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Tatsächliche Geschichte und szenisch erzählte Geschichte
ОглавлениеDer szenische Geschichtsfilm hebt die zeitliche Distanz zwischen Ereignis und Erzählung auf, lässt Ereignis und Erzählung zusammenfallen: Die Vergangenheit ereignet sich als filmische Gegenwart. Eine historische Lebenswelt erscheint auf der Leinwand, in der auch Dinge sichtbar werden, die mit Quellen nicht zu belegen sind (wie z.B. Mimik und Gestik der handelnden Personen, ihre Positionierung und Bewegung im Raum etc.) und die in jeder geschichtswissenschaftlichen Darstellung eine Blackbox sind. Durch die Visualisierung des Unbekannten wird die erzählte Welt bestenfalls zu einer von vielen möglichen Welten, die plausibel, aber nicht belegbar sind (zur „Theorie der möglichen Welten“ siehe [26]Bietz 2013, 182ff.). Die meisten szenischen Geschichtsfilme legen es aber auch gar nicht darauf an, Geschichte durchgängig faktengetreu zu erzählen. Sie nutzen im Gegenteil die Gelegenheit, in ihre erzählte historische Welt auch Personen und Ereignisse einzubauen, die in der tatsächlichen Welt keine Entsprechung haben. Es entstehen so fiktive Ereignisse mit fiktiven (oder auch historischen) Personen, Schauplätzen und Handlungsabläufen, wie beispielsweise im Film „Die Himmelsleiter“. Wenn sich die Erzählung dabei an die Gesetze der Logik und Kausalität hält, die Personen plausibel agieren und die Ereignisabläufe konzise erzählt werden, können auch fiktive Personen und Ereignisse glaubwürdig sein und als historisch mögliche Ereignisse auf Akzeptanz beim Publikum stoßen. Zumal dann, wenn der Erzähler, wie im Film „Die Himmelsleiter“, immer wieder verbal, durch Texteinblendungen oder dokumentarische Bilder und Töne darauf hinweist, dass seiner Erzählung tatsächliche Begebenheiten zugrunde liegen. Allerdings erweisen sich manche erzählerischen Legitimationsstrategien, der erzählten Geschichte historische Glaubwürdigkeit zuzusprechen, als erzählerische Tricks. So spricht beispielsweise am Beginn des Films „Die Himmelsleiter“ die Protagonistin aus dem Off zum Publikum und behauptet, dass ‚ihre‘ Erzählung von der im Film sichtbaren Stadt ‚Köln‘ und den dort lebenden Menschen das tatsächliche Köln des Jahres 1947 zeige. Doch dies bleibt bei näherem Hinsehen eine leere Behauptung, denn die Protagonistin ist selbst gar keine historisch belegte Person aus dem tatsächlichen Köln des Jahres 1947, sondern eine rein fiktive Person, die nur im erzählten Köln zu Hause ist. Dessen ungeachtet erweisen sich aber auch die fiktive Protagonistin Anna Roth und ihr fiktiver Antagonist, der umtriebige NS-Wendehals Armin Zettler, als glaubwürdige Akteure, weil ihre Lebenswelten und ihre Problemlagen durchaus typisch sind für die Wiederaufbaugesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Personen und Ereignisse des Films „Die Himmelsleiter“ befinden sich noch im Erinnerungshorizont der Zuschauer. Sie haben die Zeit selbst erlebt oder von Familienmitgliedern darüber einiges gehört. Das Thema ‚Nachkriegszeit‘ ist also noch Teil der kollektiven Erinnerung und des gesellschaftlichen Diskurses. Wir nennen solche zeitgeschichtlichen Spielfilme im weiteren Verlauf des Buches ‚szenische Erinnerungsfilme‘ und grenzen sie ab von den ‚szenischen HistorienfilmenSzenischer Historienfilme‘, in denen die erzählte Zeit außerhalb des Erinnerungshorizonts des Publikums liegt (zum Beispiel das Mittelalter oder die Antike). Näheres zu dieser Unterscheidung findet sich in den folgenden Kapiteln.