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4. Ost-Berlin

Es hatte aufgehört zu regnen. Der große Mercedesstern auf dem Hochhausdach neben der Gedächtniskirche drehte sich regennass in der Vormittagssonne. Anna klappte ihren Taschenspiegel zusammen und verschloss ihren Lippenstift. Die Spiegelwand des Cafés reflektierte das Rot ihrer Lippen im farblosen einerlei zweckmäßiger Kleidung der umgebenen Rentner. Vielleicht ein wenig zu rot. Anna war klar, dass ihre Anwesenheit hier den Altersdurchschnitt drastisch senkte. Ihr Blick fiel unwillkürlich auf den dampfenden Asphalt des Ku’damms.

Ihren Kaffee hatte Anna bereits seit einiger Zeit ausgetrunken. Mit dem Löffel kratzte sie die Reste der aufgeschäumten Milch aus der Innenseite der Tasse. Dann schob sie das leere Geschirr von sich weg. Die belanglose Konversation von plauderten Touristen und Pensionären mischte sich mit dem Klappern von Porzellan und Kuchenkabeln. Annas Blick wechselte zwischen der Aussicht durch die Scheiben auf die Stadt und der Eingangstür des Cafés. Michael ließ auf sich warten. Anna hatte sich absichtlich in das Rondell im ersten Stock des Café Kranzlers gesetzt. Von hier hatte sie den besten Blick auf das emsige Treiben. Die breite Fußgängerpromenade füllte sich nach dem Regen langsam mit Menschen. Unübersichtlich durcheinander laufend drängten sich die Passanten mit Einkaufstüten auf dem noch nassen Asphalt. Bis auf einen. Angelehnt an die Fußgängerampel stand er vor dem Café Kranzler und schaute mit verschränkten Armen in ihre Richtung. Sein breites Grinsen war bis in den ersten Stock des Cafés zu erkennen. Sie bemerkte Michael auf den ersten Blick. Anna hob instinktiv ihre Hand. Michael winkte zurück. Ein klares Zeichen, zu ihm heraus zu kommen.

Es war eine kurze und zugleich unbeabsichtigt zärtliche Berührung ihrer Wangen. Das leise schmatzende Geräusch der begrüßenden Luftküsse traf nahezu zeitgleich ihre Ohren. Und dann gingen beide mit höflicher Distanz schlendernd nebeneinander her. Vorbei an Läden mit billigen Berliner Souvenirs, Wechselstuben, schrillen Boutiquen und Pornokinos auf der Joachimsthaler Straße. Ohne ihr Ziel zu thematisieren näherten sie sich langsam dem Bahnhof Zoo. Anna folgte bereitwillig Michaels einladender Handbewegung und ging in Richtung der Bahnsteige im Obergeschoss.

Die S-Bahn schob sich quietschend über die metallene Hochbahntrasse. Anna war klar, dass Michael sie mit einem originellen Ausflugsziel beeindrucken wollte. Und sie begriff schnell, wohin die kleine Reise führen sollte. Doch sie machte das Spiel mit und thematisierte nicht die Richtung in die der Zug steuerte. Währenddessen versuchte Michael so unverfänglich und zugleich charmant wie möglich zu sein. Er erzählte von vermeintlich profanen alltäglichen Details, deren beobachtender Scharfsinn jeden einigermaßen intellektuellen Menschen unterhalten hätte. Nur Anna durchschaute seine Rhetorik.

„Michael, hör` auf damit.“

Michael konnte seine Irritation nicht verbergen.

„Was meinst du?“

Annas Antwort schnitt wie ein Messer in Michaels Selbstbewusstsein.

„Hör` auf zu versuchen mich zu beeindrucken.“

Michaels Redefluss stockte. Sein Herzschlag beschleunigte die Frequenz. Als würde sie es spüren, blieb ihr Blick unverhohlen auf ihn gerichtet. Unterstützt von einem langsam sich abzeichnenden Lächeln, legte sie langsam ihre Beine übereinander. Es entstand eine Kunstpause, die die Wirkung ihres letzten Satzes in nahezu unübersehbaren Lettern vor ihr schweben ließ. Anna untermauerte ihren nächsten Satz mit einem reizenden Hochziehen ihrer Augenbrauen.

„Außerdem müssen wir ohnehin gleich aussteigen.“

Michael fühlte sich gleich doppelt ertappt. Anna hatte seine intellektuelle Koketterie aufgedeckt und zugleich völlig unbeeindruckt sein bislang geheim gehaltenes Ziel sicher entlarvt. Annas Tonfall wurde versöhnlicher.

„Ich finde deine Idee übrigens sehr süß.“

Ihr anhaltender Fokus in seine Augen durchbrach den Moment der üblichen Diskretion. Michael grinste verlegen. Die Angespanntheit der letzten Sekunden löste sich wieder aus Michaels Körper. Sein Blick blieb hilfesuchend auf ihre braunen Augen gerichtet. Er spürte ihre warme Hand auf seinem Knie. War dies bereits die bestätigende Antwort auf sein Verlangen nach ihr? Michael traute sich noch nicht, sich dem aufsteigenden Glücksgefühl hinzugeben. Zu stark war sein Bedürfnis nach dieser Berührung und die Hoffnung auf mehr. Das Gefühl der Überraschung überdeckte für einen kurzen Moment seinen Wunschgedanken.

Durch die Lautsprecher der S-Bahn ertönte eine Durchsage: „Reisende und Tagesbesucher nach Ost-Berlin werden gebeten, an der nächsten Station auszusteigen. Nächster Halt — Bahnhof Friedrichstraße.“

Das Bremsen brachte die Bahn zum Zittern. Es war nicht nur die abrupte Verringerung der Geschwindigkeit, die Annas Griff fester um sein Knie fassen ließ. Das Quietschen verdichtete sich zu einem alles dominierenden Schreien in dem Fahrgastraum. Michael spürte ein Zittern in sich aufsteigen.

Noch bevor der Zug zum Stillstand kam, standen die Fahrgäste auf und gingen in Richtung der Türen. Nur Anna und Michael blieben für einen unendlichen Moment voreinander sitzen. Als gälte die Aufforderung zum Verlassen des Zuges allen — nur nicht ihnen. Ihre Augen konnten nicht voneinander lassen. Das laute Kreischen der Bremsen erreichte ihre Sinne nicht. Sie waren gefangen. Gefangen voneinander und nicht bereit loszulassen. Und selbst als sich die Türen mit dem lauten Pressluftgeräusch öffneten und die Reisenden auf den Bahnsteig trieben, waren Anna und Michael nur zu einem fähig: Zu ihrem ersten Kuss.

Absender Ost-Berlin

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