Читать книгу Geschichte in Film und Fernsehen - Thomas Fischer - Страница 13
Erinnerung
ОглавлениеDramatische Ereignisse bleiben in Erinnerung. Das trifft nicht nur auf die Ereignisse zu, die den Lebensalltag einzelner Menschen radikal verändern, sondern auch auf die nationalen Dramen, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Insbesondere den Massenmedien ,Film‘ und ,Fernsehen‘ fällt dabei die Aufgabe zu, die kollektiven Erinnerungen immer wieder zu erzählen und damit den gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs in Gang zu halten (siehe Kap. 2.2.2 und 2.3.2). Bei dramatischen Ereignissen mit großer Reichweite beginnt dieser gesellschaftliche Erinnerungsdiskurs früh. Auch das belegt das Ereignis 9/11 eindrücklich. Unmittelbar nach dem Angriff in New York rief der Sender Home Box Office (HBO) auf Anregung des New Yorker Bürgermeister Rudolph Giordano in lokalen Anzeigen die Einwohner dazu auf, Fotos und Videos von dem Schreckensereignis zur Verfügung zu stellen. Ein Erinnerungsfilm der New Yorker sollte entstehen. Das Ergebnis lief sechs Monate später, im Mai 2002, unter dem Titel „In Memoriam: New York City 9/11/01“ bei HBO. Über 800 Stunden Material von mehr als 100 Privatpersonen sowie die Filmaufzeichnungen von vielen Profikameraleuten waren gesammelt, gesichtet und zu einem einstündigen Film zusammengeschnitten worden. Die Dokumentation lief auch bei ‚CNN International‘ und konnte so von mehr als 170 Millionen Haushalten in über 200 Ländern und Territorien rund um die Welt gesehen werden. Kurz vorher war schon der Film der Brüder Naudet gelaufen, die bei ihrer Reportage über New Yorker Feuerwehrleute die ersten Filmbilder vom explodierenden Flugzeug im WTC aufgezeichnet hatten. Durch die Katastrophe wurde aus der ursprünglich geplanten Alltagsgeschichte eine Heldengeschichte der New Yorker Feuerwehr. Der Film lief unter dem Titel „9/11“ (dt. Fassung: „11. September – Die letzten Stunden im World Trade Center“) bei CBS und erreichte ca. 40 Millionen Zuschauer. Aber auch dieser Film war nur einer von vielen weiteren, die zum Erinnerungsdiskurs beitrugen. Allein in Deutschland liefen zwischen dem 17.8.2002 und dem 13.9.2002 über 26 Erinnerungssendungen zu 9/11 im Fernsehen.
Kollektive Erinnerungen brauchen Erzählanlässe, die den Erinnerungsprozess in Gang halten. Sehr oft sind das Jahrestage, neben 9/11 zum Beispiel in den USA der 6. Juni (Landung der alliierten Truppen 1944 in der Normandie). In Deutschland sind heute der 8. Mai (Tag der Befreiung vom NS-Regime 1945), der 9. November (Tag des Mauerfalls 1989) oder der 3. Oktober (Tag der deutschen [20]Einheit 1990) nationale Erinnerungstage. Diesen Daten, die an erfreuliche Ereignisse erinnern, stehen Gedenktage gegenüber, die an NS-Verbrechen erinnern, zum Beispiel der 27. Januar (Tag der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen 1945) oder der 9. November (Judenpogrom 1938). Alle Erinnerungstage liegen noch im Zeithorizont der älteren Generation, sind lebendige Erinnerung, die nicht nur Wissen beinhalten, sondern auch Emotionen. Und vor allem diese ‚gefühlte‘ Geschichte ist es, die die Erinnerungen so lange lebendig halten. Die ,großen‘ Erzählinstitutionen der kollektiven Erinnerung sind Film und Fernsehen, sie ,setzen‘ die meisten Erinnerungsthemen des öffentlichen Geschichtsdiskurses. Sie erzählen populär und damit massenwirksam und prägen die Geschichtsbilder aufgrund ihrer audiovisuellen Überzeugungskraft maßgeblich mit.
Geschichtssendungen in Film und Fernsehen, die sich im Zeithorizont der Erinnerungskultur bewegen, werden deshalb in diesem Buch gesondert behandelt und ausführlich diskutiert. Geschichtssendungen sind Vermittler zwischen der Gegenwart, in der sie laufen, und der Vergangenheit, von der sie erzählen. Sie greifen dabei auf vergangene Erzählungen zurück, die einstmals aktuelle Ereignisse dokumentierten (z.B. Nachrichtenerzählungen). Und so wie die alten TV-Nachrichten mit Hilfe aktueller audiovisueller Aufzeichnungen von ihrer aktuellen tatsächlichen Welt erzählt haben, so erzählen spätere Geschichtsdokumentationen mit Hilfe historischer AV-Dokumente von vergangenen Welten und stärken damit den ‚flow‘ generationsübergreifender Vergangenheitserzählungen.
Weiterführende Literatur
Bentele 2008: Günter Bentele, Objektivität und Glaubwürdigkeit. Medienrealität rekonstruiert. Wiesbaden 2008.
Bietz 2013: Christoph Bietz, Die Geschichten der Nachrichten: Eine narratologische Analyse telemedialer Wirklichkeitskonstruktion. Trier 2013.
Drews 2008: Albert Drews (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event: Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008.
Erll 2008: Astrid Erll, Erinnerungskultur und Medien – In welchem Kontext spielt sich die Diskussion um Geschichtsvermittlung im Fernsehfilm ab? In: Albert Drews (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event: Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008, 9–27.
Gergen 1998: Kenneth Gergen, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. In: Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998, 170–202.
Schmid 2014: Wolf Schmid, Elemente der Narratologie. Berlin 20143.
Straub 1998b: Jürgen Straub, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Jürgen Straub (Hg), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998, 81–169.