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Sexuelle Perversion

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Über Sexualität läßt sich etwas aus der Tatsache lernen, daß wir über den Begriff der sexuellen Perversion verfügen. Ich möchte den Begriff der Perversion genauer analysieren, gegen den Vorwurf der Unverständlichkeit verteidigen und einen Versuch wagen, näher anzugeben, welche Eigenschaften humaner Sexualität dafür verantwortlich sind, daß sie pervertiert werden kann. Zunächst werde ich einige allgemeine Bedingungen anführen, die der Begriff zu erfüllen hat, wenn er denn haltbar sein soll. Man kann sie einräumen, ohne dabei von einer bestimmten Analyse auszugehen.

Erstens: Jede sexuelle Perversion muß in sexuellem Verlangen oder in sexuellen Praktiken bestehen, die in einem gewissen Sinne unnatürlich sind, wobei das Hauptproblem gewiß in der Aufklärung dieser Unterscheidung von ›natürlich‹ und ›unnatürlich‹ liegt. Zweitens: Ist überhaupt irgend etwas eine Perversion, so gehören bestimmte Praktiken mit Sicherheit dazu – Schuhfetischismus etwa, Sodomie oder Sadismus. Andere Praktiken, zum Beispiel herkömmlicher menschlicher Geschlechtsverkehr, sind keine Perversionen; und über wieder andere gehen die Meinungen auseinander. Drittens: Gibt es Perversionen, so bestehen sie in unnatürlichen sexuellen Neigungen. Unnatürliche Praktiken, die nicht aus Neigung, sondern aus anderen Gründen ausgeübt werden, gehören nicht dazu. So ist es schwerlich sinnvoll, Empfängnisverhütung als sexuelle Perversion aufzufassen, und zwar auch dann, wenn sie für eine bewußte Perversion der sexuellen und der Fortpflanzungsfunktionen gehalten wird. Eine sexuelle Perversion muß sich in einem Verhalten zeigen, das eine unnatürliche sexuelle Vorliebe ausdrückt. Zwar mag es durchaus eine Form des Fetischismus geben, der auf die Anwendung kontrazeptiver Maßnahmen gerichtet ist, aber das kann kaum die übliche Erklärung für den Gebrauch von Verhütungsmitteln sein.

Der Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung hat mit sexueller Perversion nichts zu tun. Der letztere Begriff ist aus psychologischen, nicht aus physiologischen Gründen von Interesse; es handelt sich um einen Begriff, den wir nicht auf niedere Tiere und schon gar nicht auf Pflanzen anwenden, obwohl sie allesamt reproduktive Funktionen haben, die auf vielerlei Weise verloren gehen können. (Man denke nur einmal an kernlose Orangen.) Und wenn wir bereit sind, auch höhere Tiere als pervers zu bezeichnen, dann liegt dies nur an ihrer psychologischen und nicht an ihrer anatomischen Ähnlichkeit mit dem Menschen. Schließlich fassen wir auch bei Menschen nicht jederlei Abweichung von der Fortpflanzungsfunktion der Sexualität als Perversion auf: Sterilität, Fehlgeburten, Empfängnisverhütung und Abtreibung sind Beispiele dafür.

Der Begriff sexueller Perversion kann auch nicht unter Bezugnahme auf soziale Mißbilligung oder auf gesellschaftliche Konventionen definiert werden. Betrachten wir all die Gesellschaften, die Ehebruch und Prostitution ablehnten. Diese Praktiken wurden nicht als unnatürlich aufgefaßt, sondern sie wurden aus anderen Gründen für verwerflich gehalten. Es ist keine Frage, daß in der einen Kultur etwas als unnatürlich gilt, das für eine andere natürlich ist, doch gleichwohl drückt man mehr als nur Mißbilligung oder Abscheu aus, wenn man etwas als unnatürlich bezeichnet. Tatsächlich wird Unnatürlichkeit oft als Grund für Mißbilligung angeführt; und ebendieser Tatbestand legt den Gedanken nahe, daß die Klassifikation von ›natürlich‹ und ›unnatürlich‹ einen unabhängigen Gehalt hat.

Ich werde eine psychologische Erklärung sexueller Perversion anbieten, die an eine Theorie des sexuellen Verlangens und der sexuellen Beziehungen des Menschen gebunden ist. Um an diese Lösung heranzuführen, möchte ich zunächst eine gegensätzliche Ansicht behandeln, die es rechtfertigen würde, die Existenz sexueller Perversionen überhaupt und vielleicht sogar die Bedeutsamkeit dieses Terminus zu bezweifeln. Das skeptische Argument verläuft folgendermaßen:

»Sexuelles Verlangen ist einfach ein Trieb unter anderen, wie Hunger oder Durst. Als Trieb kann es auf verschiedene Objekte gerichtet sein, von denen manche vielleicht üblicher als andere sind, aber keines dieser Objekte ist in irgendeinem Sinne ›natürlich‹. Ein Trieb wird als ein sexueller identifiziert, indem man auf die Organe und erogenen Zonen, in denen seine Befriedigung bis zu einem gewissen Grade lokalisiert werden kann, und auf die konkreten sinnlichen Genüsse verweist, die das Wesen dieser Befriedigung ausmachen. Damit sind wir in der Lage, äußerst verschiedene Ziele, Aktivitäten und Wünsche als sexuell zu betrachten, denn es ist im Prinzip denkbar, daß alles sexuelle Lust erregen oder daß ein unbewußter, sexuell geprägter Wunsch danach geweckt werden kann (und sei es nur durch Konditionierung). Zwar mögen wir einige dieser Wünsche nicht teilen, und etliche (wie zum Beispiel Sadismus) mögen aus Gründen, die mit ganz anderen Erwägungen zu tun haben, auch verwerflich sein; aber sobald wir erkannt haben, daß sie den Kriterien für sexuelle Wünsche genügen, gibt es zu dieser Frage nichts mehr zu sagen. Entweder sie sind sexuell oder sie sind es nicht: Sexualität läßt weder Unvollkommenheit noch Perversion noch irgendeine andere derartige Qualifikation zu – sie gehört einfach nicht zu Gefühlen solcher Art.«

Das ist vermutlich der authentische radikale Standpunkt. Wer ihn vertritt, meint, daß eine psychologische Erklärung sexueller Perversion nur aufrechtzuerhalten ist, wenn man in Abrede stellt, daß sexuelles Verlangen ein Trieb ist. Aber diese Strategie der Rechtfertigung – sofern sie überhaupt einleuchtend ist – sollte unser Mißtrauen gegen das naive Bild der Triebe wecken, das dieser Skeptizismus unterstellt. Vielleicht können nicht einmal unsere paradigmatischen Triebe wie der Hunger als reine Triebe in jenem Sinne aufgefaßt werden, zumindest nicht in ihrer Ausprägung beim Menschen.

Können wir uns irgend etwas vorstellen, das man als Perversion des Hungers bezeichnen könnte? Hunger und Nahrungsaufnahme haben – ganz wie die Sexualität – eine biologische Funktion und spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle für unser Innenleben. Man beachte, daß es kaum eine Veranlassung gibt, das triebhafte Verlangen nach Dingen, die nicht nahrhaft sind, als pervers zu bezeichnen: Wir würden die Triebe eines Menschen nicht als pervertiert einstufen, wenn er gern Papier, Holz oder Baumwolle äße: Wir hätten es lediglich mit ziemlich merkwürdigen und sehr ungesunden Vorlieben zu tun. Sie besitzen indes nicht die psychologische Komplexität, die wir von Perversionen erwarten (wenn wir von Koprophilie einmal absehen, die ja eigentlich eine sexuelle Perversion ist). Wenn nun aber jemand gern Kochbücher und Zeitschriften äße, in denen Lebensmittel abgebildet sind, und diese der gewöhnlichen Nahrung vorzöge – oder wenn er die Befriedigung seines Hungergefühls durch Streicheln einer Serviette oder eines Aschenbechers aus seinem Lieblingsrestaurant suchte – dann schiene es schon eher angemessen zu sein, den Begriff der Perversion anzuwenden (in diesem Fall würden wir wohl von gastronomischem Fetischismus sprechen). Es wäre auch angemessen, jemandem einen pervertierten Hungertrieb zuzuschreiben, der nur essen kann, wenn ihm die Nahrung mittels eines Trichters durch die Speiseröhre gepreßt wird oder wenn seine Mahlzeit aus lebendigen Tieren besteht. Entscheidend ist die Eigentümlichkeit des Verlangens an sich, und nicht die Tatsache, daß der Gegenstand, auf den es gerichtet ist, der biologischen Funktion dieses Verlangens nicht angemessen ist. Auch ein Trieb kann pervertiert werden, wenn er außer seiner biologischen Funktion eine signifikante psychologische Struktur hat.

Zum Beispiel offenbart sich die psychologische Komplexität des Hungers am Verhalten, in dem er sich äußert. Hunger ist nicht nur eine störende Empfindung, die sich durch Nahrungsaufnahme beseitigen läßt, sondern es handelt sich um eine Einstellung gegenüber eßbaren Bestandteilen der Außenwelt, um den Wunsch, sie in einer ganz konkreten Weise zu behandeln. Die verschiedenen Formen der Nahrungsaufnahme – vom Kauen, Schmecken, Schlucken, bis hin zur Wahrnehmung der Konsistenz und des Geruchs – sind ebenso wichtige Komponenten dieser Beziehung wie die Passivität und Kontrollierbarkeit der Nahrung (die einzigen lebenden Tiere, die wir essen, sind ja hilflose Mollusken). Unsere Beziehung zur Nahrung hängt darüber hinaus von gewissen Größenverhältnissen ab: Wir leben nicht auf ihr wie Blattläuse und wir wühlen uns nicht in sie hinein wie Würmer. Einige dieser Charakteristika spielen eine wichtigere Rolle als andere, aber eine adäquate Phänomenologie des Essens hätte die Nahrungsaufnahme als eine Beziehung zur Außenwelt und als von typischen Erregungszuständen begleitete Aneignung von Bestandteilen der Welt darzustellen. Veränderungen oder ernsthafte Einschränkungen des Verlangens nach Essen ließen sich dann als Perversion behandeln, sobald sie jene unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Nahrung beeinträchtigen, in der sich der Hunger natürlicherweise äußert. Das erklärt, weshalb es nicht schwer fällt, sich auch in bezug auf Hunger Fetischismus, Voyeurismus, Exhibitionismus, ja sogar Sadismus und Masochismus vorzustellen. Einige dieser Perversionen sind übrigens relativ weit verbreitet.

Können wir uns aber Perversionen eines Triebs wie Hunger vorstellen, so müßte es eigentlich möglich sein, auch dem Begriff der sexuellen Perversion einen guten Sinn zu geben. Ich möchte damit keineswegs behaupten, daß sexuelles Verlangen ein Trieb ist, sondern weise lediglich darauf hin, daß etwas auch dann pervertiert werden kann, wenn es ein Trieb ist. Wie beim Hunger ist das charakteristische Objekt sexuellen Verlangens eine bestimmte Beziehung zu einem Teil der Außenwelt. Nur besteht die Beziehung in diesem Falle eben zu einer Person und nicht zu einem Omelett; und außerdem ist die Relation wesentlich komplizierter. Und diese zusätzliche Komplexität bietet Spielraum für entsprechend komplexe Formen der Perversion.

Der Tatbestand, wonach sexuelles Verlangen ein Gefühl anderen Personen gegenüber ist, könnte eine fromme Auffassung des psychischen Gehalts dieses Verlangens nahelegen: Eigentlich drücke sexuelles Verlangen ja nur eine andere Einstellung, etwa Liebe aus; trete es hingegen isoliert auf, sei es unvollkommen und menschenunwürdig. (Die extreme platonische Version einer solchen Ansicht lehrt, daß alle sexuellen Praktiken vergebliche Versuche sind, etwas auszudrücken, das sie prinzipiell nicht erfassen können, und dies sie alle in gewissem Sinn zu Perversionen macht.) Aber sexuelles Verlangen ist für sich betrachtet schon kompliziert genug, als daß es erst an etwas anderes gebunden werden müßte, um phänomenologisch analysiert werden zu können. Sexualität kann unterschiedliche Funktionen erfüllen – ökonomische, soziale, altruistische – hat aber als zwischenmenschliche Beziehung obendrein auch ihren eigenen Gehalt.

Der Gegenstand sexueller Anziehung ist ein bestimmtes Individuum, das die Qualitäten, die ihm seine Attraktivität verleihen, allerdings transzendiert. Werden mehrere Menschen von ein und derselben Person aus unterschiedlichen Gründen angezogen – wegen ihrer Haare, ihrer Augen, ihrer Gestalt, ihres Lachens oder ihrer Intelligenz – haben wir nichtsdestoweniger das Gefühl, daß der Gegenstand ihres Verlangens derselbe ist. Wir haben dieses Gefühl unter Umständen sogar dann noch, wenn die Liebenden, etwa weil es sich sowohl um Männer als auch um Frauen handelt, unterschiedliche sexuelle Ziele verfolgen. Die verschiedensten Eigenschaften, die jeweils auf spezifische Weise anziehend wirken mögen, scheinen ein elementares Gefühl auslösen zu können, das sich wiederum in den unterschiedlichsten Zielen und Wünschen äußern kann. Eine sexuelle Einstellung gegenüber einem Menschen bildet sich zwar aufgrund gewisser anziehend wirkender Eigenschaften aus, aber diese Qualitäten sind nicht das Objekt dieser Einstellung.

Ganz anders verhält es sich, sobald jemand den Wunsch nach einem Omelett hat. Verschiedene Leute können aus uneinheitlichen Gründen ein Verlangen nach einem Omelett verspüren – der eine, weil es so locker gebacken ist, der andere wegen der Pilze und wieder ein anderer wegen der einzigartigen Verbindung von Aroma und visuellem Eindruck, und dennoch erheben wir den gemeinsamen Gegenstand ihrer Erregungszustände nicht in den Rang eines transzendenten Omeletts. Statt dessen können wir sagen, daß mehrere Wünsche rein zufällig auf dasselbe Objekt gerichtet sind: Jedes andere Omelett mit den entsprechenden Qualitäten würde es auch tun. Dagegen kann nicht jede Person mit derselben Gestalt oder derselben Art zu rauchen zum Objekt eines spezifischen sexuellen Verlangens werden, auch wenn das Verlangen durch ebendiese Eigenschaften geweckt worden ist. Es mag sein, daß bestimmte Eigenschaften mehrmals auftauchen, aber dann handelt es sich um eine andere sexuelle Anziehung mit einem jeweils anderen konkreten Objekt; das ursprüngliche Verlangen überträgt sich nicht einfach auf einen anderen Menschen. (Das gilt sogar in den Fällen, in denen der neue Gegenstand unbewußt mit dem früheren identifiziert wird.)

Wie wichtig dieses Moment ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie kompliziert die psychologische Wechselwirkung gerät, die dem Phänomen sexueller Anziehung zugrunde liegt. Dies wäre unbegreiflich, sobald der Gegenstand der sexuellen Anziehung nicht in einer konkreten Person bestünde, sondern nur in irgendeiner Person einer bestimmten Art. Und mit der Anziehung fängt es ja erst an, die Erfüllung umfaßt dann noch viel mehr als bloß das Verhalten und die Berührung, worin die Anziehung zum Ausdruck kommt.

Die beste mir bekannte Erörterung dieser Fragen findet sich bei Sartre im dritten Teil seines Werks Das Sein und das Nichts.1 Seine Überlegungen zu sexuellem Verlangen, zu Liebe, Haß, Sadismus und Masochismus wie auch zu weiteren Einstellungen gegenüber anderen Menschen sind an eine allgemeine Theorie des Bewußtseins und des Körpers gebunden, die ich hier weder darstellen noch voraussetzen kann. Sartre setzt sich nicht mit Perversionen auseinander, was zum Teil damit zusammenhängt, daß er das sexuelle Verlangen als Ausprägung unseres fortgesetzten Versuchs eines verkörperten Bewußtseins ansieht, mit der Existenz anderer zu Rande zu kommen – ein Versuch, der jedoch zum Scheitern verurteilt ist, und dies unabhängig davon, ob er in der Form sexuellen Verlangens oder in einer der anderen Formen auftritt, zu denen sowohl Sadismus und Masochismus (vielleicht sogar Abweichungen, die nicht auf Personen gerichtet sind) als auch diverse nichtsexuelle Einstellungen gehören. Nach Sartre bleiben alle Versuche, den anderen als ein anderes Subjekt in meine Welt zu integrieren – also ihn zugleich als ein Objekt für mich und als Subjekt, für das ich ein Objekt bin, zu begreifen –, instabil sind und dazu verurteilt, nach der einen oder anderen dieser Seiten hin auszuschlagen und damit zu scheitern. Entweder reduziere ich den anderen vollständig auf ein Objekt – in diesem Fall entzieht sich seine Subjektivität meinem Besitz oder meiner Aneignung, die ich auf jenes Objekt ausdehnen kann; oder aber ich werde lediglich zu einem Objekt für den anderen, und auch in diesem Falle bin ich nicht mehr dazu in der Lage, mir seine Subjektivität anzueignen. Darüber hinaus ist keiner dieser beiden Aspekte stabil; jeder ist ständig in der Gefahr, von dem anderen verdrängt zu werden. Dies hat zur Konsequenz, daß es so etwas wie eine erfolgreiche sexuelle Beziehung nicht geben kann, denn das dem sexuellen Verlangen zugrunde liegende letzte Ziel kann prinzipiell nicht erreicht werden. Deshalb ist es letzten Endes unwahrscheinlich, daß im Rahmen dieser Auffassung zwischen erfolgreicher bzw. erfüllter und erfolgloser bzw. unerfüllter Sexualität unterschieden werden kann, und Raum für den Begriff der Perversion bleibt.

Weder mache ich mir diesen Aspekt seiner Theorie zu eigen noch kann ich die meisten seiner metaphysischen Voraussetzungen zugestehen, aber das Bild, das Sartre von dem Versuch zeichnet, finde ich durchaus interessant. Er sagt, daß sich die Art von Besitz, die das Objekt sexuellen Verlangens ist, durch ein »zweifaches wechselseitiges Zufleischwerdenlassen« verwirklichte; und dies wiederum werde typischerweise in Form einer Liebkosung in folgender Weise herbeigeführt:

»Ich mache mich zu Fleisch, um den anderen dafür zu gewinnen, für sich und für mich sein eigenes Fleisch zu realisieren, und meine Liebkosungen lassen mein Fleisch für mich erstehen, insofern es für den anderen Fleisch ist, das ihn zum Fleische geboren werden läßt2

Diese Fleischwerdung wird abwechselnd als ein Verkleben oder als eine Trübung des Bewußtseins beschrieben, das vom Fleisch, in dem es verkörpert ist, überflutet wird.

Die Position, die ich – wie ich hoffe, mit den Mitteln einer weniger dunklen Sprache – vertreten möchte, hat zwar mancherlei mit Sartres Ansichten gemein, unterscheidet sich von ihnen aber darin, daß, sie nicht von vornherein ausschließt, daß Sexualität bisweilen ihr Ziel erreicht, womit dann auch eine Basis für den Begriff der Perversion hergestellt wäre.

Sexuelles Verlangen führt stets eine Art Wahrnehmung mit sich, jedoch nicht nur eine einzelne Wahrnehmung des Objekts der sexuellen Begierde, denn der paradigmatische Fall wechselseitigen Verlangens zeichnet sich durch ein komplexes System einander überlagernder wechselseitiger Wahrnehmungen aus – und zwar spielen hier nicht nur Wahrnehmungen des Sexualobjekts eine Rolle, sondern vor allem auch Selbstwahrnehmungen. Darüber hinaus erfordert das sexuelle Gewahren eines anderen zunächst einmal, daß man seiner selbst gewahr wird, und zwar in weit höherem Maße als dies bei gewöhnlicher Sinneswahrnehmung der Fall ist. Das Erlebnis wird durch den Blick (die Berührung u. dgl.) des Sexualobjekts gleichsam wie ein regelrechter Angriff auf einen selbst empfunden.

Wir wollen einen Fall untersuchen, bei dem sich die einzelnen Elemente voneinander trennen lassen. Um der Klarheit willen werden wir uns einstweilen auf den etwas künstlichen Fall des Verlangens aus der Distanz beschränken. Nehmen wir also an, ein Mann und eine Frau – nennen wir die beiden hier Romeo und Julia – befänden sich jeweils auf der entgegengesetzten Seite eines Partyraumes, an dessen Wänden zahlreiche Spiegel angebracht sind, so daß es möglich wird, jemanden unbeobachtet zu beobachten – ja, sich gegenseitig unbeobachtet zu beobachten. Jeder unserer beiden nippt an seinem Martini und mustert die anderen Gäste in den Spiegeln. Irgendwann wird Romeo nun Julia bemerken. Er wird vom Anblick ihrer weichen Haare und der schüchternen Art wie sie an ihrem Martini nippt, irgendwie ergriffen und schließlich sexuell erregt. Sagen wir hierfür im folgenden X spüre Y, wann immer X ein sexuelles Verlangen nach Y verspürt. (Y muß dabei keine Person sein, und X’ Wahrnehmung von Y kann visueller oder taktiler Natur sein; X mag Y durch den Geruch wahrnehmen oder es mag sich um bloße Vorstellung handeln; für die Zwecke unseres Beispiels wollen wir uns einmal auf die visuelle Wahrnehmung konzentrieren.) Romeo spürt also Julia, er bemerkt sie nicht bloß. In diesem Stadium wird er von einem Objekt erregt, das selbst nicht erregt ist; mithin hat sein Körper ihn stärker sexuell ergriffen als ihr Körper sie.

Nehmen wir nun weiter an, daß Julia in just diesem Augenblick Romeo in einem anderen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand ihrerseits spürt; doch bislang weiß noch keiner der beiden, daß er vom anderen gesehen wird (die Reflexionswinkel der Spiegel ermöglichen Profilansichten). Romeo beginnt nun, an Julia die kaum sichtbaren Zeichen sexueller Erregung zu bemerken: den unverwandten Blick unter halb geschlossenen Augenlidern, die erweiterten Pupillen, das leichte Erröten. Das intensiviert natürlich ihre körperliche Präsenz für ihn, und er bemerkt dies nicht nur, sondern spürt es auch. Für ihn bleibt seine Erregung allerdings immer noch unbeantwortet. Aber nun erkennt Romeo, der Blickrichtung Julias geschickt folgend, ohne ihr dabei aber in die Augen zu sehen, daß ihr Blick durch den Spiegel an der entgegengesetzten Wand auf ihn gerichtet ist: Er bemerkt, ja spürt, daß Julia ihn spürt. Das ist nun aber ein ganz neues Stadium, denn in Romeo wird ein Gefühl der Verkörperung geweckt, und zwar nicht nur durch seine eigenen Reaktionen, sondern auch durch die Augen und die Reaktionen des anderen. Dieses Stadium läßt sich außerdem von demjenigen unterscheiden, in dem Romeo Julia anfänglich gespürt hat. Denn die sexuelle Erregung kann auch dadurch ausgelöst werden, daß jemand spürt, daß er selbst von einem anderen Menschen gespürt wird – so daß er durch die Wahrnehmung des Verlangens des anderen Menschen bestürmt wird, und nicht bloß durch die Wahrnehmung des anderen Menschen.

Aber es gibt noch ein weiteres Stadium. Nehmen wir an, daß Julia, die ein bißchen langsamer ist als Romeo, nun auch spürt, daß er sie spürt. Dies versetzt Romeo nun wiederum in die Lage zu bemerken – und dadurch auch erregt zu werden – daß sie in Erregung gerät, weil er sie spürt. Er spürt, daß sie spürt, daß er sie spürt. Dies ist erneut ein anderes Stadium der Erregung, denn nun wird sich Romeo seiner Sexualität bewußt, da er sowohl ihre Wirkung auf Julia bemerkt als auch beobachtet, daß sie erkennt, daß diese Wirkung auf ihn zurückzuführen ist. Wenn sie nun auch in dieses Stadium kommt, also spürt, daß er spürt, daß sie ihn spürt, wird es langsam schwierig, noch weitere iterierende Stadien anzugeben oder sich gar vorzustellen, obwohl sie vielleicht logisch durchaus von den anderen Stadien unterschieden werden könnten. Wären die beiden nun allein, würden sie sich vermutlich umdrehen, um sich direkt anzusehen – und die Vorgänge würden sich auf einer anderen Ebene fortsetzen. Physische Berührung und Geschlechtsverkehr sind die natürlichen Erweiterungen dieses komplizierten visuellen Austauschs; und bei gegenseitiger Berührung können die Wahrnehmungsvorgänge ebenso verwickelt sein wie im visuellen Fall, aber sie lassen einen weitaus größeren Spielraum für Nuancierungen und Intensitätsabstufungen.

Normalerweise laufen diese Vorgänge natürlich bei weitem nicht so geordnet ab – manchmal handelt es sich ja gerade um einen regelrechten Ausbruch – aber ich glaube, daß dieses sich überlappende System jeweils verschiedener sexueller Wahrnehmungen und Interaktionen in der einen oder anderen Ausprägung die Grundbedingungen jeder vollentwickelten sexuellen Beziehung ausmacht, und daß Beziehungen, die nur einen Teil dieses Komplexes umfassen, in einem signifikanten Sinne unvollkommen sind. Diese Darstellung ist lediglich schematisch, was indessen unvermeidlich ist, sofern Allgemeingültigkeit angestrebt werden soll. Jede wirklich sexuelle Handlung trägt weit spezifischere psychologische Züge und unterscheidet sich von anderen durch charakteristische Einzelheiten. Dafür sind nicht nur die angewandten physischen Techniken und anatomischen Besonderheiten verantwortlich, sondern auch eine Unmenge von Eigenheiten, die für das Bild charakteristisch sind, das die Beteiligten voneinander und von sich selbst haben, und die in die sexuelle Handlung eingehen. (Uns allen ist nicht unbekannt, daß Menschen nicht selten ihre eigenen sozialen Rollen mitsamt denen ihrer Partner mit ins Bett nehmen.)

Dennoch ist das allgemeine Schema von großer Bedeutung. Die darin enthaltenen Überwucherungen verschiedener Stadien wechselseitiger Wahrnehmung sind ein Beispiel für eine Art von Komplexität, die für menschliche Interaktionen typisch ist. Denken wir als Beispiel einmal an Aggression: Ärgere ich mich über jemanden, möchte ich ihn das auch spüren lassen. Entweder möchte ich, daß es bei ihm zu Selbstvorwürfen kommt, indem ich ihn dazu bringe, sich durch die Augen meines Ärgers zu sehen, und das, was er dabei sieht, selber abstoßend zu finden. Oder ich möchte bei ihm zu reziprokem Ärger oder zu Furcht Anlaß geben, indem ich ihn dazu bringe, meinen Ärger als eine Bedrohung oder als einen Angriff zu empfinden. Was ich erreichen will, hängt davon ab, weshalb und wie sehr ich mich ärgere, aber in beiden Fällen spielt der Wunsch eine Rolle, im Objekt meines Ärgers bestimmte Gefühle hervorzurufen. Die Befriedigung meiner Emotion besteht darin, daß ebendies gelingt; und zwar indem ich Herrschaft über die Gefühle meines Objekts ausübe.

Ein anderes Beispiel für ein solches reflexives wechselseitiges Erkennen finden wir im Phänomen des Bedeutens und der Bedeutung, denn bei ihm scheint die Absicht im Spiel zu sein, einer anderen Person eine Meinung oder andere Wirkung zu vermitteln, indem die Person auf ebendiese eigene Absicht, die Wirkung hervorzurufen, aufmerksam gemacht wird. (Diese Einsicht geht auf Grice3 zurück, dessen Position ich an dieser Stelle nicht im Detail referieren möchte.) Sexualität hat nun eine verwandte Struktur: Sie beinhaltet das Verlangen, daß der Partner dadurch erregt wird, daß er mein Verlangen nach seiner Erregung bemerkt.

Es ist nicht ganz leicht, die elementaren Typen des Gewahrens und der Erregung zu definieren, aus denen sich diese Komplexe zusammensetzen, und deshalb bleibt meine Diskussion lückenhaft. In gewissem Sinne ist das Objekt des Gewahrens im eigenen Fall dasselbe wie beim sexuellen Gewahren einer anderen Person, obwohl das Gewahren in beiden Fällen nicht dasselbe ist; der Unterschied ist ebenso beträchtlich wie der zwischen dem Gefühl, ärgerlich zu sein, und dem Gefühl, den Ärger einer anderen Person zu verspüren. Alle Stadien sexueller Wahrnehmung sind verschiedene Ausprägungen der Identifikation einer Person mit ihrem Körper. Es wird nämlich die eigene oder eines anderen Unterwerfung unter, respektive das eigene oder das andere Eintauchen in den Körper wahrgenommen, ein Phänomen, das von Paulus und Augustinus mit Widerwillen erkannt wurde – beide hielten »das Gesetz der Sünde in meinen Gliedern« für eine gravierende Bedrohung der Herrschaft des heiligen Willens.4 Für sexuelles Verlangen und dessen Äußerung ist das Verschmelzen von unwillkürlicher Reaktion mit bewußter Kontrolle von eminenter Wichtigkeit. Die Erektion, aber auch die anderen unwillkürlichen physischen Komponenten der Erregung, symbolisierten für Augustinus die Revolution, die sein Körper gegen ihn führte. Auch Sartre betont die Tatsache, daß der Penis kein willkürlich kontrolliertes Organ ist. Aber bloße Unwillkürlichkeit ist auch für andere körperliche Vorgänge charakteristisch. Beim sexuellen Verlangen verbinden sich unwillkürliche Reaktionen mit der Unterwerfung unter spontane Impulse: Nicht nur der Puls und die Sekretion, sondern auch die Handlungen unterliegen der Herrschaft des Körpers; im Idealfall ist willkürliche Kontrolle lediglich erforderlich, um die Äußerung jener Impulse in geeignete Bahnen zu lenken. Bis zu einem gewissen Grade trifft dies auch auf einen Trieb wie den Hunger zu, aber in diesem Fall übt der Körper eine beschränktere, weniger umfassende und weniger extreme Herrschaft aus.

Der Körper wird nicht auf dieselbe Weise ganz von Hunger ausgefüllt wie er von Verlangen durchdrungen sein kann. Aber die Eigenschaft, die das spezifisch sexuelle Eintauchen in den Körper am besten hervorhebt, besteht darin, daß dieser Vorgang sich in den schon beschriebenen Komplex wechselseitiger Wahrnehmung einzufügen vermag. Hunger führt zu spontanen Interaktionen mit Nahrung; sexuelles Verlangen hingegen führt zu spontanen Interaktionen mit anderen Personen, deren Körper ihre Souveränität in gleicher Weise geltend machen, indem sie unwillkürliche Reaktionen und spontane Impulse in ihnen hervorrufen. Diese Reaktionen werden wahrgenommen und ihre Wahrnehmung wird ihrerseits wahrgenommen, und auch diese Wahrnehmung wird wiederum wahrgenommen. In jedem Stadium wird die Herrschaft des Körpers über die Person gefestigt, und der Sexualpartner kann durch physische Berührung, Penetration und Umklammerung leichter in Besitz genommen werden.

Verlangen ist also nicht allein die Wahrnehmung einer immer schon vorhandenen Verkörperung einer anderen Person, sondern im Idealfall trägt es zu deren weiterer Verkörperung bei, die dann ihrerseits wiederum das ursprüngliche Sich-Selbst-Empfinden des Subjekts verstärkt. Dies erklärt, weshalb es so wichtig ist, daß auch der Partner erregt ist, und zwar nicht einfach nur erregt, sondern erregt durch die Wahrnehmung meines Verlangens. Und es wird auch erklärt, in welchem Sinne Vereinigung und Besitz das Objekt des Verlangens sind: Physische Inbesitznahme hat auf die Erschaffung des sexuellen Objekts im Spiegel des eigenen Verlangens zu zielen, nicht nur darauf, daß das Objekt sich meines Verlangens und seiner eigenen privaten Erregung bewußt wird.

Auch wenn dies ein korrektes Modell reifer Sexualität sein sollte, wäre es indes unplausibel, jederlei Abweichung davon als pervers zu bezeichnen. Geben sich zum Beispiel die Partner beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr jeweils eigenen heterosexuellen Phantasien hin und umgehen sie auf diese Weise das Erkennen ihres eigentlichen Partners, handelt es sich nach unserem Modell um eine unvollkommene sexuelle Beziehung. Im allgemeinen gilt dies aber allemal noch nicht als Perversion. Solche Beispiele lassen vermuten, daß eine einfache Unterscheidung zwischen pervertierter und unpervertierter Sexualität zu stark nivelliert, um die Phänomene noch angemessen systematisieren zu können.

Doch eine ganze Reihe bekannter Abweichungen stellen verstümmelte oder unvollständige Abarten der vollständigen Konfiguration dar und können dann als Perversionen des wichtigsten Antriebs aufgefaßt werden. Wird sexuelles Verlangen daran gehindert, seine voll ausgeprägte zwischenmenschliche Form anzunehmen, ist es wahrscheinlich, daß es in anderer Form auftritt. Der Begriff der Perversion läßt darauf schließen, daß störende Einflüsse zu einer Abweichung von der normalen sexuellen Entwicklung geführt haben. Auf diese kausale Bedingung kann ich an dieser Stelle nicht ausführlich eingehen. Doch wenn Perversionen in einem gewissen Sinne unnatürlich sind, müssen sie sich aus einer Beeinträchtigung der Entwicklung einer Fähigkeit ergeben, die potentiell vorhanden ist.

Es ist schwierig, diese Bedingung anzuwenden, weil situationsbedingte Faktoren bei allen Menschen die Ausprägung der spezifischen Form des sexuellen Antriebs beeinflussen. Insbesondere frühkindliche Erlebnisse scheinen die Wahl des sexuellen Objekts stark zu beeinflussen. Wenn aber einige Kausaleinflüsse störend, andere dagegen lediglich formend sein sollen, dann heißt das, daß gewisse allgemeine Aspekte humaner Sexualität ein fest umrissenes Potential realisieren, während viele der Einzelheiten, in denen sich die Menschen voneinander unterscheiden, Realisierungen eines unbestimmten Potentials sind: Diese Einzelheiten lassen sich deshalb nicht in natürliche oder weniger natürliche klassifizieren. Die Frage, worin das fest umrissene Potential besteht, ist deshalb von größter Bedeutung, wenngleich die Differenzierung zwischen einem fest umrissenen und einem unbestimmten Potential unklar ist. Offensichtlich kann ein Wesen, das nicht dazu in der Lage ist, die von mir beschriebenen Stadien interpersoneller sexueller Wahrnehmung auszubilden, nicht dieses Mangels wegen als abweichend bezeichnet werden. (Wenngleich sogar ein Huhn in einem erweiterten Sinn pervers genannt werden könnte, sobald es aufgrund von Konditionierung eine fetischistische Fixierung auf ein Telefon ausbildete.) Aber wenn Menschen die Tendenz haben, irgendeine Form wechselseitiger interpersoneller sexueller Wahrnehmung zu entwickeln, können Fälle, in denen diese Entwicklung blockiert wird, durchaus als unnatürlich oder pervers klassifiziert werden.

Einige bekannte Abweichungen lassen sich auf diese Weise beschreiben. Narzißtische Praktiken und Geschlechtsverkehr mit Tieren, Kindern oder leblosen Gegenständen scheinen bei einer primitiven Form des ersten Stadiums sexuellen Fühlens stehengeblieben zu sein. Handelt es sich um einen unbelebten Gegenstand, bleibt das Erlebnis völlig auf die Wahrnehmung der eigenen sexuellen Verkörperung beschränkt. Bei kleinen Kindern und Tieren kann zwar die Verkörperung des anderen wahrgenommen werden, aber die Reziprozität stößt auf Hindernisse: Es ist schwerlich möglich, daß das sexuelle Objekt das Verlangen des Subjekts erkennt und daraufhin beginnt, sich selbst sexuell wahrzunehmen. Auch Voyeurismus und Exhibitionismus sind unvollständige Beziehungen. Der Exhibitionist hat den Wunsch, sein eigenes Verlangen zur Schau zu stellen, braucht aber dabei selbst nicht verlangt zu werden; er kann sich sogar davor fürchten, die sexuelle Aufmerksamkeit anderer zu erregen. Und für einen Voyeur ist es nicht einmal notwendig, überhaupt von seinem Objekt wahrgenommen zu werden und schon gar nicht, daß das Objekt seine Erregung wahrnimmt.

Wenden wir unser Modell hingegen auf die unterschiedlichsten Formen heterosexuellen Geschlechtsverkehrs zwischen zwei erwachsenen Partnern an, scheint überhaupt keine dieser Ausprägungen mehr eindeutig als Perversion gelten zu können. In unseren Tagen findet sich kaum noch jemand, der etwas gegen Oralverkehr einzuwenden hätte, und so angesehene Persönlichkeiten wie die Schriftsteller Lawrence und Mailer haben die Vorzüge des Analverkehrs angepriesen. Anscheinend kann im Prinzip also jeder körperliche Kontakt zwischen einem Mann und einer Frau, der für beide mit sexueller Lust verbunden ist, ein mögliches Medium für das System jener mehrstufigen interpersonellen Wahrnehmung darstellen, in dem, wie ich dargelegt habe, der grundlegende psychologische Gehalt sexueller Beziehungen besteht. Mithin stützt unsere Analyse einen liberalen Gemeinplatz zu diesem Thema.

Die wirklich schwierigen Fälle sind Sadismus, Masochismus und Homosexualität. Die ersten beiden werden weiterhin als Perversionen aufgfaßt, über Homosexualität herrscht Uneinigkeit. In allen drei Fällen hängt das Problem teilweise mit kausalen Faktoren zusammen: Ergeben sich die fraglichen Dispositionen nur dann, wenn die normale Entwicklung gestört worden ist? Aber weil in dieser Frage das Wort »normal« vorkommt, ist sie schon der Form nach zirkulär. Es zeigt sich, daß wir ein unabhängiges Kriterium für einen störenden Einfluß benötigen, aber über kein solches verfügen.

Vielleicht ist es möglich, Sadismus und Masochismus als Perversionen zu klassifizieren, weil dabei keine interpersonelle Reziprozität erreicht wird. Der Sadismus ist schließlich darauf ausgerichtet, passive Selbstwahrnehmung bei anderen hervorzurufen; aber die Handlungen des Sadisten sind aktiv und setzen voraus, daß willkürliche Kontrolle ausgeübt wird – und dadurch kann verhindert werden, daß er sich selbst im erforderlichen Sinn als ein körperliches Subjekt von Leidenschaften wahrnimmt. De Sade behauptet, das Ziel sexuellen Verlangens bestehe darin, unwillkürliche Reaktionen des Partners hervorzurufen, und zwar in erster Linie hörbare. Sicherlich ist die Zufügung von Schmerzen das wirksamste Mittel, dies zu erreichen, aber dabei ist es erforderlich, daß der Sadist seine eigene Spontaneität bis zu einem gewissen Grade einschränkt! Ein Masochist drängt dagegen seinem Partner dieselbe Unfähigkeit auf, die der Sadist sich selbst auferlegt. Der Masochist kann eine befriedigende Verkörperung nur als Objekt der Kontrolle einer anderen Person erfahren, nicht aber als Objekt ihres sexuellen Verlangens. Er verhält sich passiv nicht in Relation zur Leidenschaft seines Partners, sondern im Hinblick auf dessen nichtpassives Verhalten. Außerdem ist die für Schmerz und physischen Zwang charakteristische Unterwerfung unter den Körper von ganz anderer Art als sie für sexuelle Erregung typisch ist: Schmerz führt nicht etwa zu Gelöstheit, sondern zu Verkrampfung. Diese Beschreibungen sind vielleicht nicht in allen Fällen richtig. Aber in dem Maße, in dem sie zutreffen, stellen Sadismus und Masochismus Störungen im zweiten Stadium der Wahrnehmung dar, der Wahrnehmung von sich selbst als einem Objekt des Verlangens.

Homosexualität läßt sich indessen keinesfalls in derselben Weise aus phänomenologischen Gründen als Perversion einstufen. Es gibt hier nichts, wodurch die Entfaltung des gesamten Spektrums interpersoneller Wahrnehmungen zwischen Gleichgeschlechtlichen ausgeschlossen würde. Die Frage muß also in Abhängigkeit davon entschieden werden, ob Homosexualität auf störende Einflüsse zurückgeführt werden kann, welche die natürliche Tendenz zu einer heterosexuellen Entwicklung blockieren oder beeinträchtigen. Und die Einflüsse müßten dabei in weitaus höherem Grade störend sein als jene, die zu einer Vorliebe für große Brüste, für blonde Haare oder für dunkle Augen führen. Denn auch dabei handelt es sich um Zufälligkeiten der sexuellen Neigungen, in denen sich die Menschen voneinander unterscheiden, ohne allerdings pervers zu sein.

In Frage steht also, ob sich die männlichen und weiblichen Dispositionen naturgemäß heterosexuell äußern, sofern sie nicht gestört werden. Das ist eine recht dunkle Frage, und ich weiß nicht, wie man sie beantworten könnte. Mancherlei spricht tatsächlich für eine aggressiv-passiv Differenzierung zwischen männlicher und weiblicher Sexualität. In unserer Kultur löst gewöhnlich die Erregung des Mannes den Austausch der Wahrnehmungen aus; die sexuelle Annäherung geht meist von ihm aus, er kontrolliert großenteils den Verlauf des Akts und natürlich ist er es, der penetriert, während sie empfängt. Haben zwei Frauen oder zwei Männer Geschlechtsverkehr miteinander, können nicht beide zugleich an diesen sexuellen Rollen festhalten. Aber auch bei heterosexuellem Geschlechtsverkehr treten beträchtliche Abweichungen von diesen Rollen auf. Frauen können sich sexuell durchaus aggressiv und Männer passiv verhalten, und es ist nicht ungewöhnlich, daß in einem länger andauernden heterosexuellen Austausch zeitweilig die Rollen gewechselt werden. Aus diesen Gründen scheint es zweifelhaft zu sein, ob Homosexualität eine Perversion sein muß, wenngleich sie, und zwar nicht anders als die Heterosexualität, pervertierte Formen annehmen kann.

Ich möchte mit einigen Bemerkungen über das Verhältnis von Perversionen zum Guten, zum Schlechten und zur Moral schließen. Man kann sich kaum vorstellen, daß der Begriff der Perversion nicht in gewissem Sinne wertend sein sollte, denn er scheint mit dem Gedanken eines Ideals oder immerhin mit der Vorstellung einer erfüllten Sexualität zusammenzuhängen, die von Perversionen in der einen oder anderen Weise nicht erreicht werden kann. Soll der Begriff also haltbar sein, muß das Urteil, daß eine Person, eine Praxis oder ein Wunsch pervers ist, eine sexuelle Wertung ausdrücken; und das impliziert, daß eine bessere Sexualität oder eine bessere Form von Sexualität möglich ist. Dies allein ist noch eine recht schwache Behauptung, denn Wertung könnte ja auch in einer Dimension erfolgen, die für uns nur von geringem Interesse ist. (Vorausgesetzt, meine Überlegungen sind richtig, wird dies allerdings schwerlich der Fall sein.)

Es ist aber eine gänzlich andere Frage, ob es sich in diesem Falle um eine moralische Wertung handelt – eine Frage, deren Beantwortung ein tieferes Verständnis sowohl der Moralität als auch von Perversionen erfordern würde, als es hier erreicht werden kann. Die moralische Wertung von Taten und Personen ist eine eigentümliche und höchst verwickelte Angelegenheit, und bei weitem nicht jede unserer Bewertungen von Personen und ihren Tätigkeiten ist bereits eine moralische Wertung. Wir fällen über die Schönheit, die Gesundheit oder die Intelligenz anderer ein Urteil, das durchaus bewertend und gleichwohl nicht ethischer Natur ist. Beurteilungen menschlicher Sexualität mögen in dieser Hinsicht vergleichbar sein.

Darüber hinaus ist es – wenn wir moralische Fragen nun einmal beiseite lassen – keineswegs selbstverständlich, daß nichtpervertierte Sexualität etwa den Perversionen notwendigerweise vorzuziehen ist. Es könnte so sein, daß irgendeine Form von Sexualität, die wegen ihrer Vollkommenheit als Sexualität am höchsten einzustufen wäre, weniger lustvoll ist als gewisse Perversionen; und wenn Lust für sehr wichtig gehalten wird, könnte dieser Gesichtspunkt bei der Ermittlung rationaler Präferenz schwerer ins Gewicht fallen als Überlegungen, die Vollkommenheit betreffen.

Damit kommt die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem wertenden Gehalt von Urteilen über Perversionen und der eher alltäglichen generellen Unterscheidung von guter und schlechter Sexualität auf. Diese letztere Differenzierung beschränkt sich normalerweise auf sexuelle Akte, und es scheint, daß sie bis zu einem gewissen Grade unabhängig von der anderen Unterscheidung ist: Wer Homosexualität für eine Perversion hält, kann trotzdem zugestehen, daß man zwischen besserer und schlechterer homoerotischer Sexualität unterscheiden kann, und er könnte sogar anerkennen, daß gute homoerotische Sexualität bessere Sexualität sein kann als ziemlich schlechte ›nichtpervertierte‹ Sexualität. Stimmt dies, wird damit also die Ansicht gestützt, daß die Frage, ob etwas als Perversion zu beurteilen ist (immer vorausgesetzt der Begriff der Perversion sei haltbar), höchstens einen Aspekt möglicher Wertung von Sexualität, ja sogar von Sexualität qua Sexualität, abdeckt. Er ist nicht einmal der einzige wichtige Aspekt: Auch sexuelle Unvollkommenheiten, bei denen es sich offensichtlich nicht um Perversionen handelt, können von größter Wichtigkeit sein.

Und selbst wenn pervertierte Sexualität bis zu einem gewissen Grade nicht so gut wäre, wie sie es sein könnte, bliebe schlechte Sexualität allemal noch immer besser als gar keine. Dies sollte eigentlich unstreitig sein: Denn nichts anderes scheint auch für andere wichtige Dinge, etwa für Essen und Trinken, für Musik, für Literatur und für den Kontakt zu anderen Menschen zu gelten. Letzten Endes muß man ja unter den Alternativen wählen, die einem wirklich offenstehen, wobei es ohne Bedeutung ist, ob es auf das äußere Umfeld oder auf eigene Veranlagung zurückzuführen ist, daß einem gerade diese Alternativen offenstehen. Und die Alternativen müssen schon ungemein düster sein, bevor es vernünftig wird, sich für schlechterdings nichts zu entscheiden.

Übersetzt von Karl-Ernst Prankel und Ralf Stoecker.

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