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Im Alltag ist eine Situation absurd, sobald in ihr eine spürbare Diskrepanz zwischen Anspruch oder Erwartung und der Realität gegeben ist: Jemand hält eine weitschweifige Rede zugunsten eines Antrags, der bereits angenommen ist; ein Gewohnheitsverbrecher wird Vorsitzender einer bedeutenden Wohlfahrtsorganisation; telefonisch machen Sie eine Liebeserklärung – und zwar der Zeitansage; man schlägt Sie zum Ritter, und es senkt sich Ihre Hose.

Bemerkt jemand, daß er in eine absurde Situation geraten ist, wird er sie gewöhnlich zu verändern suchen, sei es, daß er seine Erwartungen modifiziert, sei es, daß er die Realität besser mit ihnen in Einklang zu bringen versucht, oder sei es, daß er sich der Situation einfach vollständig entzieht. Nicht immer sind wir bereit oder in der Lage, uns vollständig aus einer Situation zu winden, deren Absurdität uns klar geworden ist. Aber für gewöhnlich ist eine Veränderung denkbar, die diese Lebenslage zumindest von ihrer Absurdität befreit, ob wir diese Veränderung nun tatsächlich bewirken, ja auch nur bewirken könnten, oder nicht. Das Gefühl, das Leben im ganzen sei absurd, kommt auf, wenn wir – möglicherweise nur sehr vage – übersteigerte Ambitionen oder Sehnsüchte in uns wahrnehmen, die, untrennbar mit dem Gang eines menschlichen Lebens verbunden, es zugleich unausweichlich absurd machen – unausweichlich, es sei denn durch die Flucht aus dem Leben selbst.

Viele Menschen führen zeitweilig oder dauernd ein absurdes Leben, aus den vertrauten Gründen, die mit ihren besonderen Ambitionen, Lebensumständen und persönlichen Bindungen zusammenhängen. Soll es nun aber einen philosophisch relevanten Sinn von Absurdität geben, muß er sich auf eine vollkommen allgemeine Beobachtung zurückführen lassen, auf die Beobachtung, daß für uns alle in irgendeiner Hinsicht Anspruch und Realität unausweichlich aufeinanderprallen. Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese Bedingung in der Tat erfüllt ist, da der Ernst, mit dem wir unser Leben führen, und die Tatsache, daß es uns jederzeit frei steht, all das, was wir ernst nehmen, als willkürlich oder zweifelhaft anzusehen, miteinander in Widerspruch geraten.

Kein Mensch kann ohne ein Mindestmaß an Energie und Aufmerksamkeit leben und ohne Entscheidungen zu fällen, die zeigen, daß für ihn einiges wichtiger, anderes unwichtiger ist. Daneben ist es uns jedoch möglich, jederzeit eine Außenperspektive gegenüber unserer eigentümlichen Lebensführung einzunehmen, aus der heraus dieser Ernst dann restlos unbegründet erscheint. Diese beiden unverzichtbaren Perspektiven kollidieren in uns, und das ist es, was das menschliche Leben absurd werden läßt. Es wird absurd, weil wir die Augen vor jenen Zweifeln verschließen müssen, von denen wir wissen, daß wir sie nicht ausräumen können – absurd, weil wir ihrer ungeachtet mit kaum verminderter Ernsthaftigkeit weiterleben.

Diese Analyse gilt es in zweierlei Hinsicht abzusichern: im Hinblick auf erstens die Unvermeidlichkeit des Ernstes und zweitens die Unumgänglichkeit des Zweifels.

Wir nehmen uns ernst, ob wir nun ein ernstes Leben führen oder nicht, und unabhängig davon, worum es uns in erster Linie geht: ob um Ruhm, Vergnügen, Tugendhaftigkeit, Luxus, Erfolg, Schönheit, Gerechtigkeit, Erkenntnis, unser Seelenheil oder ums pure Überleben. Nehmen wir auch andere Menschen ernst und widmen wir uns ihnen, so vervielfacht sich das Problem nur. Das menschliche Leben ist voll von Anstrengungen, Plänen und Überlegungen, von Erfolg und Mißerfolg. Mit mehr oder minder großer Tatkraft oder Trägheit führen wir unser Leben.

Die Situation wäre eine gänzlich andere, würden wir nicht über jene Fähigkeit verfügen, einen Schritt beiseite zu treten und den Prozeß zu reflektieren, sondern uns bloß von Impuls zu Impuls treiben lassen, bar jeden Bewußtseins unserer selbst. Aber Menschen lassen sich nicht bloß von Impulsen leiten: Sie sind vernunftbegabt, sie reflektieren, wägen Folgen gegeneinander ab und fragen sich, ob das, was sie tun, auch der Mühe wert ist. Es geht nicht nur darum, daß ihr Leben voller Einzelentscheidungen ist, die in übergreifenden, zeitlich strukturierten Aktivitäten einen Zusammenhang bilden: Sie treffen zudem auch im weitesten Rahmen Entscheidungen darüber, was man tun und was man lassen soll, wo Prioritäten bei den verschiedensten Zielen zu setzen sind, und ein welcher sie sein oder letztlich werden wollen. Einige sehen sich mit diesen Fragen konfrontiert, wenn es von Zeit zu Zeit darum geht, weitreichende Entscheidungen zu fällen, bei anderen spielen sie nur eine Rolle, wenn sie ihren aus zahllosen Alltagsentschlüssen hervorgegangenen Lebensweg reflektieren. Sie entschließen sich, eine bestimmte Person zu heiraten, irgendeinen Beruf zu ergreifen, Mitglied im Country Club zu werden oder sich der Resistance anzuschließen – oder fragen sich auch nur, warum sie ihren Job als Vertreter, Hochschullehrer oder Taxifahrer eigentlich nicht einmal an den Nagel hängen sollten – um dann nach einer Weile ertraglosen Reflektierens eben wieder mit dem Grübeln aufzuhören.

Auch wenn es die unmittelbaren Bedürfnisse des täglich gelebten Lebens sein mögen, die sie von Handlung zu Handlung motivieren, sind es doch die Menschen selbst, die zulassen, daß das Leben diesen Gang geht, indem sie sich der allgemeinen Lebensweise und den Verhaltensmustern unterordnen, innerhalb derer solche Motive erst ihren Ort haben, oder vielleicht auch nur, indem sie sich überhaupt ans Leben klammern. Sie stecken Unmengen an Energie, Risikobereitschaft und Denkanstrengung in beliebige Kleinigkeiten. Man vergegenwärtige sich bloß einmal, worüber der normale Mensch sich so alles den Kopf zerbricht: über sein Aussehen, seine Gesundheit, sein Sexual- und Gefühlsleben, seinen Beitrag zum Allgemeinwohl, sein Selbstbild, die Qualität seiner familiären Bindungen und Beziehungen zu Freunden oder Arbeitskollegen, sein berufliches Können, und schließlich auch über die Welt selbst und das Geschehen in ihr. Ein menschliches Leben ist ein Ganztagsjob, und jeder von uns widmet sich ihm jahrzehntelang mit der größten Intensität.

Weil dieser Tatbestand so klar auf der Hand liegt, fällt es uns schwer, ihn für besonders aufregend oder wichtig zu halten. Ein jeder von uns lebt das eigene Leben – lebt es mit sich vierundzwanzig Stunden am Tag. Was sollte er denn sonst tun? Etwa das Leben eines anderen leben? Doch verfügen Menschen über die besondere Gabe, einen Schritt beiseite zu treten, und aus solcher Distanz dann auch sich selbst und ihren Lebensweg mit dem gleichen Staunen zu mustern, mit dem sie auch den hindernisreichen Weg einer Ameise durch den Sand verfolgen. Ohne sich der Illusion hinzugeben, es könnte ihnen gelingen, ihre ganz besondere und höchst idiosynkratische Ausgangslage zur Gänze hinter sich zu lassen, können sie diese immerhin sub specie aeternitatis beobachten, und die gebotene Ansicht ist ernüchternd und belustigend zugleich.

Dieser so entscheidende Schritt beiseite ist nun keinesfalls die – vergebliche – Suche nach noch einem weiteren Glied in der Rechtfertigungskette. Was sich gegen jenen Einwand sagen ließ, war bereits ausgesprochen: Rechtfertigungen finden ein Ende. Doch eben dies ist es, was dem universellen Zweifel sein Objekt verschafft. Wir vollziehen den Schritt beiseite, um dann zu entdecken, daß das gesamte System des Infragestellens und Rechtfertigens, das unseren Entscheidungen zugrunde liegt und ohne das unser Anspruch auf Rationalität in sich zusammenfiele, auf Verhaltensweisen und Reaktionen beruht, die wir ihrerseits niemals in Frage stellen, von denen wir auch nicht wüßten, wie man sie stützen sollte, ohne dabei in einen Zirkel zu geraten, und an denen wir selbst dann noch festhalten, wenn sie solcherart in Zweifel gezogen werden.

Was wir indessen, ohne Gründe mitzubringen und auch ohne Gründe nötig zu haben, tun oder wollen (all jene Dinge, die allererst festlegen, was für uns ein Grund sein kann und was nicht), markiert stets einen Angriffspunkt für den Skeptizismus. Wir betrachten uns aus der Außenperspektive, und mit einem Mal wird uns die ganze Kontingenz und Eingeschränktheit unseres Sinnens und Trachtens klar. Nehmen wir diese Perspektive ein und erkennen unser Tun als kontingent, entbindet uns das nicht vom Leben, und hierin liegt unsere Absurdität: Nicht in der Tatsache, daß wir aus dieser Außenperspektive heraus beobachtet werden können, sondern darin, daß wir sie selbst einnehmen können, ohne damit schon aufzuhören, diejenigen zu sein, deren letzte Belange so von oben herab taxiert werden.

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