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2. Der Jagdausflug

Der Wald lag weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Nahezu abgeschirmt. Die Wege, die in ihn hineinführten waren breiter, als man es von üblichen Waldwegen gewohnt war. So breit, dass sich die Radstände der großen Limousinen mühelos in das tiefe Grün schieben konnten, ohne ihre Insassen auf unbequeme Art durchzurütteln. Überhaupt machte es den Eindruck, dass alles in diesem Wald überdimensionaler, größer und gewichtiger war. Die Bäume schienen auf diese eigenartige Szenerie mit ihrer urtypischen Gelassenheit zu schauen. Vielleicht auch deshalb, weil dieser sandige Wald bereits seit Jahrhunderten dieses besondere Publikum gewohnt war.

Kein Zittern. Keine Nervosität. Seine Hand war erstaunlich ruhig. Der kalte, hölzerne Griff des Gewehres berührte seine Wange. Langsam erwärmte er sich durch den Hautkontakt. Karl atmete noch einmal tief, kniff das rechte Auge zu, wirkte ruhig. Trotz des kalten Entzuges. Er spürte nicht einmal den Hauch eines Bedürfnisses nach Alkohol. Vielmehr forderte die Waffe seine volle Aufmerksamkeit. Obwohl das Gewehr zur Spitzentechnologie dieses Systems gehörte, war seine Beschaffenheit, seine Materialien, sein komplettes Design Abbild des Ostblocks. Irgendwie hässlich. Nur seine Zielgenauigkeit stellte er nicht in Frage. Sein Blick richtete sich kurz nach oben. Der Wind bewegte sanft die Blätter in den Baumwipfeln. Zu schwach, um die Flugbahn der Kugel auf dieser Distanz zu beeinflussen. Ein letztes Einatmen. Ausatmen. Karl verharrte, spürte seinen eigenen Puls. Fokussierte durch das Zielfernrohr. Unterdrückte den Reflex der nächsten Einatmung. Es war ein Moment der Stille. Ein Moment, der nur ihm gehörte. Ihm und seinem Ziel. Dann drückte er den Abzug. Der Schuss zerschnitt die Stille des Waldes. Gefolgt von dem Echo. Das Raunen der umherstehenden Männer verwandelte sich langsam in einen anerkennenden Applaus. Die Blicke wanderten in die Richtung des getroffenen Hirsches. Gut 150 Meter lag er von Karl entfernt im Dickicht des Waldes. Nur seine Augen zeigten den Ansatz eines Lächelns. Karl verstand nicht, warum ihm die Ehre zuteil wurde, diesen Schuss abzufeuern. Immerhin hatte er sich zuvor mehrmals vergewissert. Ihm lag überhaupt nichts am Töten. Doch als selbst sein oberster Dienstherr ihm mit einer wohlwollenden Geste den Schuss freigab, war er der einladenden Aufforderung gefolgt.

Die vielen grünen Gummistiefel setzten sich in Bewegung und stapften über den feuchten Untergrund. Es waren jene in Volkseigenen Betrieben produzierte unbequeme Treter, die das tiefe Gras platt traten und sich nach einigen Dutzend Schritten wieder im Halbkreis anordneten. Die Gruppe der Männer stand um das leblose Tier. Karl schaute in die weit aufgerissenen Augen des toten Hirsches. Als würden die Pupillen des Wilds für einen letzten Moment tief in seine schauen. Fingerdick quoll der Blutstrom aus dem Einschussloch. Er konnte seinen Blick einfach nicht von dem leblosen Körper lösen. Eine fremde Hand legte sich fest auf seine Schulter.

„Donnerwetter, grandioser Schuss. Erstaunlich gut dafür, dass sie nie bei der Nationalen Volksarmee gedient haben.“

Die Stimme mit dem Berliner Akzent verriet Karl sofort, wer hinter dieser Äußerung steckte: Erich Mielke. Er drehte sich um und zwang sich zu einem Lächeln:

„Anfängerglück.“

Mielke wandte sich mit einem jovialen Lacher in die Runde:

„Und jetzt stapelt er auch noch tief.“

Wie choreographiert übernahm die Jagdgesellschaft das Lachen ihres Vorgesetzten. Zwei Helfer sprangen herbei, um den Kadaver auf einen zum Jeep umgebauten Trabant zu laden. Der kleine Wagen ging unter der Last des mächtigen Hirsches in die Knie. Mielkes Hand auf Karls Schulter drückte ihn sanft in Richtung des Waldweges. Karl beugte sich der wortlosen Aufforderung und setzte sich in Bewegung. Ihm war klar, dass die kommende Intimität zwischen ihm und Mielke etwas Besonderes für ihn bedeuten würde. Als sie etwas Distanz zu den anderen Männern aufgebaut hatten, zog Mielke einen Flachmann aus der Tasche und hielt ihn Karl hin.

„Schlückchen?“

„Nein, danke. Ich trinke nicht.“

„Gar nicht? Wie langweilig.“

Mit einer kräftigen Bewegung setzte Mielke selbst zum Schluck an und wischte sich den Mund am Ärmel.

„Telemann — Sie haben mich nicht nur mit Ihrem präzisen Schuss beeindruckt.“

Karl schwieg.

„Ihre Bilanz zur Grenzbefestigung hat unser gesamtes Ministerium aufgewühlt.“

„Danke.“

Noch einmal fiel Karl keine andere Reaktion ein.

„Ziemlich mutig von Ihnen — als Neuling — oder wie sagt man bei Ihnen? Greenhorn? — die Dinge so direkt beim Namen zu nennen. Gerade in diesen Zeiten. Diese dumme Plapperei über unseren sogenannten Anti-Imperialistischen Schutzwall muss endgültig aufhören. Insbesondere nach dem Treffen unseres Staatsratsvorsitzenden mit dem bayrischen Ministerpräsidenten. Das Abkommen über den Milliardenkredit mit Franz-Josef Strauß war ein echter Glücksgriff. Eine bessere Steilvorlage konnten Sie Honecker kaum geben. Auch wenn wir wegen Ihnen unsere schönen Selbstschussanlagen an der Grenze abbauen mussten.“

Mielke unterbrach seinen Monolog mit einem kehligen Lacher. Dann wurde er wieder ernst.

„Leute von Ihrem Schlag brauchen wir mehr in unserem Ministerium.“

Karl spürte, dass er etwas darauf sagen musste.

„Danke.“

Gleichzeitig ärgerte er sich über seine Wortwiederholung.

„Hören Sie auf sich ständig zu bedanken. Das passt nicht zu Ihnen. Telemann, ich will, dass Sie mir zukünftig direkt Bericht erstatten.“

„Danke … äh … ich meine natürlich … sehr gerne.“

Mielke blieb stehen und schaute Karl für einen Moment tief in die Augen. Karl wusste nicht, ob er dem Blick ausweichen sollte. Gerade als er seinen Kopf abwenden wollte, unterbrach Mielke die Sprechpause.

„Haben Sie sich eigentlich Ihren neuen Namen bei uns selbst ausgedacht — Telemann?“

Karls Antwort kam unerwartet präzise.

„Nein, ganz bestimmt nicht.“

Diesmal war es Mielke, der dem Blick auswich. Sich zu der Gruppe wendend rief er mit seinem dominanten Duktus:

„Ich glaube, wir haben jetzt alle Hunger!“

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Mielke wieder im Mittelpunkt der Gruppe durch den Wald stolzierte.

Karl hatte sich in der hinteren Reihe eingeordnet. Die Sonne schimmerte von Zeit zu Zeit zwischen den Blättern des dichten Waldes hindurch. Er trabte still hinter den anderen Jägern hinterher, als eine weibliche Stimme ihn aus seinen Gedanken riss:

„War das Ihr Ritterschlag?“

Er wich der Frage aus und reichte der Frau seine Hand.

„Karl Telemann. Angenehm.“

„Ich weiß. Nur das ist nicht die Antwort auf meine Frage.“

„Mein Ritterschlag? Vielleicht, ja, irgendwie schon.“ Er hatte die Frau bislang nicht bemerkt. Zugleich fühlte er sich überrumpelt und ärgerte sich über seine unkontrollierte Offenheit. Doch die Stimme der Frau hatte etwas Beruhigendes. Einen Tonfall, den er lange nicht mehr im Ohr hatte. Karl schaute ihr ins Gesicht und blickte in zwei dunkelbraune, dezent geschminkte Augen. Sie glänzten im männlichen Umfeld der Jagdgesellschaft.

„Karl Telemann. Innere Sicherheit — Abteilung …“ Weiter kam er nicht.

„Ich weiß. Wenn der Chef das weiß, dann wissen das alle hier.“

Karl kam sich wie ein dummer Schuljunge vor.

„Marlene Wittmann. Ich gehöre auch zu diesem Verein.“

Karl lächelte. Innerlich amüsierte ihn die Bezeichnung weit mehr, als er es nach außen hin zugab.

Mit einem Ruck hielt die Jagdgesellschaft kurz vor einer Lichtung an. Die Blicke richteten sich in eine neue Richtung. Unvermittelt begannen die Männer enthusiastisch zu winken. Als selbst Marlene neben ihm ihre Hand nach oben reckte, folgte Karl dem choreografierten Rudelverhalten. Trotz seiner langen Statur konnte er aus der hinteren Reihe nicht erkennen, wem oder was dort eigentlich gewunken wurde. Aber es erschien ihm besser, dem allgemeinen Treiben zu folgen und erst hinterher nachzufragen. Das Rauschen des Waldes wurde durch ein tief frequentes Brummen gestört. Der Klang des entfernten Motors passte so gar nicht zum Zweittakt-Gestotter der üblichen DDR-Fahrzeuge. Als ein Range Rover an ihnen über den breiten Waldweg vorbei rauschte, fuhr es Karl spontan über die Lippen:

„Westbesuch?“

Marlene drehte sich Karl zu.

„Nein! Der Staatsratsvorsitzende!“

Karl stutzte.

„Erich Honecker?“

Sein Blick folgte dem inzwischen hinter einer Kurve im Wald verschwundenen britischen Geländewagen.

„In einem Range Rover?“

Marlene ließ den Abstand zu den Vordermännern etwas größer werden, bevor sie leise antwortete.

„Wir sind alle gleich hier, aber manche sind nun einmal etwas gleicher.“

Absender Ost-Berlin

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