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Ereignis und Erzählung
ОглавлениеIm Leben eines jeden Menschen spielen selbst erlebte oder medial vermittelte Ereignisse eine wichtige Rolle. Die als ,bedeutend‘ empfundenen Ereignisse werden vom Einzelnen verarbeitet, in dem dieser sie in seine sprachlich erworbenen Denk- und Erzählmuster einfügt. Diese Muster entsprechen in hohem Maße denen, die im jeweiligen sozialen und kulturellen Umfeld Verwendung finden. Solche Erzählmuster (Klischees, Stereotypen) erleichtern den Austausch von Erzählungen zwischen den Mitgliedern von Erzählgemeinschaften (Familie, Freundeskreise etc.). Und sie vereinfachen das Speichern von wissenswerten Dingen im Gedächtnis. Wenn wir Wirklichkeit wahrnehmen, deuten und schließlich erinnern, so die Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll, „greifen wir auf kulturspezifische Schemata zurück, d.h. auf innerhalb von Kollektiven (Familien und anderen Gruppen, Gesellschaften usw.) standardisierte mentale Wissensstrukturen, die bestimmte Aspekte der Realität in abstrakter und generalisierender Form repräsentieren“ (Erll 2008, 12f.). Die wichtigen erlebten oder medial vermittelten Ereignisse werden im Verlauf des Lebens durch Erinnerung zu Merkposten der jeweiligen Lebensgeschichte.
Auch das kollektive Gedächtnis speichert Ereignisse ab, die von sozialen Gruppen wahrgenommen und für wichtig erachtet werden. Wahrgenommen werden sie vor allem in den Massenmedien, und zwar meist als Nachrichtenerzählungen, die tagtäglich die wichtigsten Ereignisse des Weltgeschehens vermitteln. Um diese aktuellen Geschehnisse des öffentlichen Lebens aufzuzeichnen und audiovisuell bereitzustellen, sind weltweit tausende Reporter und Kameraleute im Auftrag von Nachrichtenredaktionen und -sendern zu den Schauplätzen des [15]Geschehens unterwegs, um von dort zu berichten. Heutzutage treffen die Nachrichtenprofis dort natürlich auch auf zahlreiche Foto- und Videoamateure, die die Geschehnisse mit ihren Camcordern oder Handys festhalten. So entstehen ‚vor Ort‘ audiovisuelle Erzählungen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven und für ganz unterschiedliche Personengruppen, die je nach Nachrichtenwert entweder wieder gelöscht werden, als unterhaltsame buzz feed im Internet kursieren oder als breaking news die Nachrichtensendungen beherrschen.
BREAKING NEWS – ANSCHLAG AUF DAS WORLD TRADE CENTER (USA 2001)
Am 11. September 2001 sind die Brüder Jules und Gedeon Naudet mit ihrem Kamerateam in New York unterwegs. Sie drehen eine Alltagsreportage über eine Feuerwache. Bis zum 11. September war nichts Aufregendes passiert und auch an diesem Tag erwartet niemand etwas Besonderes. Die Männer von der Feuerwache brechen zu einem Routineeinsatz auf, aus irgendeinem Kanaldeckel in der Nähe des World Trade Centers (WTC) war Gas ausgetreten. Die Kameras der Brüder Naudet beobachten, wie die Männer unschlüssig um den Gullydeckel herumstehen und überlegen, was sie machen sollen. In diese Allerweltszene hinein dringt das Geräusch eines niedrig fliegenden Passagierjets. Der Lärm der Triebwerke nimmt zu und plötzlich, wie um sich zu orientieren und diesem Geräusch auf die Spur zu kommen, schwenkt die Kamera hoch und erfasst das Flugzeug. Sie folgt ihm, wie es durch die Häuserschluchten fliegt und sich dann beim Einschlag in das World Trade Center in einen Feuerball verwandelt. Auf den Gesichtern der Beobachter zeichnet sich erst ungläubiges Erstaunen, dann Entsetzen ab. Noch kann niemand von ihnen begreifen, was genau geschehen ist, doch jeder weiß, dass der Einschlag der Flugzeuge ein katastrophales Ereignis ist, das das Land verändern wird …
So oder so ähnlich könnte eine Erzählung beginnen, die von den Schreckensereignissen des 11. September 2001 in New York erzählt. Ein Leser, der sich nicht nur für den Inhalt und Verlauf der Ereignisse interessiert, sondern auch für das Erzählen selbst, wird bemerken, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Erzählung, die er gerade liest, und dem Ereignis, das ihr zugrunde liegt. Dieser Unterschied wird in vielen alltäglichen Erzählsituationen erfahrbar, wenn jemand ankündigt, „ich erzähle dir jetzt mal, was passiert ist.“ Der Erzähler unterscheidet nämlich dabei zwischen seiner Erzählung, die gleich folgen wird („Ich erzähle Dir jetzt mal,…“) und einem ‚Ereignis‘, das sich in der unmittelbaren oder früheren Vergangenheit ereignet hat („… was passiert ist“) und das Ausgangspunkt der Erzählung ist. Die Unterscheidung markiert einen fundamentalen Sachverhalt: Tatsächliche Ereignisse sind Unikate, die es nur einmal gibt. Sie haben ihre Zeit, ihren Ort, ihre Akteure und Abläufe, sind aber zum Zeitpunkt ihres Geschehens noch nicht erzählbar. Erst durch die Fähigkeit der Menschen, [16]sichtbare und hörbare Geschehensabläufe aus der sie umgebenden Welt mit den Sinnen zu erfassen (Wahrnehmung), sprachlich zu benennen (Codierung, Formung) und zu erzählen (Vermittlung), wird die Welt meist amorpher sprachloser Geschehnisse zu einer erzählten Welt. In dieser erzählten Welt werden die als ,wichtig‘ eingestuften Ereignisse als bedeutsame Zustandsänderungen im raumzeitlichen Ablauf des Weltgeschehens dargestellt (Mauerfall, 9/11, Brexit). Sie markieren einen Unterschied zwischen einem Zustand ‚davor‘ und einem ‚danach‘, haben einen Anfang und ein Ende. Dennoch kann es von einem einzigartigen tatsächlichen Ereignis zahlreiche verschiedene Erzählungen geben, abhängig davon, wie viele Erzähler sich des Ereignisses im Laufe der Zeit annehmen und von welchem Standpunkt aus sie erzählen.
So war es auch am 11. September 2001, als die Kameraleute der Brüder Naudet zufällig Zeugen des Einschlags der Flugzeuge in die Twin Towers wurden. Damals dauerte es nicht lange, bis auch die kommerziellen News-Sender mit ihren Übertragungswagen (Ü-Wagen, ausgestattet mit Aufzeichnungs-, Schnitt- und Sendetechnik) vor Ort waren. Sie richteten ihre Kamera(s) auf die Twin Towers und ihre Antennen auf den Satelliten aus und sendeten die Bilder live als ‚cleanfeed‘ (unbearbeitet) an ihre Fernsehstationen. Dort wurde der große Nachrichtenwert der Bilder sofort erkannt und entschieden, das laufende Programm sogleich zu ändern und die Bilder vom Geschehen als ‚breaking news‘ mit maximaler Reichweite zu verbreiten. Als die Bilder öffentlich wurden, wollten weltweit auch viele andere Fernsehsender das Live-Signal übernehmen, aber es gab die üblichen rechtlichen, technischen und redaktionelle Probleme: Nachrichtenteams mussten zusammengerufen, die Leitungen angemietet und geschaltet, die Studios besorgt und hochgefahren, die Lizenzkosten für Bilder ausgehandelt werden – alles Dinge, die einige Zeit brauchen. Auch bei deutschen Fernsehsendern gab es Schwierigkeiten. Als man dort über die Live-Bilder verfügte, mussten die Nachrichtensprecher aus ihren 6000 km entfernten Studios einen ‚livestream‘ von schockierenden Bildern kommentieren, zu denen die Hintergrundinformationen noch weitgehend fehlten.