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Darstellen versus Erzählen – Szenische gegen dokumentarische Geschichtsfilme?
ОглавлениеNeben der szenischen Darstellung von Geschichte steht der dokumentarische Geschichtsfilm.
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Szenische Darstellung und verbales Erzählen
Die Unterscheidung von szenischer Darstellung (Mimesis) und verbalem Erzählen (Diegese) ist Teil einer lang anhaltenden erzähltheoretischen Debatte, die in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm und teilweise bis heute andauert (näheres bei Bietz 2013, 38ff.). Dabei ging es zunächst um den Unterschied zwischen visueller Weltdarstellung im Film und literarischer Weltdarstellung im Roman, also um die Verwendung unterschiedlicher Zeichensysteme: Der Film verwendet Bild-Zeichen, die Lebenswelten sichtbar machen, die sprachliche Erzählung benutzt dagegen Wort-Zeichen, die Lebenswelten repräsentieren. Setzt man die Bild-Zeichen zu bewegten Bildern zusammen, entstehen ‚lebendige‘ Szenen, die z.B. konkrete Menschen an konkreten Schauplätzen zeigen. Die raumzeitlichen Bild-Zeichen des Films stehen also in einem engen optischen Bezug zur raumzeitlich verfassten tatsächlichen Welt. Ein im Film-Bild sichtbares Hochhaus zum Beispiel hat im Prinzip dasselbe Aussehen wie ein Hochhaus, das außerhalb der filmischen Welt, etwa in einer Stadt, zu sehen ist. Demgegenüber ist ein in einer Erzählung auftauchendes Hochhaus kein konkretes Bild-Zeichen, sondern ein abstraktes Wort-Zeichen. Das H-o-c-h-h-a-u-s in der Erzählung hat keinerlei optische Ähnlichkeit mit dem Hochhaus in einer Straßenschlucht. Das Wort H-o-c-h-h-a-u-s macht dieses nicht sichtbar, sondern nur lesbar, es bildet dies nicht ab, sondern es benennt es. Der Leser macht dann dieses Schrift-Zeichen wieder ‚sichtbar‘, indem er ihm ein passendes Bild-Zeichen zuordnet.
Es waren vor allem die Filmwissenschaftler, die aus zeichentheoretischen Gründen die filmische Visualisierung der literarischen Erzählung gegenüberstellten. Unmittelbares Darstellen von Lebenswelten im Film (Mimesis) stand gegen mittelbares Erzählen von Lebenswelten im literarischen Text (Diegese). Es zeigt sich aber, dass auch im Film selbst ein Gegensatz zwischen unmittelbarer Darstellung und mittelbarer Erzählung existiert. Denn sowohl der Spielfilm als auch die Dokumentation konstruieren zwar audiovisuelle Welten, doch unterscheiden sie sich in den Erzählmodi. Der szenische Geschichtsfilm ist bemüht, ohne einen verbalen Erzähler auszukommen, der dokumentarische Geschichtsfilm benötigt ihn dagegen dringend. Aber dieser Unterschied besteht nur graduell. Das Doku-DramaDoku-Drama ist eine hybride audiovisuelle ErzählformHybride Erzählformen, bei der dramatische Lebenssituationen historischer Personen (meist) der Zeitgeschichte in einer ausgewogenen Mischung aus szenischem Spiel und dokumentarischer Darstellung vergegenwärtigt werden.Denn es gibt durchaus szenische Geschichtsfilme, in denen ein (außerfilmischer) verbaler Erzähler eine wichtige Rolle spielt, während es umgekehrt dokumentarische Geschichtsfilme gibt, in denen der verbale ErzählerVerbaler Erzähler sehr zurückhaltend agiert und stattdessen leibhaftige Erzähler aus der tatsächlichen Gegenwartswelt die Geschichte vorantreiben. Beide Formen können also dicht aneinander heranrücken oder sogar miteinander verschmelzen, wie das Doku-DramaDoku-Drama zeigt, bei dem showing und telling ineinander übergehen. Verbales [28]Erzählen ist also bei genauer Betrachtung ein Mittelding zwischen filmischem und literarischem Erzählen, weil es einerseits ‚Worte‘ benutzt und insofern sprachliche und nicht visuelle Zeichen verwendet, andererseits folgt es aber dem Prinzip der Mündlichkeit, ist ein stimmsprachliches, hörbares und kein literarisches, buchstäbliches Erzählen. Das stimmsprachliche Erzählen ist seit der Erfindung des Tonfilms aber ein ganz selbstverständlicher Teil des audiovisuellen filmischen Erzählens. Allerdings ist trotz mancher Gemeinsamkeiten und Überlappungen beim szenischen und dokumentarischen Geschichtsfilm doch festzuhalten, dass der dokumentarische Film in der Regel dem telling und der szenische Film dem showing näher steht.
Eine Sonderrolle spielt der klassische ‚Dokumentarfilm‘, der meist Spielfilmlänge hat und Menschen bzw. Ereignisse der gegenwärtigen tatsächlichen Welt zeigt, ohne dass dabei ein verbaler ErzählerVerbaler Erzähler zu Wort kommt. Wie der Spielfilm, so erzählt sich also auch der klassische Dokumentarfilm scheinbar selbst. Es gibt allerdings auch einige Ausnahmen, insbesondere wenn es im Dokumentarfilm um historische Themen geht. Dann setzen auch viele Dokumentarfilmer auf einen verbalen Erzähler, der die historischen Zusammenhänge verdeutlicht.
Beginnen wir mit einem Beispiel, dem Doku-DramaDoku-Drama „Flick“ (Arte/ARD 2010) (Abb. 1), und betrachten wir zunächst den Anfang des Films: Bild und Ton blenden auf: Auf der visuellen Ebene erscheinen seltene Archivbilder eines Mannes aus dem Jahr 1969, Filmaufnahmen des 86-jährigen Großindustriellen Friedrich Flick, der allein auf der Konstanzer Seestraße spazieren geht. Die Trickkamera springt in einer Montage an die Archivaufnahmen (Fotos und Filme) heran, zeigt den Protagonisten in Großaufnahme, entfernt sich wieder, kommt erneut näher usw. Es entsteht ein ‚verwackeltes‘, sprunghaftes Bild von Flick. Auf der auditiven Ebene beginnt der Film mit Musik, die sich dem SchnittSchnittrhythmus anpasst, und auf die das Voice-OverVoice-Over eines verbalen Erzählers geblendet wird. Er ist kein innerfilmischer Erzähler, sondern ein unsichtbarer außerfilmischer Erzähler. Er beginnt seine Erzählung mit der Nennung von Ort, Zeit und Person und authentifiziert so das Archivmaterial auf der visuellen Ebene: „Konstanz 1969. Seltene Aufnahmen von einem der umstrittensten Männer Deutschlands. Friedrich Flick, Unternehmer und Multimilliardär.“ Das Voice-OverVoice-Over verstärkt das unstete Bildergemisch durch den Hinweis, dass Flick einer der „umstrittensten“ Männer Deutschlands sei. Diese Divergenz unterstreichen mehrere knappe Statements von ZeitzeugenZeitzeugen und Flick-Forschern in Bild und Ton: „Er war ein Genie“ (Otto Kaletsch, Patensohn Flicks), „Das war ein brillanter Kenner, ein unglaublich fleißiger Mann“ (Eberhart von Brauchitsch, Generalbevollmächtigter Flicks), „Friedrich Flick ist sicherlich eine Ausnahmegestalt“ (Norbert Frei, Historiker), „Er war ein großer Manipulator“ (Tim Schanetzky, Historiker), „Man traute ihm eigentlich alles zu“ (Johannes Bähr, Historiker). Im Anschluss an die Statements folgt ein Bild-Ton-SchnittSchnitt in zeitlich noch weiter zurückführendes Archivmaterial: [29]Bilder der US-Wochenschau von 1946 zeigen Flick als Angeklagten vor dem Nürnberger Militärtribunal. Der Richter fragt ihn: „Friedrich Flick, how do you plead to this indictment? Guilty or not guilty?“ Flick antwortet: „Ich bin unschuldig.“ Auf ein grafisch gestaltetes Foto von Flick wird der Filmtitel geblendet: „Flick. Der Aufstieg.“
Abb. 1 DVD-Cover des Doku-Dramas „Flick“ (Arte/ARD 2010).
Der Film „Flick“ fokussiert von Beginn an den Protagonisten. Die visuelle Ebene zeigt ihn am selben Ort in unterschiedlichen Einstellungen. Die Bilder verstehen sich aber nicht von selbst, da weder Ort, Zeit noch Person den meisten Zuschauern gegenwärtig sind. Die Bildebene benötigt einen verbalen Erzähler, der den Bildinhalt erklärt. Der Voice-Over-Erzähler versteht sich dabei als ein populärer Erzähler, er geht nicht auf Distanz zu den Bildern, sondern baut mit ihnen erzählerische Spannung auf. Die Spannung wird durch die widersprüchlichen Statements von ausgewiesenen Flick-Kennern verstärkt und erreicht mit Flicks Auftritt vor dem Nürnberger Tribunal ihren Höhepunkt. Flick, als Kriegsverbrecher angeklagt, erklärt sich für „unschuldig“ – eine Selbsteinschätzung, die er, so lässt der Filmanfang vermuten, offensichtlich bis zu seinem Lebensende beibehält. Die unausgesprochene Botschaft des verbalen Erzählers an das Publikum lautet: Dieser Friedrich Flick ist eine tatsächliche historische Person, ein interessanter, umstrittener Mann, dessen audiovisuell erzählte Geschichte sich anzusehen lohnt (Flick 2010, Teil 1, TC: 00:11–01:05).