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8. Im Einstein

Es waren nur wenige Stufen, die in das Hochparterre des Café Einsteins in der Kurfürstenstraße führten. Michael war sie schon einige Male emporgestiegen. Immer zwei auf einmal. Und dieser kurze Aufstieg führte ihn in sein journalistisch-politisches Paradies. Bereits am ersten Tag seines Umzuges von Frankfurt nach Berlin trieb es ihn hierher. Es fühlte sich wichtig, seinem Studium angemessen und ungeheuer aufregend an. Michael öffnete die schwere Tür in das Foyer der Jugendstilvilla. Sein Blick folgte kurz der hölzernen Treppe zu der über dem Café befindlichen Bar. Doch die Ablenkung währte nur einen kurzen Moment und seine Schritte führten ihn zielstrebig in Richtung des Gastraumes. Die hölzerne Täfelung an den Wänden und das Ambiente erinnerten mehr an ein Kaffeehaus in Wien — eben nur in Berlin. Bereits die Kellner mit ihren langen weißen Schürzen versprühten eine Autorität, die in Sekundenbruchteil wichtige von belanglosen Gästen unterschied. Sie trugen ihre Livrees wie die Orden über den Sieg der Gestapo, die einst die Intellektuellen aus diesen Räumen jagten. Als müsse man sich seinen Status als Gast im Einstein durch sie erst legitimieren, durch sie an Wichtigkeit gewinnen.

Nur heute fühlte sich Michael entgegen der anderen Male weitaus wichtiger als sonst. Heute wurde er hierher bestellt. Heute war er mehr als nur ein Zaungast, der mit verstohlenen Blicken auf die Meinungsführer aus Politik, Gesellschaft und Medien schielte. Genau beobachtete, was sie aßen, tranken und vor allem wie sie sich hier verhielten. Das Kalbsschnitzel mit warmen Kartoffelsalat galt als die Wahl des Insiders. Dazu Grauburgunder. Michael hatte überhaupt nichts übrig für lauwarmen Kartoffelsalat. Im Café Einstein aß er ihn trotzdem. So fühlte er sich dem bedeutsamen Journalismus einfach näher.

„Sie haben reserviert?“

Der Tonfall des Kellners am Eingang war wie üblich unterkühlt und abschätzig. Als wäre er hier selbst einer der bedeutendsten politischen Akteure. Doch wahrscheinlich las er noch nicht einmal die F.A.Z.. Umso selbstbewusster raunzte Michael zurück:

„Nein!“

Michaels autoritärer Bass in seiner Stimme verfehlte nicht seine Wirkung. Zugleich tat ihm sein überlegenes Getue leid. Bewusst vermied er den Blickkontakt mit dem Concierge und schaute suchend zu den Gästen im Saal.

„Ist Dr. Plank schon da?“

Der Kellner wechselte seinen Tonfall.

„Ja gewiss.“

Mit einer professionellen Drehbewegung veränderte sich zudem seine Körperhaltung.

„Bitte folgen Sie mir. Bitte hier entlang.“

Michael folgte dem Mann, nicht ohne über die devote Dopplung des Wortes „Bitte“ lächeln zu müssen. Im Gänsemarsch schritten sie zwischen den Tischen hindurch, bis die beiden vor einem Vierertisch mit einem einzelnen Gast zum Stehen kam.

„Herr Dr. Plank, Ihre Verabredung.“

Es folgte zunächst eine Verbeugung gegenüber der Zielperson und kurz darauf in Michaels Richtung, der den Gesinnungswandel des Kellners innerlich tief genoss, bevor dieser sich diskret entfernte.

Vor Michael saß ein grauhaariger Mann Mitte Fünfzig. Die flinken stahlblauen Augen verrieten bereits seinen Scharfsinn, bevor er noch ein einziges Wort an Michael gerichtet hatte. Er deutete ein begrüßendes Aufstehen an und reckte Michael seine Hand entgegen.

„Ich bin der ohne Nelke im Knopfloch. Guten Abend Herr Wiesner, nehmen Sie Platz.“

„Guten Abend Herr Plank. Ich bin der, der keinen lauwarmen Kartoffelsalat mag.“

„Sehr sympathisch. Was trinken wir?“

Michael blickte über die gestärkte Tischdecke. Dieter Plank hatte nur ein Glas Wasser und eine leere Espressotasse vor sich stehen.

„Das würde ich gerne von unserem Essen abhängig machen.“

„Sie scheinen mir ein echter Bourgeoise zu sein. Suchen Sie sich was aus. Heute zahlt der zwangsverpflichtete GEZ-Zahler.“

„Dann esse ich sozusagen auf eigene Kosten.“

„Wenn Sie zehn Fernseher und fünf Autoradios in Ihrer Villa angemeldet haben, kommt das ja fast hin.“

Während Michael seinen Blick auf die Speisekarte richtete, musterte er heimlich sein Gegenüber. Die Ärmel des Sakkos waren dünn gewetzt. Der Rollkragenpullover ausgeleiert. Für den Nachrichtenchef des ersten Deutschen Fernsehens kam Michael die Kleidung alles andere als standesgemäß vor. Er selbst hatte seinen besten Anzug angezogen. Das einzige, auf das er verzichtet hatte, war eine Krawatte. Michael fühlte sich nicht wohl in seinem Aufzug. Trotzdem spürte er eine geistige Verwandtschaft mit dem älteren Mann, die sämtliche Aufregung verfliegen ließ.

„Sie kommen aus einem Journalisten-Elternhaus?“

Michael nickte, schob den leeren Teller zurück und tupfte sich den Mund.

„Ja, mein Vater war beim STERN.“

„Wiesner, der Grenzgänger?“

„Das war wohl unter Kollegen sein Spitzname.“

„Sie scheinen ja zu Hause mächtig die Ohren gespitzt zu haben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Na ja — journalistischer Sachverstand fällt nicht vom Himmel. Ich habe Ihren Aufsatz über das Strauß-Honecker-Treffen gelesen. So etwas habe ich selbst von meinen langjährigen Kollegen noch nicht in die Finger bekommen. Auch Ihre Abhandlung über die Finanzierung der Transitautobahnen spricht Bände.“

„Dann sind Sie wohl der einzige, der das wirklich gelesen hat.“

„Herr Wiesner, dass was ich Ihnen gerade sage, ist bereits so etwas wie ein Eigentor.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich schwäche meine Position, bevor wir überhaupt die Verhandlungen begonnen haben.“

„Wir sind uns also handelseinig?“

„Ich denke nicht, Herr Wiesner.“

Der Gesichtsausdruck des Nachrichtenchefs gewann an Härte.

„Was wollen Sie im Fernsehen?“

„Verzeihen Sie, wenn ich auf ihre Frage nicht direkt antworte. Die Frage ist vielmehr, was braucht das öffentlichrechtliche Fernsehen?“

„Etwa Sie?“

Michael beantwortete die Reaktion des Nachrichtenchefs zunächst mit einer kurzen Pause und einem anschließenden selbstbewussten Augenaufschlag. Dann nahm er einen Schluck aus dem Weinglas und fuhr mit leisem Ton fort.

„Herr Dr. Plank, mir ist durchaus die Wertigkeit dieses Treffens mit Ihnen bewusst. Ich habe Ihnen kein Bewerbungsschreiben geschickt, ich habe noch nicht einmal ein Volontariat in Ihrem Sender absolviert, geschweige denn einen einzelnen Moderationsbeitrag geleistet. Und trotzdem sitze ich mit Ihnen hier. Ich werde nicht über Geld oder Positionen feilschen. Ich denke, wir wissen beide was wir voneinander haben können. Mit mir können Sie ihren Nachrichtenkanal nicht nur ein neues Gesicht geben. Zusammen können wir Ihr erfolgreiches Format ändern, bevor sie in die Verlegenheit kommen, dazu gezwungen zu werden.“

Es war, als würde der Nachrichtenchef die zuvor verwendete dramaturgische Pause von Michael aufgreifen. Er schaute Michael mit einem übertriebenen Atmer an.

„Die Herren, ein Dessert?“

Die zwei Männer am Tisch taten so, als hätten sie die Frage des Obers überhört. Hilflos wartend pendelte der Blick des Kellners zwischen den beiden, bevor er ohne Antwort wieder von dannen zog. Dieter Plank begann zu lächeln, griff nach seinem Glas und erhob es zum Anstoßen.

„Ich denke, Sie können mich ruhig duzen.“

Michael erhob ebenfalls sein Glas und prostete.

„Herr Dr. Plank, sehr gerne. Sie mich auch.“

Auf dem Gesicht des Nachrichtenchefs machte sich ein Grinsen breit. Die Ironie, die Eloquenz und Michaels Frechheit waren so ganz nach seinem Geschmack.

Absender Ost-Berlin

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