Читать книгу Absender Ost-Berlin - Thomas Pohl - Страница 12
Оглавление7. Die Hausarbeit
Michael konnte sich an keine Umarmung seines Vaters erinnern. Eigentümlicherweise hatte er sie auch nie vermisst. Bis eines Tages sein Lieblingsonkel ihn fest mit beiden Armen umschlang. Michaels Wange wurde fest an den dicken Bauch des Verwandten gedrückt. Angenehm war es nicht. Zudem ungewohnt. Michael war damals nicht in der Lage, die Zärtlichkeit zu erwidern. Die Verwunderung seines Onkels über die Passivität des kleinen Jungen würde Michael sein Leben lang begleiten. Diese profane Situation schien ihm wie der Beginn des Bruchs mit seinem Vater.
„Kannst du nicht umarmen?“
In der Frage seines Onkels schwang ein deutlicher Vorwurf. Nicht gegenüber dem Knaben. Michael war sofort klar, wem die Anschuldigung galt. Von da an begann Michael seinen Vater mit zunehmender Skepsis zu betrachten. Dieses Gefühl verlor sich nur in den kurzen Momenten, in denen sein Vater ihm die Welt und die Menschen erklärte. Als seine Schulkameraden noch keinen Gedanken an Rassismus, den Ost-West-Konflikt und andere gesellschaftliche Phänomene verschwendeten, war Michaels Blick bereits geschärft. Vielleicht zu früh. Doch wenn Michael für kurze Augenblicke innehielt, wenn er mitten auf dem Kurfürstendamm in der Masse stehen blieb, um sich umzusehen, wenn er in dem Geplapper der Kneipe sich unwillkürlich auf eine benachbarte Konversation konzentrierte. Wenn er auf die Balkendiagramme der ersten Wahlhochrechnungen starrte, spürte Michael so etwas wie Dankbarkeit in sich aufsteigen. Und in diesen Momenten konnte er fast die vielen fehlenden Umarmungen seines Vaters verzeihen. Dann wurde ihm bewusst, dass die Zuwendung, die ihm widerfuhr, auf anderer Ebene stattgefunden hatte. Doch jetzt war sein Vater tot und konnte ihm keine seiner Beobachtungen mehr mitteilen. Die geteilte Auffassungsgabe war mit ihm gestorben. Michael fühlte sich als alleiniger Erbe einer Bürde, die sein Vater nicht mit ins Grab genommen hatte. Und so gerne er wenigstens mit seinem Lieblingsonkel darüber geredet hätte, so sehr war das inzwischen ebenfalls unmöglich. Kurze Zeit nach der eindringlichen Umarmung hatte sich sein Onkel das Leben genommen.
Der glänzende Linoleumboden reflektierte das tief einfallende Licht am Ende des langen Ganges. Michael hasste das Warten. Dabei saß er erst wenige Minuten auf einem der orangefarbenen Klappstühle, die in Reihen an den Wänden seines Uni-Instituts angeschraubt waren. Ihm war der Muff dieser Räume vom ersten Tag seiner Immatrikulation unangenehm gewesen. Diese Art der Umgebung entsprach so gar nicht seiner Vorstellung von modernem Journalismus. Hier regierte vielmehr Bürokratie und Stagnation. Der große Zeiger der bahnhofsartigen Wanduhr erzeugte ein minütiges Vibrieren, das die unnatürliche Stille deutlich wahrnehmbar unterbrach. Als würde sie jedem Wartenden in diesem Gang die Systematik empirischen Lernens einreden wollen. Doch das war so gar nicht Michaels Herangehensweise. Er kokettierte lieber mit seiner Faulheit, seinem Chaos auf dem Schreibtisch, seinen ständigen Verspätungen, mit seiner vermeintlichen Genialität. Schräg gegenüber hing der Glaskasten, in dem die Ergebnisse der Klausuren ausgehängt wurden. Sein Name tauchte auf diesen Listen bislang leider viel zu selten auf. Doch seit Anna mit ihm gemeinsam lernte, war seine Trefferquote auch hier gestiegen. Michael musste bei diesem Gedanken grinsen. Zugleich durchströmte ihn dieses sanft-warme Gefühl der frischen Verliebtheit. Diese wunderbare Einigkeit zwischen Herz, Kopf und seinen Lenden. Tief in sich spürte er, dass das mit Anna richtig war.
„Herr Wiesner?“ Michael hob leicht erschrocken seinen Kopf. Vor ihm stand in der halb offenen Tür sein Professor. Die altmodische Kleidung und sein vernachlässigter Haarschnitt verrieten die innere Immigration, in die sich der ehemals engagierte Politologe geflüchtet hatte. Zumindest bildete sich Michael ein, dies daraus ableiten zu können. Mit einem offensichtlich wohlwollenden Blick streckte er seine Hand mit einer einladenden Geste in Richtung des offenstehenden Büros. Michael erwiderte das höfliche Lächeln, erhob sich und folgte der freundlichen Aufforderung. Die Tür noch hinter sich schließend, begann der Professor bereits mit seinem Wortschwall.
„Herr Wiesner. Normalerweise lade ich aufgrund einer gewöhnlichen Hausarbeit keinen Studenten in mein Büro.“
Während der Professor den Stuhl an seinen Schreibtisch heranzog, griff er bereits Michaels Hausarbeit und hielt sie nahezu drohend über die Tischplatte.
„Aber das hier ist etwas anderes.“
Trotz Michaels Selbstbewusstsein beschlichen ihn plötzlich Zweifel. Und auch der nächste Satz des Professors verwirrte Michael zunehmend.
„Und da Sie diesbezüglich auch noch Wiederholungstäter sind, habe ich Sie zu diesem Gespräch gebeten.“
Michael war selten sprachlos. Doch dieser war einer dieser wenigen Momente.
„Herr Wiesner. Sie machen den zweiten vor dem ersten Schritt. Genau genommen machen Sie sogar den fünften vor dem ersten.“
Michael ahnte worauf das Ganze hinauslaufen würde.
„Herr Wiesner. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, sie wären dabei gewesen.“
„Wobei?“
„Also bitte! Bei dem Treffen zwischen Franz-Josef Strauß und Erich Honecker. Ihre Analyse dieses Besuches ist in jedem Punkt substantiiert, scharfsinnig und absolut nachvollziehbar. Ich habe zwar keine Ahnung, was das mit meiner eigentlichen Aufgabenstellung zu tun hat — aber Ihre Kombinatorik ist in diesem Zusammenhang herausragend. Ich sage so etwas nicht häufig. Glauben Sie mir.“
„Vielen Dank.“
Der Professor schaute Michael für einen kurzen Moment schweigend an, bevor er zu einer Reaktion ansetzte. Michael spürte in seinem Blick so etwas wie Wehmut und Traurigkeit. Das Gefühl vertaner Chancen und ein daraus resultierendes Wohlwollen ihm gegenüber. Trotz des väterlichen Ausdrucks in den Augen des Professors setzte er mit scharfem Ton seinen Vortrag fort.
„Danken? Danken Sie mir nicht für Ihre Qualitäten. Danken können Sie mir für das Telefonat, das ich gerade mit dem Chef der Nachrichtenredaktion des 1. Programmes geführt habe. Dr. Dieter Plank. Ich habe ihm von Ihnen erzählt. Er will Sie kennenlernen. Hier ist seine Telefonnummer.“
Der Professor schob einen handschriftlichen Zettel über den Tisch.
„Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich von hier wegkommen. Sie müssen raus hier. Die Uni ist nichts für Sie.“