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Buisdorf

Mein Großvater sitzt auf seinem Stuhl schwer atmend, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Das war der Tag, als alle Juden aus dem Dorf weggebracht wurden. Fünfzehn Familien, seit Jahrhunderten in Mágocs ansässig und immer in Frieden lebend. Immer. Für diese Leute war es einstmals ein Segen, von den Türken befreit zu werden. Den Türken waren die Juden ebenso verhasst wie den Nazis. Im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn ließ man sie in Ruhe. Im unabhängigen Ungarn lebten sie auch nach dem Ersten Weltkrieg ganz ohne Verfolgung und ohne Sondersteuer und ohne Misstrauen zu erfahren. Sie gingen mit Ungarn, Deutschen und teilweise den Zigeunern in die gleiche Schule, sie spielten zusammen, als Erwachsene halfen sie sich gegenseitig. Herrgott, der einzige Arzt des Dorfes war Jude.«

»Hat denn niemand versucht, die ganze Sache zu verhindern?«

»Oh sicher«, meint er leicht zynisch. »Wie brave Bürger angesichts einer Kompanie SS die Dinge zu wenden versuchen: mit Verhandlungen. Der Bürgermeister ging zum kommandierenden Offizier und verlangte, den Arzt im Ort zu lassen, weil ansonsten niemand die medizinische Versorgung übernehmen würde. Der Drecksack hat sogar zugestimmt. Allerdings sollte die ganze Familie des Arztes trotzdem deportiert werden, nur den Arzt selber wollte man zurücklassen. Das hatte sich der Bürgermeister zwar anders vorgestellt, aber was sollte er tun? Selbst in heutigen, angeblich freien Zeiten wehren sich nur ganz wenige Menschen gegen die Obrigkeit.

Nun, wie auch immer, der Arzt lehnte ab. Er wollte seine Familie nicht im Stich lassen. Und so zeigte er uns allen, wer hier Mut hatte und wer nicht.«

Das muss ich erst mal sacken lassen. Er hat recht, ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sich die Leute damals gefühlt haben müssen. Der Krieg vor der Tür, die Soldaten im Dorf, alles auf den Kopf gestellt, dass ganze Leben, die Dorfgemeinschaft, die Zukunft, alles infrage gestellt.

»Was war denn mit den beiden jüdischen Mädchen? Sind sie jemals zurückgekommen?«

Er schüttelt nur den Kopf.

»Die Aufrechten und Unschuldigen sind alle verloren. Ein paar zweifelhafte Gestalten kamen zurück, und zwar nur die zweifelhaften Gestalten. Ausschließlich Männer kehrten zurück, keine Frauen, keine Kinder. Aber das ist gar nicht das Problem.«

Er blickt in die Ferne, es dauert eine ganze Zeit, bis er weiterreden kann.

»Deine Mutter hat es sich nie verziehen, in dieser Situation zu viel Angst gehabt zu haben. Nicht den Mut gehabt zu haben, zu den beiden hinzulaufen und sich zu verabschieden. Dass die beiden geglaubt haben müssen, auch von ihr verraten worden zu sein.«

Er macht eine kleine Pause und sieht mir fest und völlig klar in die Augen.

»Mut zu haben und etwas zu riskieren kann schlimme Folgen haben. Keinen Mut zu haben aber ebenso. Falsche Entscheidungen verfolgen dich ein Leben lang. Das Schlimme ist: Du weißt das vorher nicht. Du entscheidest in einer Sekunde und lebst ein Leben lang mit den Konsequenzen. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Tue das, was dein inneres Gefühl dir sagt. Wenn es schief geht, kannst du wenigstens sagen, das Richtige getan zu haben. Man darf nicht in Angst leben. Die Menschen werden zu Untieren, weil sie zu viel Angst haben. Freiheit kann es nur geben ohne Angst.«

*

Einige Tage sind vergangen. Die Situation hat sich ein wenig gebessert. Mein Opa isst und trinkt gut, seine Kräfte kehren zurück. Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen ausreichender Flüssigkeitsaufnahme und geistiger Verfassung, denn er zeigt sich jetzt deutlich klarer. Ich glaube, die Ärzte stellen Diagnosen zu leichtfertig. Es gibt dieses tolle neue Medikament, welches bei Alzheimer helfen soll. Es ist teuer, es hilft nur bei echtem Alzheimer und nicht bei den anderen Ursachen einer Demenz, aber irgendwie scheinen die Ärzte es gerne verschreiben zu wollen.

Vielleicht aus diesem Grund wurde bei meinem Opa die Diagnose Alzheimer gestellt. Und unverzüglich hat der Arzt das neue Medikament verschrieben. Wenn die geistige Verfassung jedoch von der Flüssigkeitsmenge abhängt, liegt der Verdacht auf andere Ursachen nahe. So habe ich das in der Altenpflege-Ausbildung gelernt, und bei meinem Dozenten handelte es sich immerhin um einen Professor der Medizin.

Egal, den Vorteil aus der Situation ziehe ich gerne. Mein Opa erzählt viel und gerne von früher, ist aber andererseits besser im Hier und Jetzt verankert. Ich will mehr wissen und seine Erzählungen besser steuern. In der Schule, im Fernsehen, überall gibt es endlose Berichte, Studien und Expertenmeinungen. Ein kompletter Fernsehsender scheint ausschließlich davon zu leben, die Nazizeit aus allen Blickwinkeln zu beleuchten. Das meiste stammt von Leuten, die nicht dabei gewesen sind, oder sich ideologisch anderen Herren verpflichtet fühlen. Die Grundmeinung besteht im Wesentlichen darin, dass wir, die Deutschen, historisch einmalig Böses angestellt haben. Das ist Konsens. Das geborene Tätervolk wird uns beständig vor Augen gehalten, Kritik an dieser Einschätzung wird mit lebenslanger Verbannung in die Nazi-Ecke bestraft.

Gestritten wird ausdauernd über Details. Ob jetzt alle Deutschen Schweinehunde waren oder nur der überwiegende Teil. Mein Opa ist dann wohl einer dieser Schweinehunde, egal, wie eng man den Fokus zieht. Die Waffen-SS ist für Friedensaktivisten so etwas wie der Antichrist für den Papst.

Mein Großvater ist jedoch aktuell meine einzige echte Quelle, der Augenzeuge schlechthin. Ich möchte ihn anzapfen, mache mir Notizen von seinen Äußerungen und überlege mir bestimmte Fragen. Demente lügen nicht, und wenn sie einen Bogen um die Wahrheit machen, dann ist das für den Experten ganz offensichtlich. Diesen Vorteil möchte ich nutzen.

Die Misere für Deutschland besteht in der Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration. Über die mangelnden Erklärungen und die Verweigerung von Diskussionen berichten zahlreiche Bücher der Nachkommen. Das macht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit schwierig.

Manchmal frage ich mich allerdings, ob wir, die Nachkommen, in unserer Empfindlichkeit nicht ein wenig zu weinerlich sind. In der Schule beschäftigte ich mich einst mit dem Dreißigjährigen Krieg. Deutsche und alle Sorten Ausländer massakrierten sich nach Kräften und hätten es auch beinahe geschafft, alle weiteren Probleme für immer zu beseitigen. Die Hälfte der Bevölkerung war am Ende tot, der Rest traumatisiert, vergewaltigt, gefoltert, ausgehungert. Nebenbei bemerkt haben sich die Schweden übrigens nie dafür entschuldigt, halb Mitteldeutschland ausgerottet zu haben.

Die Menschen damals sind nicht zusammengebrochen und noch nicht einmal wenigstens ein halbes Jahrhundert außerstande gewesen, sich an irgendwelchen Kriegen zu beteiligen. Kurz danach ging es schon wieder munter weiter, nur knapp konnte die vereinte Christenheit vor Wien verhindern, dass der ganze Laden von den Osmanen übernommen wurde.

Nun ja, nach einigem Nachdenken kommt mir der Verdacht, dass den einfachen Leuten schlichtweg keine Wahl blieb. Die hohen Herren lebten noch und nahmen keine Rücksicht auf die Nöte der Leute. Außerdem wurde damals auch ohne Krieg schnell und viel gestorben, für den Einzelnen mochte der Unterschied vielleicht nicht so gravierend sein. Wie mein Internats-Leiter zu sagen pflegte: »Wenn du ermordet wirst, ist es für dich persönlich gänzlich ohne Belang, ob dein Mörder ein Kommunist, ein Faschist, ein Atheist, ein Fundamentalist oder einfach nur ein Räuber ist. Für deinen Mörder mag es ein Unterschied sein, für dich nicht. Du bist tot, so oder so.«

Wie auch immer, spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg kann es so etwas wie eine arische Rasse gar nicht mehr gegeben haben. Alle Soldaten aller Länder haben zu allen Gelegenheiten die Frauen vergewaltigt und ihre Kinder hinterlassen. Eine einheitliche deutsche Rasse kann es somit nicht mehr geben. Die behauptete Abstammung von einer wie auch immer gearteten nordischen Rasse konnte man zu keinem Zeitpunkt im Straßenbild wiederfinden. Oder wann hat man zuletzt ein Rudel hünenhafter blonder Männer gesichtet? Wenn ja, dann stammten die garantiert aus der Ukraine, da ist der Anteil der Blonden höher als in Deutschland.

Überhaupt: Hitler, Goebbels, Röhm. Die sahen doch alle genauso aus wie die damaligen Fahndungsbilder mit den sogenannten Volksschädlingen drauf. Verkümmert, verkrüppelt, verblödet, schwul. Das ist wohl das eigentlich Verstörende an der Nazi-Zeit: Man kann einem redegewandten Verführer auf den Leim gehen, man kann sich bequatschen lassen von eloquenten Verkäufern, den falschen Argumenten aufsitzen, alles Mögliche kann schief gehen. Aber diesen Knallchargen abkaufen, die Anderen seien die Knallchargen?

Vorläufig kann ich darauf keine Antwort finden. Mein Opa kommt aus Ungarn, er hat Hitler definitiv weder gewählt noch herbeigesehnt. Damals gab es kein Fernsehen im Dorf, er hatte bis 1943 nie eine Rede dieses Herrn gehört. Er hielt den Mann für einen Österreicher, wunderte sich, warum der Kerl in Deutschland zum Kanzler gewählt werden konnte.

Der plötzliche Drang zu reden weckt auch bei mir zahllose Fragen.

Wie auch immer, aktuell geht es mir um das Leben meines Großvaters. Die wenigen Bruchstücke sollen zu einem Bild zusammenwachsen. Ich möchte dabei schön chronologisch vorgehen, damit ich selbst nicht den Überblick verliere.

Zu meinem nicht geringen Erstaunen findet sich im Alltag immer wieder ein Kristallisationspunkt, an dem mein Opa den Weg in seine eigene Vergangenheit findet.

Heute stellt das Fernsehen einen solchen Kristallisationspunkt zur Verfügung. Mein Opa sitzt merklich übel gelaunt vor der Glotze und sieht sich einen Bericht an, der von einem Gefecht in Afghanistan handelt. Ich frage ihn nach den Gründen.

»Die machen einen Aufriss wegen ganzer dreier Toter. Was denken die sich denn? Wenn alle nach Hause kommen, dann ist es Kindergeburtstag. Krieg ist, wenn nicht mehr alle nach Hause kommen.«

Aha? Mein Opa, der Menschenschinder.

»Quatsch. Wir wären froh gewesen, wenn man um unsere Toten auch nur ansatzweise getrauert hätte. Jeden Tag sind die Leute verreckt. Soldaten, Zivilisten, Kinder, alle. Zehntausende jeden Tag. Hat kein Hahn nach gekräht. Wären es nur drei am Tag gewesen, wir wären bis zum Pazifik gekommen. Mann, das wäre schön gewesen.«

Er scheint in seine Demenz zu versinken, blickt versonnen in die Ferne. Doch das täuscht. Die erste Regel für Altenpfleger lautet: Unterschätze nie einen Demenz-Kranken

»Ich war zwar der Koch, den Krieg habe ich aber trotzdem gesehen.«

Er hält seine rechte Hand hoch. Einige tiefe Kerben und Einschnitte sind darauf zu sehen. Komisch, darauf habe ich noch gar nicht geachtet.

»Granatsplitter«, erklärt er lakonisch. »Auf der Flucht getroffen worden. Wie es sich für einen Elitesoldaten gehört.«

Er lacht bitter und knetet die Hand.

»Wir wären froh gewesen, wenn es bei drei Toten geblieben wäre.«

Johann Gabb

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