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Kurz gesagt: Kurt wanderte in Zwangsjacke und Gummizelle. Als Zehnjähriger, der seinem Vater zuerst im Traum beim Sterben zugesehen hatte und wenige Wochen später von seinem tatsächlichen Tod erfuhr.

Die meisten Menschen sind verrückt - oder sie werden es.

Kurt langweilte sich nicht in der Zelle. Die unauflösbare Stille zauberte Phantome in sein hilfloses Gehirn; die kahlen, weißen, gepolsterten Wände fühlten sich gleichzeitig so warm und doch so kalt an; die Jacke, die es ihm verbot, sich an juckenden Stellen zu kratzen, die aber so verzweifelt danach schrien, gekratzt zu werden: Stirn, Hals, Arme, Schenkel. Alle schrien sie stundenlang vergeblich.

Das kann einen normalen Menschen in den Wahnsinn treiben - und Kurt war alles andere als normal, findet ihr nicht?

Zuerst fürchtete er sich schrecklich, da er eine solche Behandlung noch nie erfahren hatte, dann schwankte die Angst durch die ihm verabreichten Mittel schnell in benommene Gleichgültigkeit um. Er konnte das Blut in seinem Kopf pochen hören, wie der Trommelschlag eines Sklaventreibers.

Er war ums Tausendfache sensibler auf seine Umwelt geworden, als er es vorher ohnehin bereits gewesen war - und was ihm obendrein noch erst die Probleme verschafft hatte, in denen er jetzt steckte. Die Lautstärke der Geräusche, die wirklich auf ihn ein hallten und nicht nur als Echos in seinem Kopf zirkulierten, hatten sich ebenfalls um das Tausendfache verstärkt.

Das rostige Kratzen des Schlitzes in der Tür, wenn ihm sein Essen gebracht wurde. Das helle Klimpern der zahlreichen Schlüssel auf dem Bund der Wärter, die Tag für Tag gelangweilt während ihrer Aufsichtsrunden durch die Gänge schlurften. Das alte, schrille Scheppern und Klirren des uralten, furchterregenden Rollstuhls, in dem er zu Therapien und Untersuchungen gebracht wurde; er bekam jedes Mal Gänsehaut von den metallenen Armlehnen des Rollstuhls, die ungepolstert und hart waren und sich jeden Tag kälter anfühlten. Der Rollstuhl stank, als wäre jemand darin gestorben. Wahrscheinlich stimmte das sogar.

Kurt konnte nicht genau bestimmen, wie viel Zeit er in der Gummizelle verbrachte – Stunden, Wochen, Monate? -, doch irgendwann kam seine Mutter ihn abholen. Genau so benommen, wie er. Sie war süchtig nach Schmerzmitteln, schon seit Jahren. Kurt hatte das nie bemerkt. Bis jetzt.

Eine Woche war er dort in der Zelle allein mit sich selbst und der Stille gewesen. Seine Gefühle in Bezug auf seine Familie waren wie fortgeblasen. Weit weg. Dumpf. Unscharf. Ohne Belang.

Letztendlich wurde Kurt wieder in die Schule eingegliedert und war durch die Gerüchte, er habe einen Lehrer verprügelt, wäre in der Klapsmühle gelandet und wieder ausgebrochen, populärer als je zuvor. Nun war er nicht mehr nur der Schultrottel, sondern der Schulfreak.

Kurts größtes, gegenwärtiges Problem war, dass mit Dad (und kurz darauf Paul) seine Beschützer vor den blutgeilen Mitschülern verschwunden waren. Nun hatte er niemanden mehr, der ihm die gelangweilten, zukunftslosen Schulschläger vom meist ungewaschenen Hals hielt.

Also landete dieser Hals mitsamt zugehörigem Kopf beinahe täglich in einer der Schultoiletten, so wie sein Schulgeld in den Taschen der Größeren landete. Natürlich war er viel zu schwach, um auch nur an Gegenwehr zu denken. Die Sprüche dieser Burschen waren oft so lahm und einfallslos, dass oft nicht mal mehr ihre Kumpanen darüber lachten. Doch jeder Satz schmerzte, abgesehen von den gelegentlichen blauen Flecken.

Allerdings musste man sagen, dass sich mittlerweile weniger Kinder an ihn herantrauten, da sie plötzlich Angst vor ihm zu haben schienen. Oder zumindest vor seinem Image.

Kurts nächste Jahre könnte man wie den zweiten Akt eines Kinofilms beschreiben: die Story blieb die Gleiche wie zuvor, manche Charaktere verschwanden, neue würden dazu kommen, aber vor allem wurde alles extremer, um die Zuseher bei Laune zu halten; und genau das sollte wenige Wochen später mit dem armen, unschuldigen, dummen, hyper-sensiblen Kurt geschehen.


Das Blut der Auserwählten

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