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Buisdorf

Wir sind glücklich zu Hause angekommen. Gerade rechtzeitig, beginnt es doch, leicht zu regnen. Meine Tante nimmt den Opa in Empfang, führt ihn ins Bad und versorgt ihn dort. Sie hat Dienst heute, meine Mutter und sie wechseln sich ab. Dabei geht es insbesondere um die Nacht. Nachts entpuppt sich mein Opa in schöner Regelmäßigkeit als Ausbrecherkönig. Was der alles drauf hat, versetzt mich immer wieder in Erstaunen. Vor drei Tagen hat er ein paar Stäbchen aus der Küche geholt, mit denen man normalerweise Rouladen fixiert, und schaffte es doch tatsächlich, die abgeschlossene Wohnungstür zu öffnen.

Ich finde es bemerkenswert, wie gewaltlos er bei seinen Ausbrüchen vorgeht. Nie schlägt er die Scheibe ein oder versucht, sich mit schwerem Gerät zu befreien. Immer frickelt er ausdauernd herum, mit ein paar kleinen Hilfsmitteln und viel Kreativität, um an sein Ziel zu gelangen. Vielleicht sind wir ja irgendwie mit McGyver verwandt, man weiß es nicht.

Meine Tante kommt aus dem Bad, ein etwas mürrisch dreinblickender Opa hinterher. Er beginnt schon wieder mit seinen forschen Blicken, mit denen er die Optionen für sein baldiges Verschwinden abcheckt. Dement sein bedeutet jedenfalls nicht, blöd zu sein.

Dann sieht er mich und sein Gesicht hellt sich auf.

»Na, da siehst du es wieder. Sobald die Leute nackt sind, zeigen sie ihr wahres Gesicht.«

Meine Tante schaut weg, sie kennt seine Kommentare zur Genüge. Für mich bedeutet er, dass mein Großvater immer noch in der Vergangenheit umherwandert. Ich habe keine Ahnung, warum er mich erkennt und dennoch die damaligen Ereignisse hautnah durchlebt. Laut den Fachbüchern über Geronto-Psychiatrie sollten sich die Dinge ein wenig anders verhalten. Wer in der Vergangenheit schwelgt, hat sein Kurzzeitgedächtnis verloren und damit alle Erinnerungen an aktuelle Verwandte, an die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zu denken war.

Spielt auch keine Rolle, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem Bereich wechseln alle zehn Jahre. Die Wissenschaft vom Vergessen wird somit regelmäßig selbst vom Vergessen befallen. Heute zählt für mich nur eins: Wie bringe ich meinen Großvater dazu, noch mehr zu erzählen? Es muss einen Grund geben für den urplötzlich eintretenden Drang, sich mitzuteilen.

Mein Großvater war bis vor vier Wochen völlig klar. Dann haben sie ihn im Krankenhaus ein Formular unterschreiben lassen, was die Ärzte dazu berechtigte, ihm eine Darmspiegelung zu verpassen. Das hat er nicht verkraftet. Noch im Untersuchungsraum begann er, von Gefangenschaft und Befreiung zu fantasieren. In den folgenden Wochen war er einfach nur auf der Flucht, ein sinnvolles Gespräch war nicht möglich gewesen. Tagsüber stritt er alles ab und nachts steppte der Bär.

Heute hat sich etwas verändert. Vielleicht war er die ganze Zeit auf der Suche nach einer neuen Realität, ich weiß es nicht. Was immer er auch suchte, er scheint es gefunden zu haben. Ganz offensichtlich ist es ihm wichtig, sich mitzuteilen. Er will erzählen, vielleicht sogar alles erzählen. Ich sehe ganz klar die Gefahr, dass es mit ihm abwärtsgeht, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, wenn er allein gelassen wird in seinem Drang. Etwas bang wird mir bei der Vorstellung, es könnte sich womöglich um seinen letzten Wunsch handeln. So, wie er im letzten Sommer ein letztes Mal Ungarn sehen wollte, was man ihm aber verwehrte.

Ich entschließe mich, sein Zuhörer zu sein. Nicht nur aus einem Gefühl der Verpflichtung ihm gegenüber heraus, nein, es interessiert mich auch. Als ich klein war, wollte ich wissen, wie es damals war, wie alles gekommen ist. Beide Großeltern hatten stets ausweichend geantwortet, fast schon einsilbig, immer wieder dieselben allgemeinen Auskünfte gegeben. Jetzt ist die Chance da.

Hastig hole ich mir etwas zu schreiben, ein Klemmbrett mit ein paar Blättern darauf.

Meine Tante reagiert erleichtert auf mein Angebot, die Nachtschicht zu übernehmen. Als Tochter nimmt es sie ziemlich mit, ihren Vater derart durcheinander und hilfebedürftig zu erleben. Sie macht noch ein paar Brote nach Art des Hauses, sehr dick mit reichlich Wurst darauf, stellt sie ins Wohnzimmer und geht sichtlich bedrückt.

Ich setze mich neben meinen Großvater, der sich bereits bedient hat und auf beiden Backen zufrieden kaut. Nach einer Weile setzt die Sättigung ein, ein lautes Rülpsen wird zum Zeichen für das Ende der Mahlzeit.

Mein Großvater schaut rosig aus der Wäsche, blickt sich um, zwinkert mir zu.

»Ohne Mampf kein Kampf«, grunzt er voller Freude. »Das ist eine der Grundwahrheiten in jedem Krieg. Niemand kämpft lange ohne Nahrung. Solche Sachen muss man wissen, wenn es ums Überleben geht.«

Ich nicke verständnislos. Jetzt redet er wieder wirr. Normalerweise führt Nahrung zu einer besseren Versorgung des Gehirns und damit zu mehr Klarheit. Heute offenbar nicht.

»Für einen schnellen Heldentod gibt es die verschiedensten Wege. Du kannst dich zu den Panzern melden, oder dich einem MG-Trupp anschließen. Einheiten eben, die als Feuerwehr in den dicksten Schlamassel geschickt werden. Oder du bist die arme Sau, die ganz vorne an der Front in einem Erdloch sitzt, die russischen Panzer auf sich zukommen sieht und nicht mehr fliehen kann. Oder du gerätst an einen ehrgeizigen Offizier, der für sein Ritterkreuz alles opfert, nur nicht sein eigenes Leben. Oder der Offizier ist völlig unfähig und schickt seine Leute aus reiner Dummheit in den Tod. Oder beides.«

Ich habe mich geirrt. Er redet etwas um den heißen Brei herum, aber doch strukturiert und sinnvoll. Nur, worauf will er hinaus? Er tippt sich wissend an die Stirn.

»Egal wie du es anstellst, du hast keinen Einfluss darauf, wo du hinkommst, wer dich rumkommandiert und welche Chancen du für dein Überleben eingeräumt bekommst. Du bist in einer Armee nicht dein eigener Herr und niemand sonst legt besonderen Wert darauf, dich zu beschützen. Weil jeder alle Hände voll zu tun hat, sich selbst zu beschützen. Aber es gibt hin und wieder eine Ausnahme, wenn das Schicksal es gut mit dir meint.«

Jetzt grinst er verschmitzt, so wie stets, wenn er eine besonders gute Idee hat.

»Ich habe mich als Koch gemeldet. Der Koch ist der wichtigste Mann in der ganzen Kompanie. Der Koch kommt nie an die Front, er bekommt ein sorgfältig getarntes Eckchen hinter der Front. Und wenn es ernst wird, dann ist er als Erster weg. Ohne Mampf kein Kampf, das gilt sogar für den Offizier.«

Aha, jetzt kommt er langsam mit der Wahrheit raus. Was einer im Krieg wirklich konkret gemacht hat, ist meistens ein ganz großes Geheimnis. Ob Sieger oder Besiegter, Heldenhaftes hat kaum jemand zu berichten, über alles andere schweigt man besser. Die alten Leute reden nie über früher, nicht nur meine Großeltern, ich kenne niemanden, der über seine Erlebnisse im Krieg spricht.

Natürlich, über den Krieg als abstraktes Ereignis sprachen sie schon, über die Fehler, die gemacht wurden, die Dinge, die anders hätten laufen sollen. Aber immer auf eine Weise, als waren sie selbst nicht beteiligt, weder als Zuschauer noch als handelnde Person. Manchmal kam es mir so vor, als seien alle Deutschen im Rahmen eines touristischen Events in schlechte Gesellschaft geraten und hätten tatenlos zusehen müssen, wie alles zum Teufel ging.

Von meinen Großeltern, auch von meinen Eltern, kannte ich nur die nackte Tatsache, dass man enteignet und ausgewiesen wurde. Mehr nicht, keine Details. Von meinem Großvater kannte ich nur den schlichten Sachverhalt, dass er Soldat gewesen war. Immer wieder sprach er von seinem Opel Blitz, als sei der ein wertvoller Oldtimer gewesen, an dem sein Leben gehangen habe. Womöglich hat es sich auch genau so verhalten.

Gott segne die Demenz, denke ich und schäme mich gleich dafür. Meinen Opa aushorchen, indem ich seine Krankheit schamlos ausnutze, kommt mir nicht richtig vor. Die Neugier siegt jedoch schnell und leicht. Die Geschichtsbücher sind voll von kühlen Fakten über alle möglichen Kriege, beim Zweiten Weltkrieg übertreffen sie sich in der emotionslosen Präzision in Form der Aneinanderreihung von Schlachten und Entscheidungen. Selbst der fünfmal pro Seite vorkommende Hinweis, Deutschland habe sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht, verkommt in dieser Betrachtungsweise zu einem bloßen Aufsagen. Nichts von dem wird für mich fühlbar, nachempfinden kann ich es nicht wirklich.

Doch mit fortschreitender Krankheit meines Großvaters steigt die Chance, mein dürftiges Gerippe aus Wissen und Ahnung mit Einzelheiten zu füllen, möglicherweise sogar mit Emotionen. Mein Großvater scheint sich zu freuen, etwas erzählen zu können. Warum sollte ich ihn enttäuschen?

»Wie hast du denn das angestellt?«, frage ich vorsichtig. Ich will ihn ja nicht mit Kritik verprellen.

»Du warst doch Bauer. Deine Frau hat gekocht. Wie konntest du damit durchkommen?«

»Halb so wild. An der Front gibt es keine Gourmets. Der Magen muss voll sein, um mehr geht es nicht. An der Front ist ständige Angst und Hektik dein Begleiter. Das Essen muss schnell hergestellt werden, dann wird es ausgeliefert. Man verlässt die Frontlinie nicht dreimal am Tag für eine Mahlzeit, es wird einem gebracht. In den Blechkübeln wird es schnell kalt, die Zutaten sind ohnehin wahllos zusammengeklaut. Alles Essbare wird zusammengerührt und gekocht. Wem der Fraß dann noch schmeckt, der ist selbst dran schuld.«

Er lacht laut. »Das Ding heißt nicht umsonst Gulasch-Kanone. Nach Rezept kocht da keiner. Im Grunde bestand meine Arbeit nicht so sehr im Kochen, sondern im Aussuchen der Zutaten. Wenn man Sachen zusammenschüttet, die auch im richtigen Leben zusammenpassen, dann kann nichts schief gehen. Deine Großmutter hat mir in den drei Tagen alles erklärt, die ich bis zum Abmarsch noch hatte. Die drei Tage haben mich ein Jahr lang überleben lassen. Als Koch bist du wichtig, da sind alle nachsichtig mit dir. Ist es sogar einigermaßen genießbar, bist du ein Gott. Dann wirst du sogar von höheren Chargen angefordert.«

Von den höheren Chargen? Ich gebe ihm etwas zu trinken, seine Stimme wird rau. Jetzt nicht aufhören, es wird gerade spannend. Doch mein Großvater erlebt gerade einen überaus lebendigen Moment. Es befindet sich geistig vollständig in der vergangenen Zeit. Und er will es erzählen. Ich setze mich bequemer hin und höre ein paar unglaubliche Dinge.

*

Irgendwo in Österreich, kurz vor dem Zusammenbruch

Johann ließ den Blick immer wieder wandern zwischen den Szenen auf der Tanzfläche und den Speisen, die er gekocht und arrangiert hatte und die er seit einiger Zeit bewachen durfte.

Er fühlte sich wie in einem schlechten Film, nicht nur wegen der Umstände, sondern vor allem aufgrund seines tief empfundenen Verlangens, nicht hier sein zu wollen. Alles an diesem Ort lief falsch, wirklich alles.

Er war nun einige Zeit ein Soldat der Waffen-SS, für sich allein betrachtet schon ein Witz. Diese hochgelobte und vom Feind mehr alles andere gefürchtete Truppe bestand in diesen letzten Kriegstagen aus ein paar durchgedrehten Offizieren, und Mannschaften, die sich nahezu ausschließlich aus schlecht ausgebildeten Auslands-Deutschen zusammensetzten. Die hochgewachsenen, blonden Germanen, mit denen die SS angefangen hatte, waren allesamt gefallen. Nun gab es nur noch Beute-Deutsche, wie man sie auch nannte. Er stammte aus Ungarn, die Kellner aus Jugoslawien, seine beiden Helfer hinter der Theke waren Siebenbürger Sachsen. Ihnen gemein war die Unfähigkeit, mit dem Karabiner auf hundert Meter eine Scheune zu treffen sowie eine allgemeine, aber völlige Desorientierung, zu der dieser Abend wesentlich beitrug.

Johann hatte den Nachmittag damit verbracht, das letzte Kalb und das vorletzte Schwein zu finden, zu fangen und zu schlachten. Als er zurückkehrte in dieses von Gott verlassene Kaff im österreichischen Hinterland, lagen überall Leichen herum. Die Offiziere nutzten die letzten Tage, um reinen Tisch zu machen. Juden, ausländische Zwangsarbeiter, ein paar widerborstige Einheimische, alle wurden erschossen, als gelte es, die Munition restlos aufzubrauchen.

Die Leichen lagen immer noch draußen, in den Gräben, neben den Bahngleisen, auf denen nichts mehr fuhr, in Hinterhöfen. Hier im dazu erklärten Festsaal wurde gefeiert, während draußen die Toten zu stinken begannen.

Es übertraf jede Vorstellung. Auf dieses Jahr als Soldat hätte Johann wirklich gerne verzichtet. In rasendem Tempo durfte er die Welt und die Menschen kennenlernen, nichts davon gefiel ihm. Zu dieser Sorte von Deutschen wollte er nicht gehören, nur blieb keine Wahl. Er hielt sich so gut es ging aus allen Widrigkeiten heraus und versuchte, nicht aufzufallen. So nah am Zusammenbruch starb so mancher wegen Fahnenflucht oder Feigheit vor dem Feind, man musste nur zur falschen Zeit am falschen Ort sein.

Wobei, wenn er es recht bedachte, der Begriff Fahnenflucht auf praktisch alle Anwesende in diesem Raum anwendbar wäre. Doch der Wissinger gab die richtige Antwort: Sechzig Offiziere auf einen Schlag erschießt niemand.

Dieses eine Mal hätte sich Johann gerne an einem Erschießungskommando beteiligt. Diese aufgeblasenen Offiziere hasste er ohnehin aus vollem Herzen. Wie sie vor den letzten zehn Prozent ihrer Einheit standen und vom Endsieg faselten. Wie sie vom reinigenden Stahlgewitter der Schlacht fantasierten und sich ganz flott verkrümelten, sobald das Töten begann. Wie sie von der moralischen Überlegenheit der deutschen Rasse räsonierten, aber selbst aus einer Ansammlung menschlicher Schwächen bestanden, von ihrer grundsätzlichen Charakterlosigkeit ganz zu schweigen.

Johann spuckte auf den Boden. Moralische Überlegenheit, da konnte er nur lachen. Just in diesem Raum stellten die hohen Herren ihre Überlegenheit unter Beweis. In jeder Klapsmühle ging es gesitteter zu.

Sein mühsam zusammengesuchtes Festessen hätte er besser in den Bach gekippt.

An diesem von Gott verlassenen Ort gewann er ganz neue Einblicke in den Charakter des deutschen Herrenmenschen. Am Nachmittag noch hatte sich der Oberst vor die versammelte Truppe gestellt und eben jenen Herrenmenschen thematisiert, der von der Vorsehung bestimmt sei, die Horden aus dem Osten ein für alle Mal zu zerschmettern. Diese seien nun leider und nur aufgrund der allgegenwärtigen jüdischen Verschwörung in der Überzahl, aber das sei doch für die großartigen deutschen Soldaten allenfalls ein zeitlich begrenztes Problem. Es brauche eben seine Zeit sie alle zu töten.

Mit den anderen einfachen Soldaten hatte sich Johann erstaunt gefragt, wie viel Schnaps man wohl trinken musste, um dergleichen ziemlich überzeugend zu verkünden, während gleichzeitig dem Offizier klar war, dass alle Versammelten die Wahrheit kannten. Jemanden anlügen war eine Sache, dem Wissenden einen Bären aufbinden eine andere.

Nun, an diesem Abend, lernte Johann seine Vorgesetzten von einer anderen Seite kennen. Jede Medaille hatte seine zwei Seiten. Die eine kannte er bereits, sie gefiel ihm kein bisschen. Doch auch auf diese Seite der Medaille wollte er nie im Leben einen Blick werfen.

Das sogenannte Kasino bestand im Grunde aus einer hastig hergerichteten Scheune. In diesen Tagen musste wegen der zahlreichen Feindflugzeuge alles getarnt werden, damit nicht jemand auf die Idee kam, ein paar Bomben abzuwerfen. Die beste Tarnung bestand immer noch darin, ein harmloses Gebäude einfach so zu lassen, während innen diskrete Umbauten für die militärische Nutzbarkeit sorgten.

In diesem Falle sah die Nutzung allerdings ganz und gar nicht militärisch aus und es beruhigte ihn, eine neutrale Position einzunehmen. Immerhin war er der Koch und damit fast so unantastbar wie der Oberst.

Ohne Mampf kein Kampf. So lautete die inoffizielle Binsenwahrheit der Truppe. An diesem Abend galt es, ganz besonderen Mampf zu präsentieren. Das Schwein briet nun an einer Stange über offenem Feuer und nahm im ersten Teil des Abends den Großteil der Aufmerksamkeit in Anspruch. Daneben fand Johann aber immer wieder Zeit, um sich das Treiben anzusehen, welches ringsum in aller Ausgelassenheit tobte. Mit nicht geringem Gruseln betrachtete er die Szenerie und nahm einzelne Details besonders scharf wahr.

Offiziere aller Ränge und jeden Alters machten sich bei Schnaps und Wein zum Affen, lachten, tobten, fraßen, soffen und ließen auch sonst jedes Anzeichen vermissen, man könne es mit den nachmittags erwähnten Herrenmenschen zu tun haben. Zu einer regelrechten Orgie wurde die Veranstaltung aber durch eine große Anzahl Blitz-Mädel.

Johann konnte gar nicht sagen, wie sehr ihn dies alles abstieß. Für einen verlorenen Krieg als Kanonenfutter herangezogen worden zu sein genügte offenbar nicht. Nein, diese ach so großartige Nation verheizte seine eigenen Frauen, nein Mädchen auf gleich zweifache Art. Erst wurden sie an die Front geschickt, um in Schreibstuben, im Nachschub und an der Flak mehr Soldaten für die Front freizumachen. Und dann raubten diese Soldaten den eigenen Mädchen jede Form von Unschuld. Was da der Russe schlimmer machen konnte, blieb ihm schleierhaft. Vielleicht, dachte Johann gallig, verzichtet der Russe aufgrund seiner unmenschlichen Ader darauf, den Mädels Schnaps einzuflößen, bevor er sich über sie hermacht.

Die Scheune kam ihm vor wie eine Zeitreise zum Ende des Römischen Reiches. Draußen stehen die Barbaren und schreien nach Blut, drinnen feiern die Edlen ihren eigenen Abschied von der Welt. Nur war nichts Edles an dem, was sie taten. Die arglosen Mädchen wurden mit Alkohol nahezu besinnungslos gemacht, dann schleppte man sie eines nach dem anderen in das Obergeschoss. Zurück kamen sie meist erst nach mehreren Schichtwechseln, und dann waren sie sehr verstört, wollten nichts essen und nichts trinken.

Natürlich gab es Ausnahmen, Mädels, die ihren Spaß hatten ebenso wie Soldaten, die Ehre genug im Leib besaßen, um die Finger bei sich zu behalten. Merkwürdigerweise fanden sich ehrenwerte Soldaten fast ausschließlich bei Männern, die erst seit Kurzem bei der Armee dienten. Die alten Haudegen, die erfahrenen Soldaten, sie alle nahmen sich, was sie kriegen konnten. Keine Skrupel, kein Mitleid.

Zum ersten Mal überlegt Johann ernsthaft, ob es desertieren solle. Er durchdachte einige Optionen und Pläne, während er äußerlich stoisch Fleisch vom Schwein säbelte und in Blechteller warf. Er kam nach einer Weile zu dem Schluss, noch ein wenig zu warten. Hinter der Front klappte es noch ganz gut, die Militärpolizei lauerte überall auf Deserteure, als sei dies das Hauptproblem des Reiches.

Er überdachte seine Möglichkeiten noch die ganze Nacht, bis das Schwein verspeist war und alle Männer in eine Art Tiefschlaf fielen. Auch als das Feuer nur noch schwach flackerte und nur mehr vereinzeltes Wimmern durch die wabernde Dunkelheit drang, dachte er nur daran, wie er wieder nach Hause kommen könnte. Er hatte genug von Deutschland und dankte dem Herrn dafür, in Ungarn leben zu dürfen. In Ruhe, ohne ständig mit einem Haufen kriegslüsterner Idioten konfrontiert zu sein.

Er nahm sich vor, alle erreichbaren Karten auswendig zu lernen. Er müsste in der Lage sein, blind nach Hause zu kommen und unterwegs allem Ärger auszuweichen. Schließlich konnte er jetzt Auto fahren.

Johann Gabb

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