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Moralische Kontingenz

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Kant vertrat die Auffassung, Glück oder Pech dürften weder unsere moralische Bewertung eines Menschen und seiner Handlungen beeinflussen, noch unsere eigene moralische Selbsteinschätzung.

Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich gut, und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen, als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen, nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur, es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Absicht durchzusetzen; wenn bey seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freylich nicht etwa ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen.1

Vermutlich hätte Kant dasselbe über einen bösen Willen gesagt, daß es nämlich moralisch gar nicht relevant ist, ob er seine bösen Ziele tatsächlich verwirklicht. Ebensowenig kann eine Handlungsweise, die man tadeln würde, falls sie schlechte Folgen hätte, dadurch gerechtfertigt werden, daß sie sich zufälligerweise doch zum Guten wendet. Für Kant kann es also dergleichen wie moralisches Risiko nicht geben. Diese Auffassung scheint mir falsch zu sein. Allerdings reagiert sie auf ein fundamentales Problem im Hinblick auf moralische Verantwortung, für das wir keine befriedigende Lösung kennen.

Das Problem ergibt sich aus völlig alltäglichen Bedingungen moralischen Wertens. Bereits vor jeder ethischen Reflexion ist es intuitiv plausibel, daß niemand moralisch angeklagt werden kann für etwas, das nicht seine Schuld war, oder für etwas, das auf Faktoren zurückgeht, die sich seiner Kontrolle entziehen. Wertungen dieser Art unterscheiden sich von Einschätzungen, daß etwas eine gute oder schlechte Sache respektive ein guter oder schlechter Weltzustand sei. Solche Einschätzungen können zu einer moralischen Wertung noch hinzukommen, doch wenn wir jemanden wegen seiner Handlungen angehen, sagen wir nicht einfach bloß, es sei schlecht, daß sie sich ereignet haben oder daß es ihn gibt. Vielmehr verurteilen wir ihn selbst und sagen von ihm, er sei schlecht, was nicht einerlei damit ist, daß er etwas Schlechtes sei. Eine moralische Wertung läßt sich nur auf bestimmte Adressaten anwenden. Ohne genau angeben zu können warum, spüren wir immerhin, wie überaus leicht moralische Wertungen durch die Entdeckung ins Wanken geraten, daß jemandes Handlung oder seine persönlichen Eigenschaften, egal wie gut oder schlecht, nicht unter seiner Kontrolle stehen. Wenn auch andere Bewertungen standhalten, scheinen diese dann ihre Berechtigung zu verlieren. Jedes eindeutige Fehlen von Kontrolle, sei es verursacht durch eine unwillkürliche Bewegung, physischen Zwang oder Unwissenheit über die Umstände, entschuldigt vom moralischen Standpunkt aus, was getan wurde. Aber was wir tun, hängt noch auf vielerlei andere Weise von Faktoren ab, die wir nicht in der Hand haben – oder kantisch gesprochen: von etwas, das nicht von einem guten oder bösen Willen bewirkt wurde. Und doch gilt es uns normalerweise als ausgemacht, daß externe Einflüsse in diesem weiteren Sinne Handlungen nicht entschuldigen, daß sie die (positive oder negative) Wertung des Begangenen nicht ausschließen.

Ich möchte nun einige Beispiele geben und dabei mit der Art von Fällen beginnen, die Kant vor Augen hatte. Ob etwas, das wir versuchen, uns gelingt oder mißlingt, hängt nahezu immer in gewissem Maße von Faktoren ab, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. Das gilt für Mord ebenso wie für Altruismus oder für Revolutionen; ja, es gilt sogar wenn wir eigene Interessen zum Wohle anderer hintanstellen – also für fast jede Handlung, die moralisch relevant ist. Was dann jeweils getan wurde, was mithin moralischer Wertung unterliegt, wird von externen Faktoren mitverursacht. Wie sehr der gute Wille auch für sich selbst gleich einem Juwel glänzen mag, besteht doch ein moralisch wesentlicher Unterschied zwischen der Situation, in der ich jemanden aus einem brennenden Gebäude in Sicherheit bringe, und einer Situation, in der ich ihn bei meinem Rettungsversuch aus einem Fenster im zwölften Stock fallen lasse. Und entsprechend besteht ein moralisch bedeutsamer Unterschied zwischen rücksichtslosem Fahren und fahrlässiger Tötung. Doch ob es tatsächlich dazu kommt, daß ein Fußgänger überfahren wird, hängt davon ab, ob er sich gerade an der Stelle befindet, an der ein rücksichtsloser Fahrer bei Rot durchrast. Und ebensogut hängt, was einer tut, von den Möglichkeiten und Alternativen ab, mit denen er konfrontiert ist, und diese sind wiederum großenteils von Faktoren mitdeterminiert, die nicht seiner Kontrolle unterliegen. Einer, der faktisch Aufseher in einem Konzentrationslager wurde, hätte womöglich ein ruhiges und harmloses Leben geführt, wären die Nazis in Deutschland nie an die Macht gekommen. Oder umgekehrt: Jemand, der in Argentinien ein ruhiges und harmloses Leben verbracht hat, wäre vielleicht Scherge in einem Konzentrationslager geworden, hätte er Deutschland nicht aus geschäftlichen Gründen im Jahre 1930 verlassen.

Später werde ich näher auf diese und weitere Fälle eingehen. Ich führe sie an dieser Stelle ein, um eine allgemeine These deutlich zu machen: Wann immer ein wesentlicher Aspekt dessen, was ein Mensch tut, von Faktoren abhängt, die nicht seiner eigenen Kontrolle unterliegen, und wir ihn unbeschadet dessen in der betreffenden Hinsicht nach wie vor als Gegenstand moralischer Wertung behandeln, können wir von moralischer Kontingenz sprechen. Bei derlei Kontingenz kann es sich um moralisches Glück handeln oder um moralisches Pech. Die Schwierigkeit, die im Zusammenhang mit diesem Phänomen aufkommt (und Kant gar veranlaßte, die Möglichkeit des Phänomens selbst in Abrede zu stellen) besteht darin, daß der globale Bereich externer Einflüsse, von dem die Rede war, bei genauerer Prüfung eine moralische Wertung ebenso unbestreitbar untergräbt, wie der engere Bereich der uns vertrauteren Entschuldigungsgründe für eine Handlung. Wendeten wir durchgängig die Bedingung der Kontrollierbarkeit an, würden sich infolgedessen die meisten unserer moralischen Wertungen aufzulösen drohen, die wir für selbstverständlich halten. Dinge, für die Menschen moralisch beurteilt werden, hängen in weit erheblicherem Maße von Vorgängen ab, die gar nicht erst ihrer Kontrolle unterliegen, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. Und sobald man die scheinbar so natürliche Bedingung von Schuld oder Verantwortlichkeit dann im Lichte all dieser Tatsachen betrachtet, bleiben nur wenige unserer präreflexiven moralischen Wertungen unberührt. Ja, letzten Endes scheint nichts oder annähernd nichts von dem, was ein Mensch tut, von ihm allein kontrolliert zu werden.

Warum dann nicht schließen, daß die Kontrollierbarkeitsbedingung eben falsch ist – daß es sich bei ihr um eine anfänglich plausible Hypothese handelt, die sich jedoch in Anbetracht zwingender Gegenbeispiele nicht mehr halten läßt? Dann könnte man nämlich nach einer differenzierten Bedingung suchen, die jene Arten eingeschränkter Kontrollierbarkeit namhaft machen würde, die wirklich bestimmte moralische Wertungen untergraben, und so der inakzeptablen Konsequenz ausweichen, die sich aus der globaleren Bedingung ergäbe, daß womöglich die meisten oder gar alle moralischen Wertungen, die wir tagtäglich vornehmen, illegitim sind.

Was uns diesen Ausweg verunmöglicht, ist, daß wir es hier nicht nur mit einer theoretischen Hypothese zu tun haben, sondern mit einem philosophischen Problem. Die Kontrollierbarkeitsbedingung empfiehlt sich nicht einfach bloß aufgrund einer Verallgemeinerung, die auf einer Reihe eindeutiger Fälle beruht. Sie scheint uns gerade auch angewandt auf Fälle, die außerhalb der anfänglichen Fallmenge liegen, von vornherein die korrekte Bedingung zu sein. Sobald man moralische Wertung außer Kraft setzt, indem man sich darüber klar wird, daß noch ganz andere, neue Faktoren der Unkontrollierbarkeit im Spiel waren, entdeckt man nicht einfach nur, was unter Voraussetzung jener allgemeinen Hypothese folgen würde, sondern man ist dann tatsächlich überzeugt davon, daß auch in den anderen Fällen das pure Fehlen der Kontrollierbarkeit bereits entscheidend ist. Zur Erosion moralischen Wertens kommt es nicht etwa als absurde Konsequenz einer womöglich zu grob vereinfachenden Theorie, sondern vielmehr als natürliche Konsequenz unserer alltäglichen Vorstellung moralischer Wertung selbst, nunmehr vor dem Hintergrund einer eben vollständigeren und präziseren Berücksichtigung der Tatsachen. Es wäre daher fehlerhaft, aus der Unannehmbarkeit der Konsequenzen schließen zu wollen, eine andersartige Theorie der Bedingungen moralischer Verantwortlichkeit werde nötig. Die Ansicht, daß moralische Kontingenz paradox ist, war ja kein Fehler – und zwar weder ein ethischer noch ein logischer – sondern eine genuine Einsicht in eine der Weisen, auf die eine intuitiv einleuchtende Bedingung der Möglichkeit moralischen Wertens in der Tat alles zu untergraben droht.

Die Problemlage gleicht der in einer anderen Disziplin der Philosophie, nämlich der Erkenntnistheorie. Auch dort drohen Bedingungen, die vollkommen selbstverständlich zu sein scheinen und die aus alltäglichen Verfahren erwachsen, mit denen man Erkenntnisansprüche in Frage stellt oder verteidigt, alle diese Ansprüche zu untergraben, sobald man jene Bedingungen nur konsequent anwendet. Die meisten skeptischen Argumente haben die folgende Eigenschaft: Sie beruhen nicht etwa darauf, daß man willkürlich strenge Maßstäbe an menschliches Wissen heranträgt, die auf einem Mißverstehen solchen Wissens beruhen, sondern kommen unvermeidlich auf, sobald man die alltäglichen Maßstäbe nur konsequent anwendet.2 Darüber hinaus liegt aber auch inhaltlich eine genuine Parallele vor, denn auch der erkenntnistheoretische Skeptizismus erwächst ja aus der Betrachtung derjenigen Hinsichten, in denen unsere Meinungen und ihr Realitätsbezug von Faktoren abhängen, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. Es sind sowohl äußere als auch innere Ursachen, die menschliche Meinungen generieren. Wir können zwar diese Prozesse in der Absicht, Irrtümer zu vermeiden, einer genauen Prüfung unterziehen, doch unsere Ergebnisse resultieren dann auf der jeweils nächsten Stufe ihrerseits zu einem wesentlichen Teil aus Einflüssen, die wir erneut nicht unmittelbar kontrollieren. Und das wird immer so bleiben, gleichviel, wie weit wir die Untersuchung vorantreiben. Unsere Meinungen werden immer und ausnahmslos auch von Ursachen abhängig sein, die jenseits menschlicher Kontrolle liegen, so daß die Unmöglichkeit, diese Faktoren zu überlisten, ohne uns zugleich wieder anderen auszuliefern, uns daran zweifeln läßt, ob wir überhaupt etwas wirklich wissen. Es sieht dann so aus, als handle es sich gar nicht erst um Wissen, sondern eher um schiere biologische Kontingenz, daß überhaupt eine Reihe unserer Überzeugungen wahr sind.

Moralische Kontingenz ist ein vergleichbarer Sachverhalt, denn obwohl die natürlichen Objekte moralischer Wertung in vielerlei Hinsichten entweder nicht unserer eigenen Kontrolle unterliegen oder doch durch Faktoren beeinflußt werden, die wir nicht unter Kontrolle haben, können wir diese Tatsachen nicht einbeziehen, ohne die Möglichkeit einzubüßen, an unseren moralischen Wertungen festzuhalten.

Im großen und ganzen unterliegen die natürlichen Adressaten moralischer Wertung in vier gleichermaßen beunruhigenden Hinsichten unbestreitbar der Kontingenz: Zum einen kennen wir das Phänomen der Kontingenz der eigenen inneren Konstitution. Hier handelt es sich darum, zu welcher Art Mensch man gehört, wobei dies eben nicht nur eine Frage dessen ist, was jemand absichtlich tut, sondern welche Neigungen, Fähigkeiten und Charakteranlagen er hat. Eine zweite Kategorie ist die der Kontingenz der eigenen Umstände, und damit die der Prüfungen und Situationen, auf die einer sich einstellen muß. Die dritte und vierte Kategorie haben beide mit den Ursachen und Wirkungen des Handelns zu tun: mit Kontingenzen darin, wie man durch vorausliegende Umstände bestimmt wird, und Kontingenzen dahingehend, wie die eigenen Handlungen und Projekte in der Folge ausgehen. Alle vier Kategorien führen auf ein ihnen gemeinsames Problem. Sie alle stehen quer zu der ethischen Vorstellung, daß jemand nur für jenen Bruchteil der Ereignisse gelobt oder getadelt werden kann, der wirklich seiner Kontrolle unterliegt und für nichts sonst. Ihr will es geradezu irrational scheinen, daß wir überhaupt Lob oder Tadel entgegennehmen oder spenden für Dinge, auf die ein Mensch keine Kontrolle ausübt, oder für ihren Einfluß auf Folgen, die er nur zu einem Teil mitkontrolliert hat, da dergleichen zwar die Bedingungen menschlichen Handelns generieren mag, doch dieses Handeln selbst sich nur in dem Maße werten läßt, als es über solche Bedingungen gerade hinausgeht und sich nicht einfach nur aus ihnen ergibt.

Betrachten wir zunächst den Fall der Kontingenz im Hinblick darauf, wie die Dinge letztlich ausgehen – mag es sich dabei nun um Glück oder Pech handeln. Kant denkt in dem eingangs zitierten Passus an ein Beispiel dieser Kategorie, die allerdings ein weites Feld abdeckt: etwa den LKW-Fahrer, dem zufällig ein Kind ins Fahrzeug läuft, oder den Künstler, der eine Schar von fünf Kindern samt Ehefrau verläßt, um sich nur noch der Malerei zu widmen3, ganz zu schweigen von Möglichkeiten, in denen der Erfolg oder Mißerfolg noch weitaus weltbewegender ausfallen können. Dort, wo der LKW-Fahrer sich nicht das mindeste hat zuschulden kommen lassen, wird er sich dennoch furchtbar elend fühlen wegen seines Anteils an dem Unfall. Doch moralische Vorwürfe wird er sich keine machen müssen, und deshalb wird es sich hier zwar um ein Beispiel für jenes typische Bedauern handeln, das ein Akteur dem eigenen Handeln gegenüber empfinden mag, aber noch nicht um den Sonderfall spezifisch moralischen Pechs. Hätte sich der LKW-Fahrer indes nur im mindesten der Fahrlässigkeit schuldig gemacht – etwa weil er es verabsäumt hätte, turnusgemäß seine Bremsen überprüfen zu lassen – würde er sich, sofern dieses Versäumnis zum Tod des Kindes beigetragen hätte, nicht allein elend fühlen, sondern er würde sich moralische Vorwürfe wegen des toten Kindes machen. Und was dies zu einem Fall moralischer Kontingenz macht, ist der Umstand, daß er sich wegen seiner Fahrlässigkeit kaum schuldig fühlen müßte, wäre er nicht in jene Unfallsituation geraten, die ihn zwang, plötzlich und heftig seine Bremsen zu beanspruchen, um abzuwenden, daß ein Kind überfahren wird. Doch ist die Fahrlässigkeit in beiden Fällen eine und dieselbe, und der LKW-Fahrer hat keinerlei Kontrolle darüber, ob ihm ein Kind in den Weg läuft.

Dasselbe gilt auch für Fälle gravierenderer Fahrlässigkeit. Hat einer zuviel getrunken und schlittert er daraufhin mit seinem Auto über einen Bürgersteig, kann er in moralischer Hinsicht von Glück reden, wenn sich dort gerade keine Fußgänger befinden. Sonst würde man ihn nämlich für deren Tod verantwortlich machen müssen und ihn vermutlich wegen fahrlässiger Tötung strafrechtlich verfolgen. Verletzt er hingegen niemanden, macht er sich, wiewohl seine Rücksichtslosigkeit in beiden Fällen genau dieselbe ist, einer viel leichteren Straftat schuldig. Er wird sich dann sicherlich geringere Vorwürfe machen und auch von anderen weit weniger streng beurteilt werden. Oder um ein schlagendes Beispiel aus dem rechtlichen Bereich anzuführen: Das Strafmaß für versuchten Mord ist bedeutend weniger hoch als das für vollendeten Mord, wie sehr sich die Absichten und Motive des Täters in beiden Fällen auch gleichen mögen. Selbst das Ausmaß der Schuld kann also davon abhängen, so sieht es doch offenbar aus, ob das Opfer zufällig eine kugelsichere Weste trägt oder ob gerade ein Vogel in die Flugbahn der Kugel hineinfliegt – von Umständen, die schwerlich der Kontrolle des Handelnden unterliegen.

Und schließlich gibt es noch jene Fälle, in denen eine Handlungsentscheidung unter Bedingungen der Unsicherheit getroffen wird – und es gibt sie im öffentlichen Leben wie im Privatleben. Anna Karenina brennt mit Vronsky durch, Gauguin läßt seine Familie hinter sich, Chamberlain unterzeichnet das Münchner Abkommen, die Dekabristen überreden die unter ihrem Kommando stehenden Truppen, sich gegen den Zaren zu erheben, die amerikanischen Kolonien erklären ihre Unabhängigkeit von England, oder du selbst stellst in dem Bemühen, eine Heirat zu vermitteln, zwei Menschen einander vor. Man ist hier versucht zu wähnen, daß es in allen diesen Fällen bereits im Lichte dessen, was zu dem jeweiligen Zeitpunkt bekannt ist, einfach möglich sein muß, irgendeine Entscheidung zu treffen, die auch unabhängig davon, wie die Dinge ausgehen, gegen moralische Vorwürfe immun bliebe. Das ist jedoch schlicht nicht wahr, denn wer in der einen oder anderen Weise so handelt, nimmt sein Leben mitsamt seinem moralischen Ansehen in die eigenen Hände; was jemand dann begangen hat, hängt nunmehr davon ab, welche Wendung die Ereignisse nehmen werden. Es ist natürlich auch möglich, die Entscheidung aus der Perspektive dessen zu werten, was zu dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen wurde, über die Umstände bekannt sein konnte, aber damit hat die Sache schwerlich schon ein Ende. Hätten die Dekabristen Erfolg gehabt, hätten sie also Nikolaus den Ersten 1825 gestürzt und eine konstitutionelle Regierungsform durchgesetzt, wären sie zu Helden geworden. So, wie die Dinge aber wirklich ausgingen, scheiterten sie nicht allein und mußten dafür büßen, sondern sie trugen auch ein gewisses Maß an Mitverantwortung für die schreckliche Bestrafung der Truppen, die sie für ihre Ziele gewonnen hatten. Wäre die amerikanische Revolution ein blutiger Mißerfolg gewesen, der in noch weit größerer Unterdrückung geendet hätte, dann wäre Jefferson, Franklin und Washington zwar nach wie vor ein anerkennenswerter Versuch zugute zu halten, den sie womöglich auf ihrem Weg zum Schafott noch nicht einmal bedauert hätten, doch hätten sie sich dann andererseits auch Vorwürfe dafür machen müssen, was ihretwegen ihren Landsleuten angetan wurde. (Vielleicht hätten ja auch friedliche Reformbestrebungen letzten Endes zum Erfolg geführt.) Oder wäre Hitler nicht über ganz Europa hergefallen und hätte er nicht Millionen von Menschen vernichten lassen, sondern wäre er kurz nach der Besetzung des Sudetenlandes an Herzversagen gestorben, dann wäre Chamberlains Unterzeichnung des Münchener Abkommens zwar immer noch ein schwerer Verrat an den Tschechen gewesen, nicht aber die moralische Katastrophe, aufgrund derer sein Name in aller Munde war.4

Oft genug können wir bei vielen schwierigen Entscheidungen die Auswirkungen nicht mit hinreichender Sicherheit vorhersehen. Eine Art der Bewertung einer Entscheidung mag jeweils antizipiert werden, bei einer anderen aber ist das Ergebnis abzuwarten, da von den Folgen ja abhängt, was letztlich begangen wurde. Ein und derselbe Grad von Schuld oder Verdienst bei Absichten, Motiven und Interessen ist hier kompatibel mit den unterschiedlichsten endgültigen Wertungen, sowohl positiver als auch negativer Art, die von Ereignissen abhängen, die erst eintreten, nachdem die Entscheidung gefällt worden ist. Die Gründe moralischen Wertens erschöpfen sich keinesfalls in jener mens rea, die auch ohne alle Folgen existiert haben könnte. In sehr vielen Bereichen, die fraglos allesamt Fälle ethischer Wertung sind – ihr Spektrum reicht von Fahrlässigkeit bis hin zu politischen Prinzipienentscheidungen – hängen Schuld oder Verdienst von den tatsächlich eingetretenen Folgen ab.

Daß es sich gleichwohl um genuin moralische Wertungen handelt und nicht etwa nur darum, einer zeitweiligen Einstellung Ausdruck zu verleihen, läßt sich aus der Tatsache ersehen, daß man ja bereits im voraus angeben kann, in welcher Weise unser moralisches Urteil später von den eingetretenen Folgen abhängen wird. Hat jemand leichtsinnigerweise ein Baby in einer vollaufenden Badewanne allein gelassen, wird ihm, noch während er die Treppe zum Badezimmer hinaufeilt, mit einem Male klar, daß er etwas Schreckliches getan hat, falls das Kind ertrunken ist, während er andernfalls bloß unachtsam gewesen ist. Und wer eine gewaltsame Revolution gegen ein autoritäres Regime vom Zaun bricht, weiß von vornherein, daß er für eine Menge vergeblichen Leids verantwortlich sein wird, falls sie mißlingt, doch ebensogut weiß er, daß er, wenn er Erfolg hat, durch das Ergebnis sehr wohl gerechtfertigt sein wird. Ich sage damit keinesfalls, daß jede Tat rückwirkend durch den Gang der Geschichte gerechtfertigt werden kann. Gewisse Handlungen sind bereits für sich betrachtet dermaßen schlimm oder riskant, daß kein Ergebnis sie je wiedergutmachen könnte. Aber auch dort, wo moralische Wertungen von den Folgen abhängen, bleiben sie allemal objektiv und zeitlos gültig und ihre Gültigkeit hängt nicht etwa von einem durch den Erfolg oder Mißerfolg produzierten Perspektivenwechsel ab. Die Wertung post festum ergibt sich aus einem hypothetischen Urteil, das immer schon im voraus möglich ist und ebensogut vom Handelnden selbst wie von einem anderen hätte gefällt werden können.

Beharrt man hingegen auf dem Standpunkt, daß Verantwortlichkeit an Kontrollierbarkeit gebunden ist, scheint dies alles absurd zu sein. Wie sollte es denn möglich sein, daß einen Menschen eine schwerere oder eine leichtere Schuld trifft, je nachdem, ob ihm ein Kind in den Weg läuft oder ein Vogel in die Flugbahn der Kugel fliegt? Es mag ja wahr sein, daß das, was begangen wurde, von mehr abhängt als dem geistigen Zustand und den Absichten des Akteurs. Dann stellt sich aber das Problem, weshalb es denn nicht geradezu irrational sein sollte, moralische Wertung auf all das zu gründen, was Menschen in diesem weiten Sinne tun, denn das liefe doch darauf hinaus, sie sowohl für jenen Beitrag verantwortlich zu machen, der auf das Konto des Schicksals geht, als auch für den, der auf ihr eigenes Konto geht – wenn sie denn überhaupt etwas beigetragen haben, das rein auf ihr eigenes Konto geht. Denken wir an Fälle von Fahrlässigkeit oder an Attentatsversuche, scheint es sich im allgemeinen so zu verhalten, daß die Gesamtschuld das Produkt aus dem vorsätzlichen oder absichtlichen Vergehen und der Tragweite der Auswirkungen ist. Fälle von Entscheidung unter Bedingungen der Ungewißheit lassen sich auf diese Weise nicht so einfach erklären; denn hier scheint es, daß sich die Gesamtwertung je nach den Auswirkungen sogar vom Positiven zum Negativen wenden kann. Aber selbst hier hat es doch den Anschein der Vernünftigkeit, von den Wirkungen der auf eine Entscheidung folgenden Ereignisse, die zu dem betreffenden Zeitpunkt bloß möglich waren, abzusehen. Es scheint vernünftig, die moralische Wertung statt dessen auf die eigentliche Entscheidung im Lichte der zu diesem Zeitpunkt bekannten Wahrscheinlichkeiten zu konzentrieren. Ist der Adressat moralischer Wertung stets die Person, würde es unbeschränkter Haftung entsprechen, sie für all das verantwortlich machen zu wollen, was sie in jenem weiteren Sinne getan hat. Ein solches Prinzip mag zwar in der juridischen Sphäre seinen guten Sinn haben, doch als Standpunkt der Moral eignet ihm ein Nimbus der Irrationalität.

Ein solcher Gedankengang liefe darauf hinaus, jede Handlung auf ihren ›moralisch essentiellen Kern‹ einzuschränken, eben auf einen inneren Akt des reinen Willens, der rein nach Antrieb und Absicht zu beurteilen ist. Adam Smith hat eine solche Position in seiner Theorie der ethischen Gefühle verteidigt, merkt allerdings auch an, daß sie mit unserem tatsächlichen Werten erst gar nicht in Einklang steht:

So fest wir aber auch anscheinend von der Wahrheit dieses gerechten Grundsatzes überzeugt sein mögen, solange wir ihn auf die angegebene Weise in abstracto ins Auge fassen, so werden doch, wenn wir zur Betrachtung einzelner konkreter Fälle schreiten, die tatsächlichen Folgen, die zufällig aus einer Handlung entspringen, einen sehr großen Einfluß auf unser Gefühl von ihrer Verdienstlichkeit oder Tadelnswürdigkeit üben, und sie werden nahezu immer diese unsere Empfindung entweder steigern oder herabsetzen. Bei genauer Prüfung werden wir vielleicht kaum in einem einzigen Falle finden, daß sich unsere Gefühle ganz und gar durch jene Regel bestimmen lassen, die, wie wir alle anerkennen, doch ausschließlich unsere Gefühle bestimmen sollte.5

Darüber hinaus führt uns Feinberg vor Augen6, daß keine Beschränkung des Bereichs moralischer Verantwortlichkeit auf eine reine Innenwelt Verantwortlichkeit jemals gegen moralische Kontingenz immunisieren könnte. Faktoren, die jenseits der Kontrolle eines Handelnden liegen – wie z. B. ein Hustenanfall – können seine Entscheidung ebenso sicher beeinträchtigen wie die Flugbahn der Kugel aus seinem Gewehr. Alledem zum Trotz ist die Tendenz weitverbreitet, den Bereich dessen, was moralischer Wertung unterzogen werden kann, einzugrenzen, und sie beschränkt sich keineswegs darauf, den Einfluß von Folgen abzuschwächen. Man ist geneigt, den Willen sozusagen auch nach der anderen Richtung hin abzuschirmen, indem man die Kontingenz der eigenen Konstitution ebensogut ausgrenzt. Gehen wir dem als nächstes nach.

Es war vor allem Kant, der besonderen Nachdruck darauf legte, Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften, solange sie nicht der Kontrolle des Willens unterlägen, seien ethisch irrelevant. Qualitäten wie Warmherzigkeit oder Gefühlskälte mögen zwar Randbedingungen schaffen, unter denen es mehr oder minder schwer fällt, moralischen Aufforderungen Folge zu leisten, könnten aber nicht selbst Gegenstand moralischer Wertung sein, und sie könnten eine sichere Beurteilung des eigentlichen Gegenstands moralischer Wertung, nämlich die Bestimmung des Willens durch das Motiv der Pflicht, sogar beeinträchtigen. Damit wird aber von vornherein eine moralische Bewertung zahlreicher Tugenden und Schwächen ausgeschlossen, die eben Charakterzüge sind und durchaus jemandes Motivation beeinflussen, die sich aber mit Sicherheit nicht in Dispositionen zu bestimmten überlegten Handlungen erschöpfen. Eine Person mag habgierig, mißgünstig, feige, gefühllos, geizig, unfreundlich, eingebildet oder eitel sein, und sich dennoch in einer gewaltigen Willensanstrengung korrekt benehmen. Solche Laster zu haben bedeutet, daß man sich unter gewissen Umständen bestimmter Gefühle nicht erwehren kann und spontane Impulse verspürt, schlecht zu handeln. Diese Laster hat man auch dann noch, wenn man die von ihnen ausgehenden Impulse kontrollieren kann. Ein neidischer Mensch haßt nach wie vor den größeren Erfolg anderer und wäre als neidischer Mensch selbst dann noch moralisch zu verurteilen, wenn er anderen freundlich gratulierend gegenübertritt und nichts unternimmt, ihren Erfolg zu schmälern oder zunichte zu machen. Eitelkeit muß ja nicht äußerlich sichtbar sein. Wer einfach nicht anders kann als sich ständig mit heimlicher Genugtuung die Überlegenheit seiner Leistungen und Talente, seiner Schönheit, seiner Intelligenz und Tugend zu vergegenwärtigen, ist und bleibt gewiß auch dann eitel, wenn er diese Genugtuung nicht offen zur Schau trägt. Bis zu einem gewissen Grade kann eine solche Eigenschaft das Ergebnis früherer Entscheidungen sein; und zu einem Teil kann sie auch Änderungen zugänglich sein, die durch neues Handeln bewirkt werden. Doch zum überwiegenden Teil gehen diese Eigenschaften auf unglückliche Kontingenzen der eigenen inneren Konstitution zurück. Dennoch wird man ihretwegen moralisch verurteilt, und andere Eigenschaften, die ebensowenig der willkürlichen Kontrolle unterliegen, werden einem zugute gehalten: Menschen wertet man danach, wie sie sind.

Kant müssen solche Wertungen inkohärent erscheinen, denn bei ihm haben wir haben ja alle die Pflicht zur Tugend, und daher muß es von vornherein auch jedermann möglich sein, ihren moralischen Aufforderungen Folge zu leisten. Manch einem mag dies leichter fallen als anderen, aber völlig unabhängig davon, wie man charakterlich veranlagt ist, muß es stets möglich sein, dieses Ziel zu erreichen, indem man die rechte Entscheidung trifft7 Man mag sich wünschen, großzügig zu sein oder es bedauern, kleinlich zu sein, aber es ist ungereimt, sich selbst oder jemand anderen einer Eigenschaft wegen zu verurteilen, die man nicht willkürlich kontrollieren kann: Schließlich drückt eine moralische Verurteilung ja aus, daß man nicht so sein soll, wie man ist, und besagt nicht, daß es bedauerlich ist, daß man eine bestimmte Eigenschaft hat.

Gleichwohl ist und bleibt Kants Schlußfolgerung intuitiv nicht akzeptabel. Man kann uns davon zu überzeugen suchen, daß unsere moralischen Wertungen irrational sind, aber sobald wir das Argument dafür nicht mehr unmittelbar vor Augen haben, drängen sie sich uns unwillkürlich wieder auf. Das ist das Grundmuster, das sich durch unser gesamtes Thema hindurchzieht.

Die dritte zu beachtende Kategorie betrifft Kontingenzen der äußeren Umstände, in denen man sich befindet, und ich werde sie nur kurz ansprechen. Die Dinge, die wir tun müssen, wie auch die moralischen Prüfungen, denen wir uns zu unterziehen haben, sind in erheblichem Maße jederzeit von Faktoren determiniert, die sich unserer Kontrolle entziehen. Es mag ja sein, daß sich jemand in einer gefährlichen Situation feige oder aber heroisch verhalten würde, doch falls sich niemals eine entsprechende Lebenslage ergibt, wird er auch niemals Gelegenheit haben, sich in dieser Weise hervorzutun respektive in unserer Achtung zu sinken. Sein moralischer Ruf wird vielmehr ein anderer sein.8

Ein in unserem Jahrhundert unübersehbares Beispiel für dieses Phänomen stammt aus dem politischen Leben. Der Durchschnittsbürger in Nazideutschland hatte Gelegenheit, Widerstand gegen sein Regime zu leisten und sich damit heroisch zu verhalten. Er hatte aber auch die Möglichkeit, sich schlecht zu verhalten – und den meisten Deutschen ist vorzuwerfen, bei dieser Prüfung gravierend versagt haben. Es handelte sich allerdings um eine Prüfung, der sich die Bürger anderer Staaten erst gar nicht unterziehen mußten, was wiederum heißt, daß sich letztere faktisch einfach nicht schlecht verhalten haben – selbst wenn sie (oder wenigstens manche von ihnen) sich unter ähnlichen Voraussetzungen ebenso schlecht verhalten hätten wie die Deutschen – und sich deshalb nicht in der gleichen Weise schuldig gemacht haben wie sie. Auch in diesem Falle ist man also in moralischer Hinsicht in einer Weise dem Zufall ausgeliefert, die bei näherem Nachdenken irrational scheinen kann – und doch wären unsere gewohnten moralischen Haltungen und Einstellungen ohne dieses Phänomen ja schwerlich wiederzuerkennen! Wir werten Menschen allemal nach ihren tatsächlichen Handlungen und Unterlassungen, und nicht bloß danach, was sie getan hätten, wären die Lebensumstände andere gewesen.9

Auch diese Form des moralischen Bestimmtseins durchs Faktische ist paradox; aber wir beginnen zu begreifen, wie tief die Paradoxie im Begriff der Verantwortlichkeit selbst verwurzelt sein muß. Ein Mensch kann nur für das, was er begeht, moralisch verantwortlich sein; aber was er begeht, resultiert aus sehr vielen Umständen, für die er nichts kann. Mithin kann er moralisch nichts für das, wofür er sowohl etwas kann als auch nichts kann. Das ist nicht irgendeine Kontradiktion, sondern es handelt sich tatsächlich um eine echte Paradoxie.

Es sollte auf der Hand liegen, daß ein Zusammenhang gegeben ist zwischen dem Problem der Verantwortlichkeit und Kontrolle auf der einen Seite und dem uns noch besser vertrauten traditionellen Problem der Willensfreiheit auf der anderen. Und damit wäre der letzte Typus moralischer Kontingenz erreicht, den ich ansprechen möchte, allerdings kann ich im Rahmen dieses Essays nurmehr die Zusammenhänge zwischen diesem und den anderen Typen moralischer Kontingenz andeuten.

Kann einer nichts für all die Handlungsfolgen, die sich seiner Kontrolle entziehen, sowie ebensowenig etwas für jene Anfangsbedingungen des Handelns, die seine nicht willkürlich kontrollierbaren Charaktereigenschaften ihm vorgeben, und schließlich auch nichts für die Umstände, die ihn vor moralische Entscheidungen stellen, wie kann er dann auch nur für die nackten Willensakte etwas können, wenn diese ja ihrerseits das Produkt von Voraussetzungen sind, die außerhalb der Kontrolle des eigenen Willens liegen?

Der Bereich des Handelns im eigentlichen Sinne und damit auch der Bereich legitimen moralischen Wertens scheint bei genauerem Hinsehen geradezu auf einen ausdehnungslosen Punkt zusammenzuschnurren. Alles und jedes scheint sich aus dem Einfluß einander ergänzender und zusammenwirkender Faktoren zu ergeben, die dem Handeln entweder vorausliegen oder erst nachträglich wirksam werden, und die der Akteur nicht kontrollieren kann. Da er aber für diese Faktoren nichts kann, kann er folglich auch nichts für deren Auswirkungen – wenngleich es möglich bleiben mag, sich nunmehr ästhetische oder andere wertende Analoga zu den auf diese Weise verbannten moralischen Einstellungen zu eigen zu machen.

Man könnte die Angelegenheit natürlich auch aussitzen wollen und sich frech weigern, die Ergebnisse des vorgeführten Gedankenganges anzuerkennen – die ja in der Tat nur so lange akzeptabel erscheinen, wie wir uns die einschlägigen Argumente dafür vor Augen halten. Man mag dann zugestehen: Wenn bestimmte Begleitumstände andere gewesen wären, dann hätte eine böse Absicht keine verhängnisvollen Auswirkungen zur Folge gehabt, und es wäre keine gravierend schuldhafte Tat begangen worden; aber da die Umstände nun eben einmal nicht anders waren, und es der Handelnde tatsächlich fertigbrachte, einen besonders grausamen Mord zu verüben, ist es das, was er begangen hat, und ist es das, wofür er verantwortlich ist. Ebenso könnte man zugestehen, daß sich der Handelnde nie zu dem Menschen entwickelt hätte, der fähig ist, solche Dinge zu begehen, wenn er sich früher in einer ganz anderen Lebenslage befunden hätte; aber da er eben, wenn auch als unvermeidliches Resultat jener früheren Umstände, zu dem Schwein wurde, das er ist, zu dem Menschen, der einen solchen Mord begangen hat, ist es dies, was ihm vorzuwerfen ist. In beiden Fällen kann man etwas für das, was man faktisch tut – auch wenn, was man faktisch tut, entscheidend von Ereignissen abhängt, über die man keinerlei Kontrolle hat. In einer solchen sogenannten ›kompatibilistischen‹ Auffassung moralischen Wertens gäbe es Platz für die alltäglichen Bedingungen für Verantwortlichkeit (es darf kein Zwang ausgeübt werden; der Akteur darf nicht unwissend sein; die Tat darf nicht Ergebnis unwillkürlicher Bewegungen sein usw.) – die nun teilweise mitfixieren würden, was jemand begangen hat –, doch zugleich würde der Einfluß eines Großteils all dessen, was der Handelnde nicht geschaffen hat, von vornherein eingeräumt.10

Die einzige Crux an dieser Lösung ist, daß sie nicht erklären kann, wie die skeptischen Probleme aufkommen. Sie ergeben sich nämlich nicht, weil willkürliche externe Anforderungen an uns herangetragen werden, sondern sind in der Natur unseres moralischen Wertens selbst angelegt. Irgendeine Komponente unserer gewöhnlichen Vorstellung dessen, was einer tut, muß erklären, weshalb es uns notwendig erscheinen kann, von all dem, was lediglich geschieht, abzusehen – obgleich nach einer derartigen Subtraktion in letzter Konsequenz gar nichts mehr übrig bleiben kann. Und irgendeine Komponente unserer gewöhnlichen Vorstellung von Wissen muß erklären, weshalb unsere Erkenntnisansprüche immer dann erschüttert werden, wenn wir die Tatsache in Betracht ziehen, daß die Meinungen eines Subjekts durch Faktoren beeinflußt werden, die sich seiner Kontrolle entziehen – so daß Wissen unmöglich zu sein scheint, wenn es nicht ein nachgerade unmögliches Fundament in einer autonomen Vernunft erhält. Aber lassen wir die Erkenntnistheorie beiseite und konzentrieren wir uns auf die Thematik des Handelns, Charakters und der moralischen Wertung.

Meines Erachtens entsteht das Problem deshalb, weil das handelnde Selbst – und damit der Adressat moralischen Wertens – sich aufzulösen droht, sobald seine Taten und Motive in der Klasse der Ereignisse aufgehen. Wertet man eine Person moralisch, so wertet man nicht etwas, das ihr einfach geschieht. Man wertet vielmehr sie. Eine moralische Wertung drückt nicht nur aus, daß ein Ereignis oder ein Zustand vorteilhaft, unvorteilhaft oder gar fürchterlich ist. Es handelt sich bei ihr nicht um die Bewertung eines Weltzustands – auch nicht eines Individuums, insofern es ein Stück der Welt ist – und man glaubt nicht nur, daß es besser wäre, wenn der Mensch anders wäre als er ist, oder daß es besser wäre, wenn er überhaupt nicht existierte oder einige der Handlungen nicht ausgeführt hätte, die er tatsächlich beging. Wir werten den Menschen selbst, nicht sein Dasein oder seine Qualitäten allein. Konzentriert man sich dann aber auf den Einfluß all jener Faktoren, die nicht persönlicher Kontrolle unterliegen, hat dies den Effekt, daß ebendieses verantwortliche Selbst gerade zu verschwinden scheint und in der Welt bloßer Ereignisse aufgeht.

Irgend etwas schwebt uns doch aber vor, das eine Person sein muß, damit sie der Adressat moralischer Einstellungen sein kann. Was ist es? Es ist äußerst schwierig, davon eine positive Beschreibung abzugeben, wenngleich der Begriff des Handelns so leicht zu untergraben ist. Das wissen wir aus der Literatur über den freien Willen nur zu gut.

Es will mir scheinen, daß dieses Problem in einem gewissen Sinne keiner Lösung zugeführt werden kann, denn irgendeine Komponente unserer Auffassung vom Handeln läßt sich einfach nicht damit in Einklang bringen, daß Taten Ereignisse und Menschen Dinge sind. Aber in dem Maße, in dem die externen Determinanten unseres Wirkens freigelegt werden und ihr Einfluß auf Folgen, auf den Charakter und auf die Entscheidung selbst hervortritt, wird deutlich, daß Handlungen sehr wohl Ereignisse und Menschen Dinge sind. Letzten Endes bleibt gar nichts übrig, was dem verantwortlichen Selbst zugeschrieben werden könnte, und wir haben es nur noch mit einem Ausschnitt jener globaleren Abfolge von Ereignissen zu tun, die zwar bedauert oder begrüßt, nicht aber getadelt oder gelobt werden kann.

Obwohl ich den durch meinen Gedankengang erschütterten Begriff des aktiven Selbst nicht zu definieren vermag, ist es immerhin möglich, etwas über seine Herkunft zu sagen. Zwischen unseren Gefühlen uns selbst gegenüber und unseren Gefühlen gegenüber anderen ist ein enger Zusammenhang gegeben. Schuld und Empörung, Scham und Verachtung, Stolz und Bewunderung sind jeweils die Innen- und die Außenseiten derselben moralischen Einstellungen. Wir sind schlicht außerstande, uns einfach nur als ein Stück der Welt zu betrachten. Es ist nämlich unsere eigene Innen-perspektive, aus der wir eine ungefähre Vorstellung davon haben, wo die Grenze verläuft zwischen dem, was zu uns gehört und dem, was nicht zu uns gehört; zwischen dem, was wir begehen, und dem, was uns bloß widerfährt; zwischen unserer Persönlichkeit und all dem, was nur ein kontingentes Handikap ist. Und ebendiese ihrer Natur nach interne Auffassung des eigenen Selbst wenden wir dann auch auf andere an. Was uns selbst anbelangt, haben wir Gefühle: wir fühlen uns stolz, beschämt, schuldig, reuevoll – und empfinden häufig jenes typische Bedauern des Täters angesichts eigener Handlungen. Wir fassen unsere Handlungen und unseren Charakter nicht bloß als glückliche oder unglückliche Episoden auf – obwohl sie dies auch sein können. In Ansehung unserer eigenen Person, in der Frage dessen, was wir unserem innersten Wesen nach sind, sowie hinsichtlich unserer Taten können wir nicht nur einen von außen wertenden Standpunkt einnehmen – selbst dann nicht, wenn uns bewußt geworden ist, daß wir nichts können für unsere Existenz, für unsere Natur, für die Entscheidungen, die wir zu treffen haben, sowie für die exogenen Umstände, auf welche die Auswirkungen unserer Handlungen zurückzuführen sind. Die Taten sind und bleiben unsere und wir bleiben wir selbst, mögen die Gründe, die uns aus jederlei Dasein heraus zu argumentieren scheinen, noch so überzeugend sein.

Es ist just diese interne Sichtweise, die wir im moralischen Urteil dann auch auf andere übertragen – nämlich, wenn wir sie bewerten, und nicht bloß ihre Erwünschtheit oder ihren Nutzen. Wir übertragen unsere Weigerung, uns selbst ausschließlich aus der Außenperspektive heraus zu werten, auf andere und gestehen damit anderen ein Selbst zu, das dem unseren ähnlich ist. Aber diese Sichtweise gerät in beiden Fällen mit der Tatsache in Kollision, daß Menschen und alles, was auf sie zutrifft, brutal in eine Welt einbezogen sind, aus der sie nicht herausgelöst werden können und von der sie nichts als Bestandteile sind. Die externe Sichtweise zwingt sich uns im selben Augenblick auf, in dem wir sie verdrängen. Dies zeigt sich eben auch daran, daß sich unser Tun nach und nach auflöst, wenn wir abziehen, was lediglich geschieht.11

Indem wir Auswirkungen in unser Bild dessen, was wir getan haben, miteinbeziehen, geben wir zu, daß wir ein Stück der Welt sind. Aber die Paradoxien der moralischen Kontingenz, die sich aus diesem Eingeständnis ergeben, zeigen, daß wir letztlich unfähig sind, mit einer solchen Sicht der Dinge zu leben, denn ihr zufolge müßten wir uns ja damit abfinden, daß es niemanden mehr gäbe, der wir selbst sein könnten. Dasselbe kommt auch in jenem Schein zum Ausdruck, der Determinismus mache unsere Verantwortlichkeit unmöglich. Sobald wir einen Aspekt des Tuns, das wir selbst oder andere vollziehen, als bloßes Geschehen auffassen, entgleitet uns die Überzeugung, daß überhaupt noch etwas begangen wurde, und wir den Täter zu werten haben und nicht bloß das Geschehnis. Dies erklärt übrigens, weshalb der Begriff unseres Handelns vom Indeterminismus nicht minder wirkungsvoll untergraben wird als vom Determinismus – eine wichtige Einsicht, die in der Philosophie schon des öfteren einmal bemerkt wurde. In beiden Fällen wird die Tat nämlich aus der Außenperspektive, als Bestandteil des Gangs der Ereignisse betrachtet.

Man versteht die Problematik der moralischen Kontingenz nicht wirklich, solange man nicht über eine Erklärung der Innenansicht des Handelns und des ihr eigentümlichen Zusammenhangs mit spezifisch moralischen Einstellungen (im Gegensatz zu anderen Arten der Wertung) verfügt. Eine solche Erklärung hatte ich hier nicht anzubieten. Die Frage, ob und in welchem Grade das Problem überhaupt einer Lösung zuführbar ist, ließe sich nur entscheiden, wenn abzusehen wäre, ob und in welchem Maße sich die Inkompatibilität der internen Sichtweise und der unterschiedlichen Hinsichten, in denen sich unsere Handlungen der Kontrolle entziehen, als eine bloß scheinbare Inkompatibilität erweist. Auch zu dieser Fragestellung hatte ich hier nichts anzubieten. Jedenfalls bleibt es ungenügend, lediglich festzustellen, daß unsere fundamentalen moralischen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber lediglich von alldem abhängen, was wirklich der Fall ist, denn moralisches Werten wird von den Quellen jener Faktizität ebensogut bedroht wie von der Außenansicht des Handelns, die sich uns aufdrängt, sobald wir einsehen, daß all unser Wirken zu einer Welt gehört, die wir nicht geschaffen haben.

Für diesen Band neu übersetzt von Knut Eming.

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