitverbreitet war. Ein Beispiel von besonderer Komplexität bietet hier die auch sonst sehr aufwendige und vorbildhafte äußere Mauer von Ingolstadt (ab 1363, Abb. 46), bei der gestufte Konsolen Bögen trugen, aus denen wiederum eine äußere Konsolenreihe vorkragt. Solche Komplexität war offenbar die Ausnahme, aber Backstein taucht bei den sonst einfachen Bögen öfter auf, entsprechend der späten Verbreitung dieser Form (zum Beispiel in Hessen in Steinheim, an der äußeren Mauer von Gelnhausen, Babenhausen und Hanau – oder in der Rothenburger Spitalvorstadt).
Die bisher behandelten, meist formal anspruchslosen Arten der Wehrgangverbreiterung haben gemeinsam, dass sie sich entweder auf die Mauerkrone beschränkten oder dass ihre (Holz-) Stützen leicht verschwinden konnten. Davon unterscheidet sich jene aufwendigere Methode der Wehrgangabstützung, die dem heutigen Eindruck nach die häufigste war: der Wehrgangbogen, also regelmäßig gereihte Strebepfeiler an der Innenseite der Mauer, die oben durch Bögen miteinander verbunden sind und zusammen den inneren Teil des Wehrganges tragen. Der Eindruck, dass diese Methode der Wehrgangverbreiterung häufiger als die bisher beschriebenen war, ist freilich eine optische Täuschung; sie hatte aufgrund ihrer größeren Solidität nur eine weit bessere Chance, erhalten zu bleiben, und auch ihre „architektonische“ Anmutung sicherte ihr allgemein größere Aufmerksamkeit.
Verdeutlichen muss man sich auch, dass die aufwendigen Wehrgangbögen – immerhin mussten sie über Schalung gemauert werden und erforderten zusätzliche Eckverbände – bei genauer Betrachtung noch eine andere Funktion hatten, als nur den Wehrgang zu tragen, und dass sie eigentlich auch kein Mehraufwand waren. Denn die Strebepfeiler waren zugleich eine zusätzliche Aussteifung der Mauer, die es erlaubte, den übrigen Mauerkörper dünner zu machen – in modernen Begriffen war eine solche Mauer ein „Skelettbau“, bei dem die Bögen allein für Standfestigkeit sorgten, während die weit größeren Mauerflächen dazwischen auf eine minimale Dicke, durchaus unter 1 m, reduziert werden konnten. Was also konstruktiv und ästhetisch anspruchsvoller war, bedeutete zugleich Materialeinsparung, und diese war bekanntlich eines der dringendsten Ziele beim Stadtmauerbau. Strebepfeiler ohne Bögen darüber würden die Aussteifungsfunktion zwar auch erfüllen, aber wegen ihres großen Abstandes von meist einigen Metern würden sie zusätzliche Abstützungen für die Wehrgangplatten erfordern. Dies sieht man etwa in Rothenburg ob der Tauber (Abb. 45), auch in der „Ulmer Vorstadt“ von Memmingen und in Heidingsfeld bei Würzburg; insgesamt aber sind es seltene Ausnahmen.
Wehrgangbögen, in der Regel rund-, manchmal auch spitzbogig, waren dagegen weitverbreitet, mit einem eindeutigen Schwergewicht entlang des Rheines. Bei Stadtmauern – bei Burgen mag es noch ältere Fälle geben – dürfte einmal mehr die äußere Mauer von Köln das früheste Beispiel sein (um 1210–50; Abb. 41). Ihr Konzept mit je einer Schlitzscharte unter jedem Bogen wurde im nördlichen Rheinland bis ins 14. Jahrhundert oft kopiert. Als wichtige und teils erhaltene Beispiele seien Aachen (nach 1257), auch etwa Goch (vor 1366) und Zons (ab 1373; Abb. 25) genannt, wo die Bögen teils unvollendet blieben; interessant sind Duisburg, Neuss und Düren, wo im 13. Jahrhundert die Wehrgangbögen an ältere Mauern angesetzt wurden. Weiter südlich ist Frankfurt am Main (wohl 1223–39; Abb. 439) die früheste Mauer mit Bögen und danach bleiben sie – etwa in Koblenz, Andernach, Mayen (nur an Teilen der Mauer), Limburg, Wetzlar – in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und im 14. Jahrhundert üblich, wobei aber die „kölnischen“ Scharten unter den Bögen eher Ausnahmen sind. Weitere Beispiele des 14./15. Jahrhunderts findet man auch im rheinischen Teil Hessens (zum Beispiel Eltville, Butzbach [ausnahmsweise stichbogig], Hofheim, Homburg, Neudorf, Nidda, Rüdesheim, Büdingen, Darmstadt, Zwingenberg, Rauschenberg). In Fulda wurden die Bögen erst im 15. Jahrhundert an die weit ältere, gleichzeitig erhöhte und unter den Bögen mit Schlüsselscharten versehene Mauer angebaut.
Abb. 45 Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), die Nordseite der äußeren Mauer nahe dem „Klingentor“ zeigt verschiedene Möglichkeiten, den Wehrgang abzustützen: Kragsteine, Strebepfeiler und Wehrgangbögen.
Abb. 46 Ingolstadt, rekonstruierende Darstellung der äußeren Mauer (1363–90) mit dem über Bögen und Konsolen aus Backstein innen vorgekragten Wehrgang (Kunstdenkmäler Oberbayern, I, 1, 1895).
Am Oberrhein scheinen die Bögen etwas später üblich geworden zu sein. Aus dem späten 13. Jahrhundert findet man sie in Ladenburg und in Speyer, wo sie der älteren Mauer um 1280 in Backstein hinzugefügt wurden. In Worms gehören die Wehrgangbögen erst zur zweiten Erhöhung der Mauer, die ins späte 13. Jahrhundert oder ins 14. Jahrhundert gehört. Auch im 14./15. Jahrhundert findet man noch wichtige Beispiele, so zum Beispiel an der äußeren Mauer von Basel (1361/62–98) oder der Vorstadtmauer von Miltenberg (um 1346); kleinere Beispiele sind Wachenheim (nach 1341), Neckarbischofsheim (um 1356–78) und Kirchheimbolanden, wo es ausnahmsweise zwei Bogenreihen übereinander gibt (nach 1368; Abb. 411). Im 15. Jahrhundert entstanden Mauern mit Wehrgangbögen etwa in Dalsheim (um/nach 1400), (Idar-)Oberstein (nach 1414) und um 1500 in Pfeddersheim und Jockgrim in der Pfalz, in Groß-Winternheim und Nieder-Ingelheim in Rheinhessen.
Auch im süddeutschen Raum sind Wehrgangbögen im Wesentlichen eine Sache des 14./15. Jahrhunderts – mit zwei Ausnahmen. Die älteste ergrabene Mauer von Würzburg, sicher vor 1195/99 erbaut, hatte eng gereihte, massive Strebepfeiler an der Innenseite, die man mit Bögen ergänzen könnte – es wäre die älteste deutsche Mauer mit Wehrgangbögen! Noch vor 1300 (schon 1219–28?) entstand auch die Mauer der reichen Salinenstadt Reichenhall. In Franken sind sonst nur Nürnberg (1346–1407) und eventuell Bayreuth zu erwähnen. Im Alpenvorland kann man Landsberg/Lech nennen (nach 1315[?], teils unvollendete Bögen), ferner die Stadterweiterung von Memmingen (ab 1329[?]); in Donauwörth wurden die Wehrgangbögen ab 1420 der Mauer hinzugefügt, ähnlich in Augsburg der erhöhten Mauer der Kernstadt. In (Alt-) Bayern datieren die wenigen Beispiele noch später – Schrobenhausen (1389–1419, stichbogig), Landshut (15. Jahrhundert) besitzt besonders hohe Wehrgangbögen mit Scharten darunter aus dem 15. Jahrhundert, ferner Dingolfing – und in ganz Österreich konnte ich nur in Stein/Donau und Friesach kurze Mauerabschnitte mit Wehrgangbögen finden. Insgesamt spiegelt also der süddeutsche Raum offensichtlich wider, wie das System der Bögen langsam vom Rhein aus nach Osten vordrang.
Im norddeutschen Raum ist im Grundsatz Entsprechendes festzustellen. In Göttingen findet man rheinisch beeinflusste Wehrgangbögen aus dem mittleren 13. Jahrhundert, ähnlich frühe auch in Gotha und vielleicht Frankenhausen. In Sachsen-Anhalt sind Reste in Halle, Zerbst, Kalbe/Saale und Freyburg/Unstrut erhalten; sie sind nicht näher datierbar (14. Jahrhundert?), nur im letzten Falle wurde als Sonderfall ein Mauerteil um 1540 errichtet. Auch in den südwestlichen, ehemals magdeburgischen Teilen Brandenburgs findet man in Görzke und Jüterbog Mauerteile mit Wehrgangbögen, wohl noch des 13. Jahrhunderts, auf die bald der Weiterbau im Wiekhaussystem folgte. In Sachsen stellte ich Beispiele nur noch in Döbeln (14. Jahrhundert?) und, extrem spät, an der 1541–56 errichteten Mauer von Marienberg fest, wo die tragenden Pfeiler ausnahmsweise trapezoiden Grundriss zeigen. Noch weiter östlich findet man Wehrgangbögen nur an drei Mauern des Ordenslandes, in Kulm (um 1267) und wohl erst im 14. Jahrhundert in Elbing und Marienburg, offenbar in allen Fällen nur an Teilen der Mauer.
Abb. 47 Die Mauergasse verläuft direkt an der Mauer entlang, aber stellenweise lehnen sich auch kleine Bauten an die Mauer. Links: Rothenburg ob der Tauber (Mittelfranken), die Mauergasse hinter der äußeren Mauer des 14. Jahrhunderts, vom Turm des „Rödertores“; rechts: Templin (Brandenburg).