Читать книгу Geschichte in Film und Fernsehen - Thomas Fischer - Страница 9
Оглавление[13]2 Audiovisuelles Erzählen
Die Welt steckt voller Erzählungen. Wir lesen und hören, wir verbreiten und erhalten Tag für Tag Erzählungen, die von gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen handeln. Als gesellschaftliche Wesen brauchen wir nicht nur Erzählungen, sondern definieren wir uns auch über sie. Erzählen ist ein Lebenselixier, eine ständige Kräftigung und Verjüngung von familiären, sozialen oder nationalen Gemeinschaften. Erzählungen führen zwei Perspektiven zusammen, die des Erzählers und die des Zuhörers. Dieses Zusammenspiel ist unabdingbar für das Erzählen: Jede Erzählung entsteht, nimmt sprachliche Gestalt an, entwickelt Spannung und Tempo einzig und allein in Hinblick auf einen tatsächlichen oder imaginären Zuhörer. Und umgekehrt: jeder Mensch hört auf die Stimmen in seiner Umgebung, seien sie natürlichen Ursprungs (Familie) oder technischen Ursprungs (Massenmedien) in der steten Erwartung, es könne sich eine Erzählung entwickeln. Wenn etwas erzählt wird, geht es meistens um die Gegenwart, um das Hier und Heute. Neuigkeiten werden gehandelt, die all das enthalten, was uns Menschen persönlich gerade interessiert und aufregt und was wir gerne an andere weitererzählen. Dazu gehört neben dem alltäglichen Tratsch und Klatsch auch das, was an Besonderem in der Welt passiert, das, was die Nachrichten erzählen. Das ist nicht nur heute so, sondern gilt auch für die Vergangenheit. Bevor wir aber die audiovisuellen Geschichtserzählungen untersuchen, wollen wir uns in diesem Kapitel mit den audiovisuellen Nachrichtenerzählungen der Gegenwart befassen. Das hat zwei Gründe: Zum einen enthalten die Nachrichtenerzählungen bereits all jene grundlegenden Aspekte und Probleme, die auch bei den Geschichtserzählungen wieder auftauchen werden. Zum anderen liefern die Nachrichtenerzählungen den Grundstock für die meisten Geschichtserzählungen: Viele Ereignisse, von denen die Nachrichten heute erzählen, werden Jahre oder Jahrzehnte später in Geschichtserzählungen erneut zum Thema werden.
Audiovisuelle Erzählungen gibt es erst seit knapp 100 Jahren. Sie setzen technische Medien voraus, die Bilder und Töne synchron aufzeichnen, speichern, verarbeiten und verbreiten können. Das begann Ende der 1920er Jahre mit dem Tonfilm, der im Kino als audiovisuelle Erzählung ‚lebendig‘ wurde. Heute sind es meist die digitalen Camcorder, die im Profi- und Amateurbereich zum Einsatz kommen und die Ereignisse nicht nur audiovisuell aufzeichnen, sondern auch direkt wiedergeben können. Bei den alten wie auch den neuen AV-Medien [14]befinden sich Bild und Ton auf unterschiedlichen, voneinander getrennten Ebenen (Spuren). Die visuelle Ebene speichert alle Bildquellen der sichtbaren Welt, zum Beispiel Landschaften oder Personen, aber auch Fotos, Texte, Grafiken. Die auditive Ebene speichert alle Tonquellen der hörbaren Welt, zum Beispiel Geräusche, Stimmen, Musik. Handelt es sich um Aufnahmen von professionellen Fernsehteams, dann werden diese durch Bild- und Tonprotokolle dokumentiert (Tag, Uhrzeit und Ort der Aufnahme; bei Interviews auch Namen der interviewten Person). Damit wird die Tatsächlichkeit des gefilmten audiovisuellen Ereignisses belegt. Genannt wird auch der Name des Kameramanns, weil er für die (technische) Bildqualität, die Einstellungen, die Perspektiven verantwortlich zeichnet und den Bildern seine ‚Handschrift‘ gibt. Da die filmischen Nachrichtenerzählungen der Gegenwart der Stoff für zukünftige Geschichtserzählungen sind, behalten auch die Bild- und Tonprotokolle ihre Bedeutung. Sie dienen dazu, das in Geschichtsdokumentationen verwendete Archivmaterial als authentisch zu deklarieren (→ Kap. 2.3.2).