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2.2.4.10. „Wahrzeichentürme“

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Die stärkere formale Ausgestaltung von Stadtmauertürmen im Spätmittelalter – warum diese Formulierung den Sachverhalt besser als Begriffe wie „Schmuck“ oder „Ornamentik“ trifft, wurde schon begründet – fand ihren Höhepunkt in einer Art von Türmen, bei denen die Symbolwirkung wichtiger als die Befestigungsfunktion geworden war. Sie sind seltene Ausnahmen, da solche Aufgaben sonst – wenn man nicht überhaupt auf dergleichen verzichtete – den Toren überlassen blieben (vgl. 2.2.5.). Für diese Art von Türmen gibt es bisher keine Bezeichnung, was durch ihre geringe Anzahl erklärlich ist, aber angesichts ihrer besonderen Bedeutung nicht befriedigt. Da sie meist der einzige Turm ihrer Art in der betreffenden Stadt sind und in der Regel an einer Stelle erbaut wurden, die ein Maximum an Wirkung garantierte, wäre es durchaus begründet, sie als „Stadttürme“ zu bezeichnen. Jedoch ist dieser Begriff schon besetzt: Er meint Türme, die in der Regel in irgendeiner Weise dem Rathaus zugeordnet sind – ein durchaus verwandtes Phänomen, aber eben im Inneren der Stadt, am Sitz der Selbstverwaltung bzw. am Markt als wirtschaftlichem Zentrum. Ich bezeichne die beschriebene Art von Stadtmauertürmen daher als „Wahrzeichentürme“.

Der bekannteste Fall der Wahrzeichentürme sind jene Türme des späteren 14. bis mittleren 15. Jahrhunderts, die in mehreren mittelrheinischen Städten direkt am Flussufer stehen, wo sie den Schiffen weithin sichtbar die Stadt ankündigten und eher nebenbei die Schiffslände vor Angriffen und manchmal auch Eisgang schützten (Oberwesel, „Ochsenturm“, 1356d [Abb. 91]; Köln „Bayenturm“, Aufstockung um 1400; Andernach „Runder Turm“, vor 1452; Rüdesheim, „Adlerturm“, 15. Jahrhundert mit älterem Kern). Charakteristisch ist neben der markanten Standortwahl dieser Türme ihre weit überdurchschnittliche Höhe, in der Regel mit einem schlankeren, runden oder polygonalen Aufsatz, und die Ausstattung mit dem reichen Schmuckapparat der Zeit, also Simsen, Schmuckzinnen, Ziergiebeln, Steindächern mit Krabben usw.; interessanterweise besitzen sie gelegentlich sogar aufwendig eingewölbte Räume, obwohl deren Nutzung durchaus unklar bleibt. Vermutliches Vorbild dieser Turmform waren die im 15. Jahrhundert ergänzten Türme einer Anzahl rheinischer Burgen, der Grafen von Katzenelnbogen und anderer Bauherren, die aber von den städtischen Türmen vor allem in der Detailgestaltung weit übertroffen wurden. Als weiteren, bescheideneren Ausgangspunkt der Form kann man jene ebenfalls rheinseitigen Ecktürme mancher Städte im Schiefergebirge ansehen, die vielleicht stadtherrlichen Amtsträgern wie Zollkontrolleuren zur Wohnung dienten (Kaub, Sankt Goarshausen [Abb. 405], Bacharach, Rhens, Zons).


Abb. 91 Oberwesel (Rheinland-Pfalz), der „Ochsenturm“ ist mit seiner Höhe und reichen Gliederung – dem schlankeren Aufsatz, den über Bogenfriesen vorkragenden Zinnen – eines der besterhaltenen Beispiele von „Wahrzeichentürmen“ in den Mittelrheinstädten (Die Kunstdenkmäler in Rheinland-Pfalz, Tl. 9, Bd. 2, 2: Stadt Oberwesel, 1997).

Ausläufer der mittelrheinischen „Wahrzeichentürme“ findet man auch in anderen Regionen. Zu nennen ist etwa der verschwundene „Neuturm“ (um 1500) an der Ecke einer Vorstadt von Worms und, eindrucksvoll erhalten, der „Spitze Turm“ in Wertheim, der die Taubermündung in den Main markiert (wohl Mitte des 15. Jahrhunderts). Er geht vom Rund ins Achteck über, dann folgt über einem Maßwerkfries die Wehrplatte mit Runderkern an allen acht Ecken, die man sich früher wohl mit Spitzdächern vorstellen muss – ein extrem reiches Bild! Ein weiter entferntes Beispiel ist der bereits wegen seiner Farbgestaltung erwähnte „Gemalte Turm“ (1400–1417; Abb. 85) in Ravensburg, ein vom Rhein weit entfernter Vertreter der Türme mit schlankerem Oberbau.

Dass bei derartigen Wahrzeichentürmen die Funktion im engeren Sinne nicht wichtig war, sondern vielmehr die Wirkung in die Landschaft hinein, zeigt sich schon dort, wo der betreffende Turm, weitab vom ältesten Stadtkern, von Rathaus und Patriziersitzen, die Ecke einer sozial eher nachrangigen Vorstadt einnahm (Oberwesel, Worms, Ravensburg); noch deutlicher wird es in Randfällen, bei denen es sich gar nicht um Mauertürme handelt. So eignete sich etwa in Miltenberg der Torturm der jüngsten Vorstadt zum Wahrzeichen, weil er flussnah steht und sich das Tal hier weit öffnet, sodass der „Spitze Turm“ mit seiner reich gestalteten Wehrplatte viel weiter sichtbar als die anderen Teile der Stadtbefestigung war (Abb. 382). Noch deutlicher ist der Fall des Westturmes der Kirche St. Martin in Oberwesel (1435d; Abb. 92). Die Kirche steht erhöht und daher vom Rhein gut sichtbar hinter der Mauer einer Vorstadt; die übereinandergestaffelten Zinnen des Turmes mögen durchaus genutzt worden sein, aber wichtiger war fraglos das dem Rhein zugewandte Bild, zusammen mit dem älteren „Ochsenturm“ – insgesamt eines der reichsten unter den deutschen Stadtmauern.

Dass es auf die Wirkung ankam, nicht auf die eigentliche Funktion des Turmes, zeigen schließlich einzelne Sonderfälle von Tortürmen, die im 15./16. Jahrhundert eindeutig nicht mehr zu Verteidigungszwecken erbaut wurden, weil sie nämlich aufgrund von vorherigen Stadterweiterungen gar nicht mehr die Stadtgrenze bildeten, sondern bereits im Stadtinneren standen. Diese Entwicklung war angesichts der Häufigkeit von Stadterweiterungen keineswegs selten und man kann sich ohne Weiteres denken, dass Tore der älteren Mauer bei solchen Entwicklungen nicht immer abgerissen wurden – zweifellos der Normalfall –, sondern erhalten blieben, weil sie inzwischen als Ausdruck städtischer Identität empfunden wurden. Das wird in den meisten Fällen Vermutung bleiben müssen, aber es ist dort unverkennbar, wo der nutzlos gewordene Torturm sogar ganz neu gebaut wurde. Das beste Beispiel bot hier München; der „Schöne Turm“ wurde 1479 anstelle eines Torturmes der ältesten Mauer aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtet, der schon seit der Erbauung der äußeren Mauer ab 1315/19 im Stadtinneren lag (Abb. 93). Der aufwendig bemalte Neubau entsprach seinem Namen, er besaß polygonale Ecktürme mit Blendengliederung, Stockwerkgesimse und innen Kreuzrippengewölbe in allen sechs Geschossen. An einen anderen Torturm derselben Ummauerung, das „Talburgtor“, wurde später das gotische Rathaus angebaut – die Baugruppe entstand 1971/72 neu – und durch diese Doppelfunktion wird besonders anschaulich, wie eng verwandt die zu den Rathäusern gehörigen „Stadttürme“ etwa des niederländisch-flandrischen oder auch des norditalienischen Raumes mit solchen „Wahrzeichentürmen“ waren. Als weitere Beispiele von Tortürmen, die bereits im Inneren der Stadt wahrzeichenhaft neu gestaltet wurden, seien mehrere verschwundene Türme in Augsburg, das Überlinger „Franziskanertor“ (1494 mit baldigem Umbau) und der „Siegelturm“ im schweizerischen Diessenhofen (1545/46) genannt; der „Zwölferturm“ in Sterzing war immer noch der brennerseitige Torturm, als er 1468 sehr hoch mit Maßwerkfenstern und Treppengiebel zum nicht mehr wehrhaften Symbol der Stadt verändert wurde (Abb. 299). Es ist vielleicht kein Zufall, dass all diese Beispiele aus dem Süden des deutschen Sprachgebietes stammen, also aus der Nähe Italiens. Die späteren Beispiele dieser Entwicklung, aus nachmittelalterlicher Zeit, werden unten noch besonders angesprochen (vgl. 2.2.5.10)


Abb. 92 Oberwesel (Rheinland-Pfalz), der Turm der Pfarrkirche St. Martin (1435d) stand direkt hinter einer gefährdeten Partie der Stadtmauer und ist symbolhaft mit Wehrbauelementen ausgestattet (vgl. Abb. 194).


Abb. 93 München, der „Schöne Turm“ entstand 1479 als Nachfolger eines Tores der inneren Stadtmauer. Längst im Stadtinneren stehend, war er kein Wehrbau, sondern städtisches Symbol, wie u.a. die reiche Bemalung unterstrich. Die Spitzdächer waren auf diesem Stich (1805) schon entfernt; der Turm wurde zwei Jahre später abgerissen.

Am entgegengesetzten Ende des deutschen Raumes, aus Pommern und der angrenzenden Neumark, sind ähnlich aufwendig gestaltete Mauertürme aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert bekannt, insbesondere solche von besonderer Höhe, bei denen ein schlanker, runder oder polygonaler Aufsatz auf einen gleichfalls schon recht hohen quadratischen oder rechteckigen Sockel aufgesetzt ist, von Schmuck durch Formsteine, Blenden usw. ganz abgesehen (Pasewalk, Stargard, Pyritz, Cammin, Gartz, Friedeberg; Abb. 516, 517). Diese Türme wirken jedoch weitaus weniger wahrzeichenhaft als bei den schon genannten Beispielen, und zwar nicht nur deswegen, weil sie nicht an breiten Flüssen und nicht einmal an besonders exponierten Stellen stehen. Vielmehr besaßen zumindest größere Städte der Region auch Tortürme vergleichbarer Formgebung, wodurch die Wirkung der Mauertürme relativiert wurde. Die besonderen Turmformen waren in dieser Zeit und Region also Varianten einer besonders reichen, backsteingotischen Gestaltung, die nicht nur mehrere Türme und Tore in einer Stadt, sondern darüber hinaus auch etwa Kirchen, Rathäuser und Patrizierhäuser erfasste. „Wahrzeichen“ städtischen Reichtums und Stolzes war hier eher das Stadtbild in seiner Gesamtheit, nicht ein einzelner Turm.

Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum

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