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Оглавление3. Anna
„Herrschaften, ich möchte Sie bitten, den S.T.A.R.T.-Abrüstungsvertrag zur Verminderung der strategischen Atomraketen bis zum nächsten Mal zu lesen — wenigstens zu überfliegen.“
Der Kopf des Professors senkte sich. Der alternde Mann schaute über seine Lesebrille in Richtung der sich meldenden Hand auf der rechten Seite des Hörsaals.
„Ja, bitte?“
Die hölzernen Klappstühle des Auditoriums waren noch nicht einmal zur Hälfte besetzt. Die Augen der Studierenden folgten unwillkürlich dem Blick des Professors. Die Blickrichtung bot eine besonders attraktive Aussicht. Vielleicht hatte sie ihren Arm ein wenig zu hoch nach oben gestreckt. Vielleicht war es auch die Haltung ihres Oberkörpers. Es vermittelte den Eindruck von Übermotiviertheit. Mag sein, dass dies der Auslöser dafür war, bei Michael das Gefühl von Argwohn in sich aufsteigen zu lassen.
„Streberin.“
Das Urteil über die gut aussehende Studentin nuschelte Michael kaum hörbar vor sich hin. Selbst wenn er seine Beschimpfung lauter ausgesprochen hätte, wahrgenommen hätte sie hier wohl niemand. Dafür war die Erscheinung der jungen Frau in diesem politischen Seminar viel zu schillernd. Und vielleicht war es auch genau diese kollektive Aufmerksamkeit, die Michael in diesem Moment so missfiel. Ihr Name war Anna. Das wussten wahrscheinlich alle in diesem Hörsaal. Michael kannte ihren Namen bereits seit der ersten Vorlesung, in der er sie gesehen hatte. Er hatte heimlich auf ihren Ordner geschielt. Anna Blaschke. Anna strich mit der rechten Hand ihr langes Haar hinter ihr Ohr, bevor sie zu ihrer Frage ansetzte. Das tat sie immer so. Immer wenn sie tief Luft holte, sich ihr Oberkörper luftholend wölbte und ihre etwas zu tiefe Stimme den Raum zum Klingen brachte. Zwischen ihr und den anderen Kommilitonen war immer mindestens ein Sitz frei. Als würde ihre Aura die Anderen auf Distanz halten.
„Ich habe eine Frage zur militärischen Strategie der Verhandlungen.“
„Na, dann mal raus damit“, sagte der Professor.
„Liegt bei diesen Abrüstungsverhandlungen nicht der Verdacht nahe, dass die USA damit nur ihre veralteten Waffensysteme entsorgen will?“
Die Antwort des Professors erfolgte prompt.
„Frau Blaschke, ich denke, Sie greifen da etwas vorweg. Lassen Sie uns doch erst einmal den Vertrag an sich diskutieren. Eins nach dem anderen.“
Der Professor wandte sich auf die andere Seite des Hörsaals:
„Ja, bitte?“
Michael hatte sich gemeldet. Mit einem Kopfnicken erteilte ihm der Professor das Wort.
„Schon möglich, dass die amerikanischen Atomraketen der Minuteman II als veraltet tituliert werden. Klar ist aber auch, dass dieser Raketentypus technologisch auf dem gleichen Stand des größten Teils des sowjetischen Arsenals ist. Insofern wäre das ein atomares Abrüsten auf Augenhöhe.“
Der Professor atmete hörbar aus und verschränkte seine Arme. Lautlos bewegte er seine Lippen. Ein innerer Monolog, den das Auditorium nicht hören sollte. Erst dann wurde er laut.
„Ihr Hintergrundwissen in allen Ehren, Herrschaften. Das ist jetzt noch nicht das Thema. Für alle anderen gilt: Lesen Sie sich bitte bis zur nächsten Woche in die Verträge ein. Vielen Dank.“
Daraufhin schritt der Professor hinter sein Podium, schaltete den Overheadprojektor aus und steckte seine Unterlagen in seine Aktentasche. Die Aufbruchsstimmung unter den Studenten erzeugte im Auditorium das vertraute Gemurmel und Geraschel. Während um ihn herum ihre Blöcke, Ordner, Stifte und Bücher einpackten, saß Michael immer noch unbeweglich auf seinem Platz. Einzupacken hatte er nichts. Es gehörte zu seinem gepflegten Merkmal, einen freien Arbeitsplatz vor sich zu haben. Ohne mitzuschreiben. Bloß nicht in irgendwelcher Literatur nachschlagen. Anna hatte da schon einiges mehr zu verstauen.
Auf dem Flur vor dem Hörsaal trafen sie aufeinander. Zumindest hatte Michael bewusst einen Umweg einkalkuliert, um ihr gezielt über den Weg zu laufen. Der Blickkontakt war unvermeidlich. Sie schaute mit einem knappen Lächeln auf, das Michael bereitwillig aufnahm. Gerade als sie ihm schon wieder den Rücken zuwandte, fuhr es ihm über die Lippen: „Anna?“
Zugleich ärgerte er sich über seine unüberlegte Äußerung. Sie hatten sich bislang noch nicht einander vorgestellt. Der Umstand, dass er ihren Namen kannte, entlarvte sein Interesse an ihr. Und doch war er froh, die Unachtsamkeit begangen zu haben.
„Hallo!“
Ihre Stimme fuhr ihm bis unter die Haut. Sein eloquenter Redefluss funktionierte nicht wie sonst.
„Ich wollt` nur sagen …“
„Ja?“
„Deine Frage war … durchaus berechtigt.“
„Welche Frage?“
„Na das mit den veralteten Waffensystemen und so.“
Ihr Blick war skeptisch.
„Ach?“
Die Kürze ihrer Antworten irritierte ihn. Sie gab ihm einfach keine Chance. Doch irgendetwas sagte ihm, dass es noch zu früh war, klein beizugeben. Anna verschränkte ihre Arme. Es sah aus, als wolle sie wieder zum Angriff übergehen.
„Kannst du auch was Anderes als große Töne spucken?“
Obwohl Annas Tonfall das Gegenteil einer Einladung ausdrückte, war es genau das, was Michael aus der Bodendeckung aufstehen ließ.
„Kann ich. Aber dafür bedarf es einer …“
Michael legte eine Kunstpause ein.
„… einer kleinen Entführung.“
Er bemerkte ein kurzes Funkeln in ihren Augen. Die Katze zog für einen Moment ihre Krallen ein.
„Und wann meint der Klugscheißer, mich meiner Freiheit berauben zu wollen?“
Michael lächelte.
„Samstag? So um elf?“
Anna lächelte für einen Moment zurück. Noch bevor Anna wieder etwas Schnippisches entgegnen konnte, schloss er seine Rede ab und ging rückwärts von ihr weg.
„Café Kranzler. Nimm deinen Personalausweis mit.“
Dann drehte sich Michael um.
Er bildete sich ein, ihren verwirrten Blick auf seinem Rücken zu spüren. Ihr immer noch abgewandt rief er laut in den Flur:
„Du hast mich schon verstanden. Denk` an deinen Ausweis!“
Es war ein eigentümliches Grinsen, das sich um Annas Mund legte. Doch in diesem Moment war Michael bereits um die Ecke verschwunden.