Читать книгу Absender Ost-Berlin - Thomas Pohl - Страница 17
Оглавление12. Bonner Presseball
„Sie studieren in Berlin? Welches Fachgebiet?“
„Politologie. Im Moment mit dem Fokus auf die Abrüstungsverhandlungen der S.T.A.R.T.-Verträge.“
„Heikles Thema. Und so aktuell. Noch einen Champagner?“
Anna drehte sich etwas hilfesuchend nach Michael um. Er war immer noch nicht von der Toilette zurück.
„Keine Sorge. Ihr Begleiter hat bestimmt nichts dagegen. Sie sind in guter Gesellschaft.“
Anna waren die Gesichter der sie umgebenden Politiker wohl bekannt. Sie kannte ihre Biografie und die Anzahl ihrer Geliebten. Untersetzt und übergewichtig umringten sie die attraktive junge Frau. Vertrauend auf den Sexappeal ihrer Popularität.
„Eine Zigarette?“
„Danke, ich rauche nicht.“
„Das sollten sie sich hier aber schnellstens angewöhnen.“
Anna fing das joviale Lachen der Männer wohlwollend auf. Ließ die verstohlenen Blicke auf ihr Dekolleté gewähren. Die Männer merkten nicht ihre innere Distanziertheit. Zu sehr waren die Herren mit sich, ihrem Trieb und ihrer Eitelkeit beschäftigt. Anna sezierte jede Nuance ihrer Bewegungen. Entdeckte das leichte Zucken im linken Auge des Dicken rechts neben ihr. Beobachtete das herzinfarkt-gefährdete Atmen des Glatzköpfigen. Selbst was die Hand des Mannes zur Linken in der Hosentasche mit seinen Genitalien anstellte, blieb ihr nicht verborgen. Sollte Bonn irgendwann nicht mehr Hauptstadt sein, so würde das Prostitutionsgewerbe am meisten darunter leiden. Soviel wurde Anna in diesem Moment klar.
„Sie entschuldigen. Ich sehe gerade einen guten Bekannten. Es war nett, Sie kennenzulernen.“
Die Männer öffneten etwas widerwillig den Halbkreis. Jedoch nicht ohne ein heuchlerisch freundliches Lächeln aufzusetzen. Anna trat durch die sich öffnende Gasse. Der Mann der ihr entgegenkam, fiel nicht nur durch seinen schäbig wirkenden Anzug in dem Umfeld maßgeschneiderter Smokings auf. Der ausgebeulte Sakko passte bei genauerer Betrachtung so gar nicht zu der vermeintlichen Anzugshose, deren Hosenbeine überlang auf den ausgetretenen Schuhen Falten schlugen. Sein volles Haar — seit gut zwei Monaten Friseur-überfällig — war ungeschickt zu einem breiten Seitenscheitel zurückgekämmt.
„Hast du Michael gesehen?“
Michaels Hände bildeten unter dem laufenden Wasserhahn eine kleine Schale. Wieder und wieder schlug er sich das kühlende Wasser in sein überhitztes Gesicht. Doch die Hitze wollte einfach nicht aus seinem Körper weichen. Michael bemerkte die Tropfen auf seinem Jackett, griff auf den Stapel bereitliegender Frotteetücher und rieb sie trocken. Mit einem weiteren Handtuch trocknete er die Wasserspritzer auf seiner Hose. Der Schlips und das zugeknöpfte Hemd ließen ihn kaum atmen. Michael betrachtete sein ungewohntes Erscheinungsbild in dem übergroßen Spiegel des Waschraumes. Er war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel, was er vor sich sah. Aus seiner rechten Hosentasche fingerte er ein gefaltetes Papier, dessen Schreibmaschinentext durch die vielen handschriftlichen Ergänzungen kaum noch zu entziffern war. Sein Blick wechselte zwischen seinem Spiegelbild und den unlesbaren Zeilen in seiner Hand.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren. Sehr geehrter Dr. Kohl, sehr verehrte Frau Kohl, Herr Bundespräsident, verehrte Gäste. Dieses Jahr hat der Bundespresseball …“
Michael stockte. Seine freie Hand griff an den Knoten seiner Krawatte, löste ihn und zog sie von seinem Hals. Während er den obersten Knopf seines Hemdes öffnete, zerknüllte er den Zettel, formte ihn zu einer Kugel und warf ihn in hohem Bogen durch eine offenstehende Toilettentür zielsicher in die Toilettenschüssel. Sein Blick blieb auf das Klo gerichtet. Dann drehte er sich grinsend dem Spiegel zu, steckte die Krawatte in seine Hosentasche, strich sich über sein Haar und verließ die Toilette.
„Michael! Deine Krawatte? Ist alles in Ordnung mit dir?“
Besorgt strich Anna über Michaels Schläfen. Mit einer Umarmung presste er sich an ihren Körper. Sein Mund berührte zärtlich ihr Ohr.
„Ich liebe dich.“
Für einen kurzen Moment verblasste der Geräuschpegel der Menschen um ihn herum. Michael atmete Annas Duft, spürte das Kitzeln ihrer Haare an seiner Wange, fühlte die Silhouette ihres Körpers an seinem und war glücklich.
Dann löste er sich aus der Umarmung, schaute liebevoll in ihre Augen und drehte sich dem Mann im schlechtsitzenden Anzug zu.
„Dieter. An deinem Outfit müssen wir arbeiten.“
„Immerhin trage ich eine Krawatte im Gegensatz zu dir.“
Das Lächeln des Mannes verflüchtigte sich schnell. Dieter deutete auf das Mikrophon auf der Bühne.
„Es wird Zeit. Du bist schon seit einer Viertelstunde überfällig.“
Michaels Blick schweifte kurz auf das Podium. Dann griff er sich ein Champagnerglas vom Tablett der vorbeilaufenden Bedienung und drehte sich um.
„Ein Toast!“
Die lautstarke Ankündigung ließ die Gesellschaft kurz verstummen. Binnen weniger Sekunden bildete sich ein respektvoll leerer Kreis um Michael. Die Augen der Gäste waren ausnahmslos auf ihn gerichtet.
„Man hat mich eigentlich gebeten, von dort oben zu reden.“ Michael zeigte auf das wartende Mikrophon auf der Bühne.
„Nun … ich habe mich anders entschieden. Können Sie mich gut hören?“
Die Gäste um ihn herum zeigten kaum Reaktionen. Nur vereinzelt nickten die Köpfe. Hektisch sprang ein Techniker mit einem Mikrophon herbei, der das Kabel quer durch den Saal zog. Michael nahm es entgegen und wiederholte — diesmal verstärkt — seine Frage.
„Ich fragte Sie, ob Sie mich gut hören können?“
Der Bundeskanzler war der erste, der auf die Frage reagierte.
„Junger Mann, laut und deutlich!“
Das sich anschließende Lachen richtete der Staatschef erwartungsvoll in seine Runde. Binnen eines Augenblicks lachte der ihm umgebene Kreis bereitwillig mit. Michael drehte sich der Gruppe zu.
„Herr Bundeskanzler, schön, dass Sie so guter Dinge sind. Vielleicht muss der SPIEGEL auch noch etwas lauter und deutlicher rufen, damit Sie endlich seine Einladung für das lang verweigerte Interview annehmen.“
Der darauffolgende Lacher der Pressegäste war weitaus kraftvoller und durchdrang den gesamten Saal. Der Bundeskanzler erkannte schnell die Lage und schloss sich, wenn auch innerlich widerwillig, der ausgelassenen Stimmung an.
Michael fuhr fort:
„Die bundesdeutsche Presselandschaft ist etwas Besonderes. Besonders deshalb, weil sie den Spagat zwischen Öffentlich-Rechtstaatlichkeit, Unbestechlichkeit, Unabhängigkeit, Aufmerksamkeitsstärke und Akzeptanz in der Bevölkerung wie kaum ein anderes Land schafft. Doch das ist keine Selbstverständlichkeit. Nicht nur weil wir angesichts unserer unehrenhaften Vergangenheit dazu eine Verpflichtung haben, sondern weil dieses System, dieser Zustand ständigen Veränderungen unterworfen ist. Auch wenn wir dies momentan nicht wahrnehmen mögen. Doch als Vertreter der nachfolgenden Generation garantiere ich Ihnen: Wir haben ein starkes Interesse daran, den Status Quo nicht zu konservieren, sondern ihn aufzubrechen, uns weiterzuentwickeln. Die einzige Konstante der Geschichte ist ihre Veränderung. Und auch wenn ich Ihrer — mit Verlaub Herr Bundeskanzler — penetranten Verleugnung der Realitäten nicht beipflichten kann, so bin ich zumindest mit Ihnen der gleichen Meinung, dass die Zukunft für unser Land noch Überraschungen bereithält, deren Dimension uns heute noch völlig abwegig erscheint.“
Michaels Blick fiel auf Anna. Sie stand in der ersten Reihe und blickte ihn mit erstaunten Augen an. Es war ein kurzes und zugleich intimes Lächeln, mit dem er ihr seine Dankbarkeit signalisierte. Dann schweifte sein Blick über die anderen Gesichter, die ihn aufmerksam musterten. Gesichter, die er bereits aus frühster Kindheit aus dem Fernsehen kannte. Ob als Kommentatoren, Interviewpartner, Nachrichtensprecher, Kriegsberichterstatter, Oppositionelle oder Regierende im Bundestag. Er kannte sie alle. Es waren seine heimlichen Superstars, die seit er denken konnte, zu ihm am Abendbrottisch bei laufendem Fernseher aus der Tagesschau zu ihm sprachen. Sein Vater hatte immer darauf bestanden, dass sein Sohn über die politischen Verhältnisse im Bilde war. Und jetzt war er in ihrem Bilde. War plötzlich ein Teil von ihnen. Übersprang sämtliche Stufen der Karriereleiter und wurde Deutschlands jüngster Chefmoderator. Sprach frei und unaufgeregt vor der Hautevolée der deutschen Politik- und Medienlandschaft. Und sie hörten ihm zu. Michael erzählte Anekdoten von anwesenden Politikern und redete selbstironisch aus seinem eigenen Werdegang. Er vermischte die Innenmit der Außenperspektive des deutschen Medienapparates und ließ damit die etablierten Journalisten aufhorchen. Seine politischen Zitate verpackte Michael zu unterhaltsamen Pointen. Die Rede brachte eine Frische in den traditionellen Ball, die Leichtigkeit mit Substanz mischte und damit sein überraschtes Publikum bannte. Nur den entscheidenden Faktor für seinen schnellen Erfolg ließ er unerwähnt. Die ihm zugespielten, geheimen Dokumente. Sie bildeten das Rückgrat für das Selbstbewusstsein, mit dem er in die Augen seiner Zuhörer blickte.
„… und deshalb: Lassen Sie uns anstoßen. Auf die ständige Veränderung! Auf Sie!“
Der Applaus verlor sich langsam im kristallenen Anstoßen der Sektgläser, als sich Dr. Dieter Plank mit einem vielsagenden Lächeln zwischen den vielen Gratulanten zu Michael durchdrängelte.
„So war das nicht besprochen.“
„Entlässt du mich, bevor ich bei euch angefangen habe?“
„Michael, du bist ein Sicherheitsrisiko. Aber davor hat mich bereits dein Professor gewarnt.“
„Auf das Risiko. Ich werde dein Vertrauen nicht enttäuschen.“