Читать книгу Absender Ost-Berlin - Thomas Pohl - Страница 6
Оглавление1. Berlin
Die Wohnungstür im dritten Stock der Dresdner Straße Nummer 24 in Berlin-Kreuzberg stand bereits seit zwei Stunden sperrangelweit offen. Es war einer der wenigen Abende der Woche an denen Michael nicht den Verführungen der Stadt erlag. Üblicherweise genoss er die stillen Sonntagabende in seiner Berliner Wohnung. Doch seit sich die Straßen der Dunkelheit ergeben hatten, fand er an diesem Abend keine Ruhe. Auf dem Esstisch stand noch ein Teller mit Lasagne. Unangetastet und seit Stunden kalt.
Michael saß auf der Fensterbank und schaute hinunter auf das regennasse Pflaster. Sein Daumen bohrte sich unbewusst in das Nagelbett von Finger zu Finger. Wenn er sein Gesicht an die Fensterscheibe presste, konnte er von hier aus sogar einen Teil der Mauer sehen, die sich an der nächsten Straßenecke abzeichnete. Die Graffitis auf dem Beton gehörten zu den einzigen farbigen Nuancen der grauen Umgebung. Wenige Meter von ihm entfernt, lag drohend ein Stapel unsortierter Papiere auf seinem Schreibtisch. Sie waren Teil einer angefangenen Hausarbeit, die schon seit einigen Wochen auf ihre Fertigstellung wartete. Er schaute auf die Schreibmaschine. Ein leeres Blatt steckte noch in der Walze und Michael musste innerlich über seine eigene Faulheit schmunzeln. Der Abgabetermin war bereits in drei Tagen und er hatte noch nichts Nennenswertes zu Papier gebracht. Die drohende Frist interessierte ihn jedoch in diesem Moment am wenigsten. Er wartete auf etwas ganz Anderes. Die Dämmerung, der Regen, der Wochentag, die Uhrzeit. All dies waren klare Indizien dafür, dass es heute, wenn nicht sogar in diesem Moment ein weiteres Mal passieren würde. Michael richtete seinen Blick zurück auf die Straße. Ein leichter Luftzug blies aus dem Treppenhaus durch die offene Wohnungstür. Wenn es soweit sein sollte, wollte er diesmal nicht zu spät sein. Beim letzten Mal hatte er sogar noch seinen Schlüsselbund suchen müssen. Das sollte ihm heute nicht wieder passieren. Selbst seine Jacke hatte er bereits seit zwei Stunden an. Durch die offenstehende Tür würde er bis in den dritten Stock seiner Wohnung hören, wenn jemand den Hausflur betrat. Und diesmal war er darauf vorbereitet.
Noch vor wenigen Minuten hatte seine alte Nachbarin verstohlen durch die offene Wohnungstür in seinen Flur geschielt. Er ignorierte sie, schlürfte weiter seinen Tee und betrachtete die wenigen Gestalten auf der Straße. Einige liefen mit Regenschirmen über das glänzende Pflaster. Andere hatten ihre Kragen hochgeschlagen und trugen Mützen. Wirklich erkennen konnte Michael von hier niemanden. Noch nicht einmal sein Hauseingang war von dieser Position aus zu erblicken. Seine Observationsversuche von der gegenüberliegenden Kneipe oder anderen Positionen durchzuführen, waren bislang immer gescheitert. Als würden der oder diejenigen, jeden Schritt von ihm im Voraus wissen. Nur wenn er hier im Fenster saß, würden sie — würde er — wer auch immer — würde jemand kommen.
Die Minuten verstrichen. Er hörte nichts als das Prasseln des Regens an den Fensterscheiben. Vier Zimmer, Küche, Bad. Eigentlich viel zu groß für ihn. Und dann. Ein entferntes Geräusch im Erdgeschoß ließ ihn aufhorchen. Sein Blick wandte sich in Richtung der offenstehenden Wohnungstür. Er vernahm das unverkennbare Zusammenspiel der dicken Eichentür mit den altertümlichen Beschlägen. Michael schreckte hoch. Noch auf dem Weg zum Flur vernahm er das blecherne Klappern seines Briefkastens. Als er bereits die Treppe hinunterrannte und fast ein Stockwerk hinter sich hatte, schnappte die Haustür zurück in ihr Schloss. Michaels schnelle Schritte auf der hölzernen Treppe schallten durch das Haus. Im Erdgeschoss angekommen, richtete er nur im Vorbeirennen seinen Blick auf seinen Briefkasten. Seine Hand drückte bereits wie von alleine die schwere Klinke der Haustür herunter. Ohne die Tür komplett zu öffnen, schob er seinen schmalen jugendlichen Körper durch den Spalt auf das Trottoir. Michael spürte den Regen auf seinen Haaren. Er drehte sich um seine eigene Achse. Er war bereit zu rennen. Nur in welche Richtung? Suchend drehte er seinen Kopf um die eigene Achse. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lief eine alte Frau mit ihrem Dackel von Baum zu Baum. Ansonsten war in der Nähe niemand zu sehen. Michaels Rufen schallte durch die abendliche Stille:
„Ist hier eben jemand herausgekommen?“
Die Frau sah ihn erschrocken an. Sie musste etwas gesehen haben. Michael fragte nach.
„In welche Richtung ist er gelaufen?“
Die Frau deutete in Richtung der Mauer. Der Hund zog hysterisch an der Leine und kläffte ihn an. Michael rannte los. Diesmal würde er — würden sie — ihm nicht entkommen. Wenigstens die leise Spur eines Hinweises erhoffte er sich. Doch bereits an der nächsten Straßenecke beschlich ihn der vertraute Verdacht, dass er wieder erfolglos sein würde. Er lief trotzdem weiter. Er war noch nicht bereit aufzugeben. Sein Körper hatte noch genügend Energie. Also rannte er. Die Richtung war ihm inzwischen egal. Er ließ sich von der Mauer auf der leeren Straße leiten. Die Graffitis huschten in seinen Augenwinkeln an ihm vorbei. Sich der Sinnlosigkeit seiner Verfolgungsjagd inzwischen bewusst, steuerte er auf den hölzernen Aussichtsturm zu. Er verlangsamte seinen Gang und stieg die rutschigen Stufen empor. Der Regen bildete eine glatte nasse Oberfläche auf dem Holz. Oben angekommen, wurde ihm bewusst, dass seine Verfolgung hier schon wieder endete. Michael fasste an das nasse Geländer und schaute über die Mauer. Erst jetzt spürte er seinen durchnässten Kragen. Seine nasse Hose. Die Panzersperren und der Stacheldraht hinter der Mauer waren hell erleuchtet. Die Grenzer auf dem nächsten Wachturm richteten ihre Ferngläser auf ihn und Michael schaute ihnen mit unverblümt strengem Blick entgegen. Ihn beschlich das ihm bekannte Gefühl. Als würden sie ihn kennen. Als hätten sie ihn hier erwartet. Als hätte er genau das getan, was man von ihm verlangt hätte. Er fühlte sich abermals an der Nase herumgeführt. Fühlte sich eigenartig unterlegen. Er fühlte sich manipuliert.
Michael schlenderte durch den Regen zurück zu seiner Wohnung. Vorbei an der Mauer, die ihm den Weg wies und zugleich mit ihren fast vier Metern Höhe wie ein einseitig bemalter Fremdkörper durch die Stadt schnitt. Obenauf die hohle Betonrolle, die den entkräfteten Flüchtlingen beim Überklettern den letzten Halt versagen sollte. Vorausgesetzt sie wären überhaupt bis dorthin gekommen. Hätten die Selbstschussanlagen, den Stacheldraht, die scharfen Hunde und den Schießbefehl der Grenzer überlebt. Die Perfektion der Abschirmung schuf dennoch ein kurioses Bild. So diente sie den unzähligen Künstlern mit ihren Sprühdosen als Leinwand aus Beton. Wenn auch nur von westlicher Seite.
Die Regentropfen liefen über sein Gesicht. Und selbst die Nässe unter seiner Kleidung nahm er billigend in Kauf. Die Straßen waren inzwischen wie leergefegt. Beim Aufschließen der Haustür fragte er sich wieder, wie der — wie diejenigen — an den Schlüssel dieses Schlosses gekommen waren. Wie sonst könnten sie so einfach hier hereinkommen? Er schaute sich das Schloss genauer an. Wie immer waren keine Aufbruchspuren zu erkennen. Michael ging mit langsamen Schritten auf seinen Briefkasten zu. Er fixierte lange sein Namensschild. Michael Wiesner. Was machte ihn für den — für diejenigen — so wichtig? Warum er? Er schloss seinen Briefkasten auf und öffnete die Klappe. Der Anblick des Umschlages überraschte ihn nicht. Das raue Pergament hatte er in keinem westdeutschen Bürobedarfsgeschäft je entdecken können. Er nahm ihn heraus und war lediglich verwundert über das deutlich höhere Gewicht als sonst. Er drehte seinen Kopf für einen prüfenden Blick in das Treppenhaus. Es war niemand zu sehen und zu hören. Dann riss er den Umschlag auf und zog einen Papierstapel heraus. Auf der ersten Seite stand in Großbuchstaben:
„INOFFIZIELLES GESPRÄCHSPROTOKOLL
FRANZ-JOSEF STRAUSS
(MINISTERPRÄSIDENT VON BAYERN)
MIT ERICH HONECKER
(STAATSRATSVORSITZENDER DER DDR)“