Читать книгу Johann Gabb - Thomas Pfanner - Страница 5
ОглавлениеBuisdorf
Die feuchte Wiese nässte langsam seinen Hosenboden durch, aber er bemerkte es nicht. Ebenso wenig Aufmerksamkeit schenkte er der untergehenden Sonne. Sogar die Leute, die ihre Hunde ausführten und in Hörweite über ihn tuschelten, schafften es nicht in sein Bewusstsein. Sein alleiniges Augenmerk galt dem Lichterband vor ihm, das sich ständig änderte und doch gleich blieb. Die Abfolge aus dumpfem Rot und blendendem Weiß brannte sich in seine Augen, diente jedoch zu nichts mehr als ein Tor in die Vergangenheit zu öffnen.
Er saß auf dem Gras, die Knie herangezogen, aber halb zu einem nachlässigen Schneidersitz auseinandergefallen, die Arme nach hinten abstützend, starrte in den Lichterstrom und reiste durch die Zeit. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war, nicht, wie sich der Ort nannte. Warum er hier saß, wusste er hingegen ganz genau. Er wollte einen Fluchtpunkt suchen, in diesem Lichterband hatte er ihn gefunden. Von hier und durch dieses Lichterband gelangte er in die Vergangenheit. Seine Vergangenheit.
Die Lichter, er kannte sie. Schon einmal hatte er sie gesehen. In seinem Dorf, damals, als das eine Zeitalter zu Ende ging und ein neues Zeitalter hereinbrach, von eben jenen Lichtern angekündigt und in Szene gesetzt. Mit den Lichtern waren die Soldaten gekommen. Soldaten, die sein Leben und das seiner Liebsten für immer änderten, und doch nicht die eigentliche Schuld trugen.
Kurz nur verschwendete er einen bitteren Gedanken an den Umstand, den Verursacher seines Leides nie persönlich kennengelernt zu haben. Sehr rasch kehrte die Melancholie zurück, die ihn seit Wochen beherrschte. Keine Zeit für Abrechnungen, die nichts an seinem Schicksal ändern konnten. Damals, als es in seinem Dorf kein elektrisches Licht gegeben hatte, ganze drei Autos, davon zwei ganz ohne Licht, da hatte er die Lichterkette angestarrt wie ein neues Weltwunder.
Hinter dem vermeintlichen Wunder rasten die Katastrophen und Unglücke auf ihn zu, nacheinander in nicht abreißen wollender Abfolge. An jenem Abend endete sein Leben, zuerst symbolisch, später dann einige Male um Haaresbreite tatsächlich. Eine lebensbedrohliche Gefahrenlage nach der anderen galt es seither, zu meistern.
Er hatte alles überlebt. Körperlich nahezu unversehrt blieben doch tiefe Wunden. Keine Narben, nur Wunden. Er blickte zurück und sah eine unendliche Abfolge verschiedenster Ereignisse, ähnlich der unendlich scheinenden Abfolge der Lichter, die von ihm weg und zu ihm hin eilten. Ein ganzes Leben breitete sich vor ihm aus. Ein langes Leben, ein Leben voller merkwürdiger, denkwürdiger und erstaunlicher Geschehnisse. Und doch war nichts Einzigartiges daran gewesen. Tausende hatten Gleiches oder Ähnliches erlebt, viele waren gestorben.
Er kannte seine Aufgabe. Er ließ die entscheidenden Situationen seines Lebens Revue passieren, die Wendepunkte, die Lebensabschnitte beendet hatten, prüfte, bewertete, wog ab. War sein Leben wertvoll gewesen? Hatte er mehr richtig als falsch gemacht? An welchen dieser Wendemarken hatte es gegolten, Entscheidungen zu treffen, die für den nächsten Lebensabschnitt von existenzieller Bedeutung gewesen waren? Fragen über Fragen und keine leichte Antwort. Er ließ sich von seiner Stimmung treiben, betrachtete sich selbst dabei, wie er in seinen Gedanken die verschiedenen Zeitpunkte in einem Leben ansteuerte und noch einmal durchlebte, wenn auch nur in einer Kurzfassung, die wesentlichen Momente darstellend. Die Gefühle von damals gerieten sehr authentisch. Hin und wieder weinte er, manchmal lächelte er, meist jedoch überwog ein tiefes Gefühl von Verlust.
Nach einer langen Zeit des trübsinnigen Nachdenkens spürte er mehr, als dass er es sah, wie sich jemand neben ihn setzte. Er brauchte nicht hinzusehen, noch immer erkannte er seine Verwandten auf der Stelle, selbst über größere Entfernungen hinweg. Er hatte immer gewusst, wo er suchen musste, um Familienangehörige aufzuspüren. Natürlich hatte sein Enkel diese Gabe geerbt.
»Siehst du das? All diese Lichter.«
»Natürlich, Opa. Warum interessieren sie dich?«
»Jedes Licht steht für einen Menschen. Jeder Mensch verkörpert sein Schicksal, er trägt es ständig bei sich, weißt du? Diese Lichter streifen durch die Gegend, scheinbar auf festen Routen, wohlgeordnet, eins hinter dem anderen. Und doch treibt jedes Einzelne einem unbekannten Ereignis entgegen, das es nur für ihn allein geben wird.
Alles wirkt so unglaublich harmlos, beinahe anmutig. Eine Sekunde später wendet sich das Blatt. Einzelne Lichter verabschieden sich für immer, ohne es gewollt oder jemals geplant zu haben. Die anderen Lichter bleiben übrig, kümmern sich nicht um die anderen, die vorhin noch mit ihnen eine Gemeinschaft gebildet haben. Ein paar Sekunden später sind die Ausgeschiedenen vergessen, niemand trauert ihnen nach. Es ist die Tragik, die über allem liegt. Nur der Augenblick zählt.«
Der Junge schaute verwirrt von der Lichterkette zu seinem Großvater und wieder zurück. Er spürte es und lächelte traurig, wandte den Kopf und sah seinem Enkel in die Augen.
»Du musst eines begreifen, die Grundregel unseres Daseins: Nichts wird von dir bleiben. Du wirst geboren, lebst dein Leben, wie du es eben für richtig hältst. Du stirbst, wenn du gar nicht damit rechnest. Deine letzten Gedanken werden der Erkenntnis gewidmet sein, dass du erschreckend wenig davon eigenständig und frei bestimmt hast. Das allermeiste wird von anderen Menschen entschieden, viele von denen wirst du in deinem ganzen Leben gar nicht zu Gesicht bekommen. Staaten werden dir in dein Leben pfuschen, die du nie gesehen hast. Dein Lebensweg wird nicht planbar sein. Überhaupt nicht.«
Der Junge presste die Lippen zusammen. Er verstand nicht, worauf sein Großvater hinauswollte. Natürlich nicht, er war noch so jung. Er verfügte über Wissen und Bildung, aber nicht über die nötige Erfahrung. Daher unterlief ihm der verzeihliche Fehler, aufgrund seines Wissens das Leben verstehen zu können. Er nahm den Jungen bei der Hand.
»Du kannst alles besitzen, Geld, Land, eine schöne Frau, alles. Im nächsten Moment bist du arm und allein, einfach so. Alles, auf das du dich verlassen kannst, ist dein Kopf. Je mehr du kannst, desto besser sind deine Überlebenschancen. Wenn es dir gelingt, zusätzlich über einen gesunden Menschenverstand zu verfügen und du es verstehst, dich von den Verführern fernzuhalten, umso besser. Ohne Begabungen, ohne Wissen, ohne die Fähigkeit, die Dinge klar zu sehen, bist du verloren.«
Er drückte seinen Enkel fester. »Niemand wird dir nachtrauern. Du wirst sein wie eines dieser Lichter, schön anzusehen und plötzlich weg. Aus, Ende.«
Sein Enkel zeigte Anzeichen echten Erschreckens. »Opa, besser, wir gehen nach Hause. Es ist praktisch schon dunkel. Meine Mutter macht sich Sorgen.«
Er ließ seinen Enkel los und zeigte auf die Lichterkette. »Das hier ist wichtiger. Ich erzähle dir, wie es angefangen hat. Es begann mit einer Lichterkette wie dieser. Am Schluss endeten zweihundert Jahre Geschichte, ohne Vorwarnung.«
Er begann zu erzählen, leise, mit drängender Stimme. Eine innere Stimme zwang ihn dazu, deshalb befand er sich hier. Die Zeit war reif. Fünfzig Jahre Schweigen endeten heute. Er werde erzählen, alles erzählen, damit seine Nachkommen Bescheid wussten. Dies mochte seine letzte Möglichkeit sein. Hoffentlich verstand sein Enkel, mit dem neuen Wissen umzugehen. Er würde ihm sein Wissen geben, damit er für restliche Zeit seines jungen Lebens gerüstet wäre, die Zeit ohne Großvater.