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III

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Eine Position der absolutistischen Spielart, die keine Interpretationsprobleme in sich birgt, wäre der Pazifismus: die Ansicht, daß man unter gar keinen Umständen einen anderen Menschen töten darf – gleichviel, was man auf diesem Wege an Gutem schaffen oder an Schlechtem abwenden könnte. Ich werde im folgenden aber eine andere absolutistische Ansicht diskutieren. Der Pazifismus bringt sich zu utilitaristischen Erwägungen immer in besonders drastischer Weise in Gegensatz, aber neben ihm kennen wir noch die andersartige Position, daß Gewaltanwendung genau dann zulässig werden kann, wenn sie besonders offenkundig gerecht wäre, ja, daß sie dann sogar auf breiter Flur zulässig sein mag, solange nur bestimmte absolutistische Einschränkungen in bezug auf Art und Stoßrichtung der Anwendung von Gewalt beachtet werden. Bei dieser Auffassung geht uns die Grenze ein wenig spürbarer unter die Haut – aber es ist eine Grenze.

Die Philosophin, der wir in den letzten Jahren die bedeutendsten Fortschritte in der philosophischen Erörterung dieser Position verdanken, und die auch jene Köpfe mit dem Thema vertraut gemacht hat, die sich nicht immer schon auskannten mit den weitläufigen Debatten dieser Frage in der katholischen Moraltheologie, ist G. E. M. Anscombe.1958 veröffentlichte Miss Anscombe aus gegebenem Anlaß der Verleihung der Ehrendoktorwürde von Oxford an den amerikanischen Präsidenten Harry Truman eine Streitschrift mit dem Titel Mr. Truman's Degree.4 Sie erläutert in dieser Streitschrift, warum sie sich der Entscheidung, Truman den Titel zu verleihen, seinerzeit widersetzt hatte, erzählt die Geschichte ihres erfolglosen Widerstands dagegen und stellt sowohl Überlegungen zum Hintergrund an, vor dem Truman seinen Entschluß faßte, auf Nagasaki und Hiroshima die beiden Atombomben zu werfen, als auch Überlegungen zur Differenz von Mord und zulässigem Töten im Kriegsfall. Man bekommt deutlich vor Augen geführt, daß eine Politik, deren Mittel oder Zweck es ist, massenweise Zivilisten umzubringen, ihren Ursprung nicht erst bei Truman hatte, sondern im Zweiten Weltkrieg bereits geraume Zeit vor Hiroshima bei allen Kriegsteilnehmern die gängige Praxis war. Unter den Flächenbombardements deutscher Städte durch die Alliierten mittels konventioneller Explosivwaffen waren Luftangriffe, die weitaus mehr Opfer forderten als der atomare Angriff auf Hiroshima und Nagasaki, und dasselbe gilt für eine Reihe amerikanischer Brandbombenangriffe auf Japan.

Eine Strategie, die darin besteht, die Zivilbevölkerung anzugreifen, um einen Feind zur Aufgabe zu zwingen oder seine Moral zu untergraben, scheint in der zivilisierten Welt allgemein gebilligt worden zu sein, und sie wird, wenn nur genug auf dem Spiel steht, offensichtlich auch heute noch weithin akzeptiert. Hieran gibt sich jene ethische Gesinnung zu erkennen, für dies es zulässig ist, nicht kämpfende Parteien wie Frauen, Kinder und Alte mit voller Absicht umzubringen, wenn es sich entsprechend lohnt. Und diese Gesinnung erwächst ihrerseits aus der generellen Überzeugung, daß ein hinreichend erstrebenswerter Zweck im Prinzip jedes Mittel heiligt. Eine solche Gesinnung verrät sich nicht allein an unseren imposanten neuzeitlichen Waffensystemen, sondern ebenso am tagtäglichen Kampfgeschehen im regional begrenzten Indochinakrieg: Sie zeigt sich an der wahllosen Menschenvernichtung durch Splitterbomben, Tretminen, Napalm und Flächenbombardements; an der Grausamkeit gegenüber Gefangenen; breit angelegten Zwangsumsiedlungen der Zivilbevölkerung; an der Erntevernichtung und dergleichen Scheußlichkeiten mehr. Eine absolutistische Überzeugung hält dieser Einstellung entgegen, daß bestimmte Handlungsalternativen auch ohne jedes Ansehen der Folgen einfach nicht zu rechtfertigen seien. Mord zählt zu diesen Handlungsweisen – also die absichtliche Tötung harmloser Menschen, von denen man nichts zu fürchten hat: Zivilisten, Kriegsgefangene oder Sanitätspersonal.

Im Vietnamkrieg werden derlei ›Maßnahmen‹ zwar hin und wieder als bedauerlich bezeichnet, doch üblicherweise mit militärischen Notwendigkeiten gerechtfertigt und damit, wie bedeutsam doch die langfristigen Folgen von Sieg oder Niederlage in diesem Kriege seien. Ich gestatte mir hier unberücksichtigt zu lassen, daß diese konsequentialistische Verteidigung sogar nach ihren eigenen Maßstäben schlicht inadäquat ist. (Denn darin besteht leider die heute vorherrschende moralische Kritik an diesem Krieg, die selber ein Teil der Gesinnung ist, die Leute zu erkennen geben, die fragen: »Ist er all dies eigentlich wert?«.) Mein Anliegen in diesem Kapitel sei im Gegenteil der Nachweis, daß jede solche Verteidigung dieser Handlungsweisen unangebracht bleibt.

Viele Menschen haben das Gefühl, allerdings ohne wesentlich mehr dazu sagen zu können, daß bereits etwas bedenklich schief gelaufen sein muß, wenn gewisse Maßnahmen überhaupt in Betracht gezogen werden konnten. Schon hier begeht man aber den fundamentalen Fehler und nicht erst an dem Punkt, wo die Entscheidung fällt, daß die allgemeine Effizienz irgendeiner Bestialität ihre Nachteile überwiege, und diese Maßnahme dann folglich ergriffen wird. Eine nähere Erläuterung des Absolutismus mag uns dies ein wenig verständlicher machen. Kann es unmöglich erlaubt sein, bestimmte Dinge zu tun, etwa wehrlose Gefangene oder harmlose Zivilisten umzubringen, wird uns kein Argument, das darauf verweist, was geschehen wird, falls man es nicht tut, beweisen können, daß es Rechtens ist, es dennoch zu begehen.

Natürlich verlangt der Absolutismus keineswegs, daß wir die Folgen unseres Tuns schlicht ignorieren. Er sieht seine Funktion darin, vielmehr die Grenzen utilitaristischer Erwägungen abzustecken, nicht an deren Stelle zu treten. So wird man selbst von einem Absolutisten erwarten können, daß er durchaus auch bemüht ist, Gutes zu maximieren und Schlechtes zu minimieren, solange ihm dieses Ziel nicht abverlangt, ein unbedingtes Verbot zu übertreten: also beispielsweise zu morden. Kommt es dennoch zu einem derartigen Konflikt, genießt dann dieses Verbot uneingeschränkten Vorrang vor jedwelcher Berücksichtigung von Konsequenzen oder Folgen. Einige mögliche Konsequenzen dieser Auffassung sind nur zu offensichtlich. Sie zwingt uns, von vornherein auf eine Vielzahl gegebenenfalls ›nützlicher‹ militärischer Maßnahmen zu verzichten: auf das Abschlachten von Geiseln oder Gefangenen und auf wahllose Versuche, die feindliche Zivilbevölkerung durch Aushungern, künstliche Epidemien wie Milzbrand und Beulenpest oder durch Flächenbrände zu dezimieren. Sie legt mithin Wert darauf, daß es nicht in unser Ermessen gestellt ist, derlei Maßnahmen im Rückgriff auf die Tatsache zu rechtfertigen, daß sie weitaus Schlimmeres verhüten würden, da wir sie als absichtlich begangene Handlungen niemals damit rechtfertigen dürfen, daß sie positive Folgen hätten, von welcher Größenordnung die negativen Folgen der Unterlassung der ›Maßnahme‹ auch immer wären.

Wer nicht recht vertraut wäre mit dem, was sich im zwanzigsten Jahrhundert so alles ereignet hat, könnte auf den Gedanken kommen, utilitaristische Argumente oder Argumente, die sich auf das künftige nationale Eigeninteresse beriefen, könnten doch eigentlich ausreichen, um Maßnahmen dieser Art zu verhindern. Doch hat es sich gezeigt, daß solche Erwägungen eben nicht ausgereicht haben, die Konzeption und Weiterentwicklung monströser, gegen die Zivilbevölkerung gerichteter Waffensysteme zu verhindern, nachdem deren Einsatz erst einmal ernsthaft als moralische Option in Betracht gezogen wurde. Nichts anderes gilt auch für die allmähliche Ausrottung von Landbevölkerungen in einem aus der Luft geführten Anti-Guerilla-Krieg. Hat man Nutzenkalkulationen und Kalkulationen des Nationalinteresses erst einmal die Tür geöffnet, stehen ebensogut den üblichen Spekulationen über das künftige Schicksal von Freiheit, Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand Tür und Tor offen, sobald es gilt, jenen das Gewissen zu erleichtern, auf deren Konto so manches verbrannte Baby geht.

Schon allein deshalb ist es wichtig, daß wir uns darüber im klaren sind, was an einer Gesinnung nicht stimmen kann, die eine Argumentation dieser Art auch nur zuläßt. Doch ebenso wichtig ist es, den Absolutismus selbst in jenen Fällen zu verstehen, in denen es wirklich zu einem genuinen Konflikt mit dem Nutzenstandpunkt kommt. Seiner beträchtlichen Attraktivität zum Trotz handelt es sich beim Absolutismus um eine paradoxe Position, denn er kann von uns verlangen, daß wir gegebenenfalls gar darauf verzichten, das unerheblichere von zwei Übeln zu wählen, obgleich uns gar keine andere Wahl als zwischen dem kleineren und dem größeren Übel bleibt. Und zusätzlich paradox ist er, da er uns, ganz im Gegensatz zum Pazifismus, unter den einen Umständen gestatten will, Menschen fürchterliche Dinge anzutun, und unter anderen Bedingungen wiederum nicht.

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