Читать книгу Der Alte vom Berge - Thomas Riedel, Susann Smith - Страница 11
ОглавлениеKapitel 8
Mossul,
Brücke über den Tigris nach ›Niniveh‹
A
bu Mubarak saß aufrecht in Sattel seines Reitkamels. Er war ein eigentümlicher Kerl. Er war so klein, dass er Jack nur bis knapp zur Schulter reichte, und war dabei so hager und dürr, dass man hätte behaupten können, er habe jahrelang zwischen den Löschpapierblättern eines ›Herbariums‹15 in fortwährender Pressung gelegen. Auf seinem stolz erhobenen Kopf trug er die ›Kuffi yeh‹, ein rot-weiß-kariertes Tuch, das von einer schwarzen Kordel gehalten und von den Einheimischen ›Agal‹ genannt wurde. »Das ist der Tigris an historischer Stelle unserer Ahnen, ›Sidi‹16! Hier sind unzählige Schlachten geschlagen worden.«, erklärte der Araber in seinem sauberen weißen ›Dischdascha‹, der unmittelbar neben Jack Hemsworth ritt. Er vermied es sich direkt mit Sally zu unterhalten, die ihm zur linken Seite, leicht nach hinten versetzt, folgte. Die junge attraktive blonde Engländerin verunsicherte ihn, zumal sie immer wieder seinen Blick einzufangen suchte. Was sie vermutlich unter Ignoranz seinerseits verbuchte, war für Abu aus traditioneller Erziehung ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Blickkontakt seitens einer Frau hatte kurz zu sein. Seinetwegen konnte sie danach seinen Bart fixieren, aber auf keinen Fall war es ihr erlaubt, ihm wieder direkt in die Augen zu sehen. Zumindest trug sie ein ›Hidschab‹17, was er ihr zugutehielt, wenngleich es ihr Gesicht freiließ.
Sie erreichten die neue Brücke, über die sie ihre Kamele dem Ostufer des alten Flusses entgegensteuerten. Das betriebsame Leben von Mossul blieb hinter ihnen zurück.
Weit vor ihnen stieg die Sonne hinter den Bergen empor und blendete ihre Augen.
»Das wird ein schöner Tag, Abu«, meinte Jack. »Hoffentlich bekommen wir einiges von der ›Sargonsburg‹ zu sehen.«
»Mir wäre es schon recht, wenn es ruhig bliebe«, meldete sich Sally von hinten.
»Allah schickt uns die Sonne, ›Sidi‹. Aber wir haben zu wenig Besucher. Schlecht für uns! Da müssen wir den wenigen anderen, die kommen, mehr Geld abnehmen«, grinste Abu Mubarak unverhohlen.
»Um Himmels willen«, wehrte Jack ab.
»Alle Ausländer haben Geld, ›Sidi‹. Alle wollen für arme Führer Geld ausgeben und für Altertümer, die …«
»… ihr zu Hause in Heimarbeit herstellt, wie?«, spottete Sally.
»Wir haben auch echte, Miss«, entgegnete Abu lächelnd. »Teuer. Viel zu teuer für Sie.«
Plötzlich tönte hinter ihnen lautstark die Signalhupe eines Peugeot Typ 33, und sie mussten ihre Tiere leicht nach rechts zum Wegesrand führen. In schneller Geschwindigkeit schoss das Vehikel haarscharf an ihnen vorbei. Jack erkannte ein vertrautes Gesicht: Mabel Wrightley!
»Wie rücksichtslos. Sieht die Ungläubige nicht, dass sie unsere Kamele verschreckt?!« Bei diesen Worten legte sich seine Stirn in drohende Falten.
Jack winkte der Fahrerin zu. Sie drohte wütend zurück, was ihn aber nicht davon abhielt, ihr abermals zuzuwinken.
»Sieht aus, als werden wir nicht allein sein, Abu«, stellte er fest.
»Wir nehmen eine Abkürzung, ›Sidi‹«, erwiderte der Araber gelassen. »Ist ein direkter Weg zur Burg. Da kommen die mit dem Automobil nicht durch. Aber mit unseren Kamelen geht das spielend.«
»Meinetwegen! Ich würde mich freuen, wenn wir ihnen diese Nase drehen könnten, denn eigentlich sollte ich heute noch im Bett liegen.«
»Sie wird verärgert sein«, lachte Sally, »wo Sie doch vom Arzt den Auftrag hat, darauf zu achten, dass du nicht aufstehst.«
Nach Anweisungen ihres arabischen Führers, der ihnen von Professor Atkins empfohlen worden waren, lenkten sie die Kamele nach rechts und kamen auf einen wenig benutzten Pfad. Staubwolken waberten in die Höhe. Schon jetzt brannte die Sonne.
»Das wird ein heißer Tag werden«, meldete sich Sally zu Wort. Sie nestelte an ihrem Kopftuch, um den Mund vor dem herumfliegenden Sand zu schützen.
»Wir müssen vor allem darauf achten, ausreichend zu trinken.« Abu deutete auf die mit Wasser gefüllten Fellschläuche, die an den Satteln angebracht waren.
»Erzähl uns mal, was du über ›Sargon‹ und seine Burg weißt«, forderte ihn Sally auf. »Professor Atkins sagte, du wüsstest alles darüber.«
»›Sargon der Jüngere‹«, begann Abu salbungsvoll, »war General in ›Assur‹, der damaligen Hauptstadt Assyriens. Er stellte sich an die Spitze einer Verschwörung, die sich 722 vor Christus gegen König ›Samanassar V.‹18 richtete. Keilschrifttexte belegen das einwandfrei19«
Jack spürte, wie die Beule am Hinterkopf zu pochen begann.
»Du hörst ja nicht zu, ›Sidi‹!«, vernahm er die Stimme ihres Begleiters.
»Ist dir nicht gut?«, erkundigte sich Sally, die jetzt auf Höhe ihres Bruders ritt und dessen schmerzhafter Gesichtsausdruck ihr nicht entgangen war.
»Mach dir keine Sorgen, Sally«, wiegelte er ab, und an den Araber gerichtet: »Erzähl‘ schon weiter. Ich brenne darauf, mehr zu hören!«
»Die Stadtanlage«, fuhr Abu fort, »wurde von einer Doppelmauer eingefasst und bildete ein Rechteck von 1760 mal 1685 Yards. Wir werden um den Burghügel herumreiten und von Osten her durch das große Siegesportal kommen.«
»Kann man nicht auch von Südwesten in die Burg kommen?«, erkundigte sich Sally.
»Natürlich«, nickte ihr Führer. »Aber dann müssen wir die Tiere zurücklassen und über eine Doppeltreppe emporklettern.«
»Dann wohl doch lieber reiten, oder Jack?«
Jack nickte und Abu grinste zustimmend.
Der Weg wurde schwieriger. Sie mussten alle Aufmerksamkeit aufbieten, um die Kamele sicher zu lenken. Dicht gedrängt standen die unzähligen Kameldornbüsche. Nach einer knappen Stunde hatten sie den Ostteil des Hügels erreicht und hielten auf einem rechteckigen Platz. Links von ihnen türmten sich hohe Schuttberge auf.
»Wir sind da, ›Sidi‹!«, erklärte Abu.
Jack und Abu ließen ihre Kamele niederknien und glitten aus den Sätteln. Abu kümmerte sich um Sallys Kamel und Jack übernahm es, seiner Schwester aus dem Sattel zu helfen.
»Wie ich sehe«, stellte er nach einem Blick auf den Boden des Platzes fest, »sind hier keine frischen Reifenspuren. Der Professor kann also noch nicht da sein.«
»Kommt«, forderte Abu die Geschwister auf.
Sally und Jack folgten ihm eine Treppe hinunter.
Sie zählte sechsundzwanzig Stufen, bis sie eine Art ausgeworfenen Laufgraben erreichten, dem sie folgten.
Unvermittelt erweiterte sich der Graben. Drei gewaltige von Stierkolossen eingefasste Eingänge führten am anderen Ende des Platzes in die Burg ›Sargons‹.
Sally und Jack erblickten die Spuren einer großen Vergangenheit. Was musste Botta20 empfunden haben, als er dies hier sah, nachdem er im Jahre 1844 die ›Sargonsburg‹ ausgrub?
Sally und Jack mussten sich förmlich dazu zwingen, den imposanten Anblick nicht weiter zu bestaunen, und Abu zu folgen, der vorangegangen und bereits in den Ruinen verschwunden war.
»Hier ist die Haupthalle. Um diesen Hof herum lagen die Gemächer ›Sargons‹«, erklärte der Araber lächelnd und mit einem gewissen Stolz. »Hier links die privaten Gemächer, rechts davon mehrere Prunksäle für offizielle Anlässe.«
»Wohin führt diese Treppe«, erkundigte sich Sally interessiert und deutete auf die nur teilweise erhaltenen Stufen, die tiefer in den Hügel hinunterführten.
»Dort geht es in die Wirtschaftsräume und die Kellergewölbe. Dann weiter zur Richtstätte.«
»Hier! Die haben wir extra mitgebracht. Nimm eine Laterne«, wehrte Jack ab, als Abu eine der Fackeln aus den Eisenringen nehmen wollte.
Jack verharrte plötzlich und Sally tat es ihm nach. Sie hatten ein dumpfes, von rechts herüberschallendes Rauschen vernommen.
»Die antike Wasserspülung«, grinste Abu.
In einer Felsennische fanden sie eine in den Boden eingelassene riesige Steinplatte. Jack beugte sich hinunter. Der Schein der Laterne fiel auf den vielleicht fünfzehn Yards tiefer liegenden Wasserspiegel eines unterirdischen Kanals und wurde von diesem reflektiert.
Durch einen schmalen Gang, dessen Seitenwände durch Alabasterplatten abgeschirmt waren, erreichten sie einen rechteckigen hohen Raum. Die Wände bestanden aus glasierten Ziegeln. Mosaiken tauchten im Licht der Petroleumlaternen auf – prächtige Reliefs und phantastische Skulpturen.
Abu wandte sich einem schmalen Durchlass zu, der tiefer in den Hügel hineinführte.
Der Laternenschein fiel auf einen weißen Zettel, der neben dem Durchlass an der Wand klebte. Jack zwängte sich an ihrem stehen gebliebenen Führer vorbei. Die Nachricht war auf Arabisch. Wortlos reichte er die Notiz seiner Schwester.
»Wer immer versucht, diese Stätte zu entweihen …«, las sie laut vor, »… der soll verdammt sein. Unten wartet der Tod auf ihn. ›Der Alte vom Berge‹«
Abu Mubarak spreizte abwehrend beide Hände aus.
»Bei Allah! Wir müssen gehen! Wir dürfen auf keinen Fall tiefer in die Burg eindringen!«
Sie wollten sich schon achselzuckend fügen, als Sallys Blick auf ein paar im unteren rechten Winkel des Zettels gekritzelte Worte fiel.
»Hier steht noch etwas«, sagte sie aufgeregt. »Bin in die Katakomben eingedrungen. John B. Atkins.«
Sie reichte die Notiz ihrem Bruder.
»Hast du das Datum gesehen, Sally? Der Professor muss doch vor uns hier angekommen sein und ist sicher sofort in die Tiefe abgestiegen.«
Ein Blick auf Abu zeigte Jack, dass er diesen nicht bewegen konnte, ihnen zu folgen. Vermutlich war es aber auch besser so. Auf keinen Fall wollte er die Warnung außer Acht lassen.
»Geh‘ zu den Kamelen zurück, Abu! Und nimm meine Schwester mit. Du bist mir für sie verantwortlich«, ordnete Jack an und ignorierte den stillen Widerspruch, der in Sallys Augen lag. »Wenn ich bis Mittag nicht wieder oben bin, reitet ihr nach Mossul zurück. Ihr geht dann direkt zum Kommissar und meldet das Verschwinden von Professor Atkins und mir. Verstanden?«
Abu nickte. Sekunden später waren Sally und er verschwunden.