Читать книгу Geschichte in Film und Fernsehen - Thomas Fischer - Страница 12
Erzählung
ОглавлениеKatastrophen, die die Normalität der Alltagswelt aus den Angeln heben und zu einem verzweifelten Überlebenskampf der betroffenen Opfer sowie zu dramatischen Rettungsaktionen der herbeieilenden Helfer führen, finden sich zu allen Zeiten und sind, gerade wegen ihrer Dramatik, häufig Erzählinhalt von Kinofilmen und Fernsehdokumentationen. Vor allem das Erzählschema der Spielfilme wiederholt sich dabei meist stereotyp: Am Anfang der Erzählung steht ein Schreckensereignis, das einen bestehenden Zustand radikal verändert und bestimmte Personen oder Personengruppen zum Handeln zwingt. Sie müssen gegen die Katastrophe ankämpfen. Einzelne Akteure (z.B. Polizisten, Ärzte, Forscher) treten [18]dabei in den Vordergrund und nehmen entscheidenden Einfluss auf das Handlungsgeschehen. Die Helfer sind bemüht, in einem Wettlauf gegen die Zeit möglichst viele Menschen zu retten und das katastrophale Geschehen schnell zu beenden. Dennoch können sie nicht verhindern, dass viele Menschen der Katastrophe zum Opfer fallen. Bei solchen oft als Actionfilm inszenierten Ereignissen rücken ‚Erzählzeit‘ (Zeit der Erzählung) und ‚erzählte Zeit‘ (Zeit des Ereignisses) eng zusammen, weil der Kampf gegen die (ablaufende) Zeit die Handlung strukturiert. Ein Katastrophenfilm lässt sich natürlich auch aus der Opferperspektive erzählen. Dies versucht anlässlich von 9/11 beispielsweise der Film „Extrem laut und unglaublich nah“ (USA 2011). Aber auch dort gibt es Protagonisten, Antagonisten und weitere Handlungsfiguren sowie innere und zwischenmenschliche Konflikte, die die Handlung vorantreiben und das Ende der Erzählung bestimmen. Das sich in vielen Katastrophenfilmen wiederholende Erzählschema verweist wiederum auf die raumzeitliche Struktur der Ereignisabläufe selbst, die sich nicht nur in den Erzählungen wiederfindet, sondern auch schon den tatsächlichen Geschehnissen innewohnt, auf die sich die Erzählungen beziehen. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass es bei Geschehensabläufen, Ereignissen und Erzählungen immer um dasselbe geht, um handelnde Akteure in Zeit und Raum oder, etwas erzählerischer formuliert, um konkrete Menschen, die zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Schauplätzen handeln müssen, weil ein Ereignis ihren Lebensalltag destabilisiert hat und sie zwingt, die Stabilität auf neuer Grundlage wieder herzustellen.
9/11 zeigt schließlich auch, dass es Ereignisse gibt, die einen nur kurzen Zeitablauf haben – die Flugzeuge trafen die New Yorker Türme innerhalb von Sekundenbruchteilen – und dass es Ereignisse mit längerem Zeitablauf gibt: das WTC Building 7 stürzte nach achteinhalb Stunden in sich zusammen. Zur gleichen Zeit lösten diese Ereignisse eine Kaskade neuer Ereignisse aus (Domino-Effekt). Schon kurz nach dem Angriff wurde der Präsident der Vereinigten Staaten an einen sicheren Ort gebracht, wo ihm die Gesamtlage vorgetragen wurde. Nicht nur das WTC, sondern auch das Pentagon war mit einem Flugzeug angegriffen worden, und ein weiteres Angriffsflugzeug war abgestürzt und hatte viele Unschuldige in den Tod gerissen. Der Präsident sah darin einen Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Dem Angriff folgte eine Kriegserklärung an die für den Angriff Verantwortlichen. Der Terrorist Osama Bin Laden wurde zum Antagonisten (Anführer der ‚Bösen‘) erklärt, ihm standen George W. Bush als Protagonist (Anführer der ‚Guten‘) und seine Helfer gegenüber. Mit dem ‚Krieg gegen den Terror‘ begann ein neues Ereignis mit weltweiten Auswirkungen. In diesem Großereignis fanden zwar Teilereignisse ihren Abschluss (Tod Saddam Husseins, Tod Osama bin Ladens u.a.), der Abschluss des Gesamtereignisses (‚Krieg gegen der Terror‘) selbst steht aber noch aus und wird vielleicht nie erfolgen, da Terror vermutlich immer wieder auftritt. Viele Teilereignisse dieses Kampfes sind auch [19]bereits Gegenstand von Filmen geworden – „Von Löwen und Lämmern“ (USA 2007), „Essential Killing“ (HU/IE/NO/PL 2010), „Zero Dark Thirty“ (USA 2012), „Blackwater“ (USA 2015) und andere – das Gesamtereignis wird filmisch aber wohl kaum jemals erzählt werden können, da die filmische Erzählzeit stets nur auf wenige Stunden begrenzt ist.