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Juni 1944, Mágocs

Johann Gabb stand an der Straße und betrachtete die lange Lichterkette, die sich auf Mágocs zu bewegte. Der Tag war warm und trocken gewesen, die Nacht schickte sich an, sehr still und stockfinster zu werden. In dieser Ecke von Ungarn glänzte der Fortschritt durch Abwesenheit. Die Äcker beackerte man nach wie vor mit Pflügen, die von Pferdegespannen gezogen wurden. Elektrisches Licht gab es nicht. Kurz vor Mitternacht war es finster wie in einer Kuh, wie sich die Leute auszudrücken beliebten. Dunstschleier verstärkten die Dunkelheit noch zusätzlich, weil sie das helle Licht der Sterne abhielten. Von daher wirkten die herannahenden Lichter heller, als sie in Wirklichkeit waren. Johann kannte das schon, er wusste, wer da herannahte. Die SS liebte Auftritte bei Dunkelheit, den Wochenschauberichten zufolge gab es im ganzen Deutschen Reich nur noch Aufmärsche bei Nacht. Je dunkler, desto besser. Vor einem halben Jahr waren sie schon mal ins Dorf eingefahren.

Eine freiwillige Rekrutierungs-Aktion durchzuführen, so lautete ihr Auftrag. Nachdem damals vierzehn Männer freiwillig mitgegangen waren, konnte er sich lebhaft vorstellen, was heute Nacht ablaufen werde.

Johann seufzte tief. An Flucht war nicht zu denken. Alles, was er besaß, jeden, den er kannte, seine Liebsten, befand sich in Mágocs. Weiter als dreißig Kilometer hatte er sich nie entfernt. Und jetzt das.

»Jetzt bin ich wohl dran«, murmelte er.

Die ersten Fahrzeuge trafen ein und fuhren einfach durch, bis zum anderen Ende der Straße. Johann blickte in die Gesichter der Kradfahrer, der Automobile und der Lkw und was er sah, beunruhigte ihn noch mehr. Gesichter voller Verbitterung und Ermüdung, grau, eingefallen, leblos. Hier rückte keine siegesgewisse Truppe ein, sondern ein Haufen demoralisierter Soldaten, die jegliche Hoffnung verloren hatten. Dabei handelte es sich um die angeblich unbesiegbare Elite des Deutschen Reiches, die gefürchtete SS. So gefürchtet, dass sie übers Land zogen, um einfache Bauern in ihre Reihen zu pressen. Johann spuckte einen dicken Batzen Schleim in den Staub der Straße. Bedächtig ging er die wenigen Schritte zum Marktplatz. Sein Haus befand sich in der Arpad ucza, die wie fast alle Straßen in Mágocs von einer der beiden Hauptstraßen abzweigte. Diese beiden Straßen kreuzten sich in diesem Ort, wohl auch ein Grund für die SS, sich hier einzunisten.

Die ganze Kolonne reichte weiter als die Ortschaft. Als die ersten Fahrzeuge am anderen Ende von Mágocs haltmachten, kamen die letzten Fahrzeuge jenseits des großen Hügels zum Stillstand, immer noch zwei Kilometer vom Ortsrand entfernt. Es entstand ein Augenblick des Durcheinanders, in dem niemand so recht wusste, was zu tun sei, bis laute, barsche Kommandos die Auflösungserscheinungen im Keim erstickten. Die Fahrzeuge fuhren wieder an, bogen in die Seitengassen ab, wendeten dort, schmiegten sich in Fluchtstellung dicht an die Häuser oder platzierten sich unter großen Bäumen. Sodann begannen die Soldaten damit, Tarnnetze auszubreiten und weitere Maßnahmen zu ergreifen, um aus der Luft kein allzu deutliches Ziel abzugeben.

Johann beobachtete das hektische Treiben und konnte sich nicht vorstellen, bei einer solchen Truppe mitzumachen. Ungarn hatte, wehrtechnisch betrachtet, auf ihn verzichtet. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges mussten Deutsche in Ungarn nicht mehr zwangsläufig zu den Waffen, nur noch auf freiwilliger Basis, und so blöd wäre er niemals. Obwohl es in der k.u.k.-Monarchie üblich gewesen war, die Deutschen in ungarische Verbände zu stecken und die Ungarn in österreichische Truppenteile, was die Volksgruppen tatsächlich einander näher gebracht hatte.

»Was glaubst du, Johann, werden sie uns einziehen?«, fragte ihn der Wissinger Hans aus der Gruppe heraus. Alle starrten ihn erwartungsvoll an, als ob er die Macht hätte, das Unausweichliche einfach wegzureden.

»Wissinger«, begann er sanft, musste seinen Satz erneut beginnen, lauter und dadurch härter, um sich gegen den Lärm verständlich machen zu können. »Wissinger, wegen was sollen die denn sonst herkommen? Um uns gegen die Russen zu verteidigen? Die können noch nicht mal ihr eigenes Land richtig verteidigen. Bei uns gibt es doch nichts zu holen, keine Reichtümer und keine Waffen. Ungarn ist arm. Aber wir haben hier etwas, was die Deutschen unbedingt brauchen. Deutsche, die man zu Soldaten machen kann.«

Der Wissinger und die anderen Männer starrten ihn entsetzt an. Johann staunte ernsthaft über die Naivität der Leute. Wo sie sich doch bereits seit Wochen jeden Abend die Köpfe heiß redeten, in der Gaststätte, direkt neben der Kirche. Selbst der Ortspfarrer hatte in seiner Predigt vor den kommenden Gefahren gewarnt. Offenbar glaubten die Leute, dass die Gefahr sie nicht sehen würde, solange sie sich weigerten, die Gefahr zu sehen.

»Gabb«, sprach ihn der Strasser Josef förmlich an. »Vielleicht sind sie wegen der Juden da. Du weißt, die Kinder von der Landverschickung haben diese Sachen erzählt. Arbeiten bis zu Vergasung und so. Vielleicht nehmen sie die Juden mit und verschwinden dann wieder.«

Johann seufzte tief. Eine Gefahr allein wäre eine unverdiente Vergünstigung gewesen. Nicht nur, dass sich Ungarn nun offiziell im Krieg befand, und zudem ganz ohne Frage von den Russen überrannt werden würde. Mit allen Folgen, die das für die deutsche Bevölkerung haben konnte. Nicht nur, dass er selbst in eine Uniform gepresst werden und vermutlich nicht lebend davon kommen würde. Zu allem Übel würden die Deutschen alle Juden abtransportieren.

Das Ende von Mágocs in seiner historischen und bewährten Form wäre unabwendbar. Seit zwei Jahrhunderten lebten Deutsche an diesem Ort. Sie waren die Ersten gewesen, sie hatten das Land rekultiviert, nachdem es die Türken entvölkert und verdorben hatten. Kurz darauf jedoch waren die Juden gekommen, in sich gekehrte aber freundliche Menschen, die sich durch die gleiche Tatkraft und den gleichen Fleiß wie die Deutschen hervor taten.

Eine Weile später begann der Zuzug der Ungarn. Draußen in den Höhlen lebten dann noch die Zigeuner, die in der Regel jeden Kontakt mit den Einwohnern mieden, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte. Im Großen und Ganzen verliefen die Jahrhunderte friedlich, bis auf die Kriege eben. In Mágocs selbst aber herrschte stets Frieden unter den Bewohnern. Nach hundert Jahren blutigem hin und her und dem Sieg über die Türken fanden die Kämpfe stets woanders statt. Und nun das. Er ahnte, nein, er wusste, diese Nacht würde das Ende des Friedens bringen. Für alle Zeiten. Düstere Vorahnungen jagten sich vor seinem geistigen Auge. In diesem Moment brachte er nicht die Kraft auf, seiner Antwort einen diplomatischen Anstrich zu geben.

»Strasser, mach doch einfach die Augen auf«, bellte er über das Aufheulen eines Radpanzers hinweg. »Das ist die ganze verdammte deutsche Armee. Alles, was sie noch haben. Die wollen in der ungarischen Tiefebene eine riesige Schlacht veranstalten, bei uns, hier. Die bauen uns keine Loge, reißen freundlich die Platzkarten ab und wünschen viel Spaß beim Zuschauen. Die brauchen uns als Kanonenfutter. Wir sind die Idioten, die mit einem Gewehr in der Hand vorwärts stürmen sollen, um den Russen aufzuscheuchen.

Die geben uns keine Panzer und keine Flugzeuge, nur Gewehre. Und weißt du auch warum? Die haben nicht genug Waffen. Sieh dich doch um. Ein Haufen Leute, aber keine schweren Waffen. Das, was sie haben, verstecken sie ängstlich. Die sind am Ende. Zum guten Schluss dürfen wir beim finalen Sterben mitmachen. Die Juden nehmen sie mit, vielleicht die Zigeuner noch dazu. Die Ungarn dürfen die Felder bestellen, damit wir noch was zu fressen haben, bevor wir ins Gras beißen. Wenn dann alles vorbei ist, kommt der Russe und greift sich unsere Familien.«

Schwer atmend hielt Johann inne. Er achtete nicht auf die versteinerten Gesichter seiner Zuhörer. Die Erwähnung seiner Familie versetzte ihm einen Stich ins Herz, so scharf, dass er kaum Luft bekam.

Die Endzeitstimmung löste sich auf und machte tiefer Besorgnis Platz. Gleichzeitig wurde sein Kampfgeist geweckt. Er fühlte die Entschlossenheit in sich wachsen. Er würde alles versuchen, die Seinen heil aus diesem Schlamassel herauszuholen. Wobei er absolut keine Ahnung hatte, was auf ihn zu kam und auf welche Weise er sich aus dem Schlamassel befreien könnte. Der Wissinger stieß ihn in die Seite und deutete verstohlen nach links. Von dort näherte sich ein Soldat.

»Deutsche oder Juden?«, fragte der Soldat barsch. Womit die Frage nach den Zielen der Deutschen bereits ein Stück weit beantwortet war.

»Gut«, fuhr der Soldat etwas weniger barsch fort, als er die Antwort bekam, es mit Deutschen zu tun zu haben. Er sah kurz auf einen kleinen Zettel.

»Alle deutschen Männer im Alter von achtzehn bis vierzig Jahren haben sich morgen früh um Punkt acht Uhr Ortszeit vor der Kirche zu versammeln. Wer nicht erscheint, wird als Fahnenflüchtling behandelt. Sorgen Sie dafür, dass jeder diese Nachricht erhält.«

Der Soldat machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf die andere Straßenseite, wo ein paar Ungarn dem Treiben zusahen.

»Na, Strasser, alle Fragen beantwortet?«

Johann blickt den Mann ausdruckslos an. Der Strasser war der reichste Deutsche im Ort, erstmals in seinem Leben würde ihm dieser Umstand nichts nützen. Johann freute sich kein bisschen. Strasser nickte nur stumm, wie allen anderen Anwesenden gingen ihm ungute Gefühle durch den Kopf.

»Na, dann lasst uns mal zu unseren Familien gehen und Abschied halten. Diese Nacht wird die vorerst Letzte sein, in der wir bei unseren Lieben sein können.«

Einige nickten stumm, andere wandten sich einfach ab und trotteten nach Hause. Für Johann wurde die leichte Steigung zum Haus hinauf eine Art Bergbesteigung. Als er ankam, keuchte er, sein Herz raste und er wäre am Liebsten weggelaufen.

Johann Gabb

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