Читать книгу Der Alte vom Berge - Thomas Riedel, Susann Smith - Страница 16
ОглавлениеKapitel 13
›Niniveh‹,
Burgwachturm, auf dem Plateau der Ruine
J
ack erwachte durch eine Flüssigkeit, die ihm scharf durch die Kehle rann. Hustend und spuckend versuchte er sich aufzurichten. Doch eine Hand hielt ihn zurück.
Verwirrt schlug er die Augen auf und blickte in das besorgte Gesicht seiner Schwester, die sich über ihn beugte.
»›Alhamdulillah!‹51«, vernahm er Abus Stimme aus dem Hintergrund.
Plötzlich wusste er wieder, was geschehen war. »Wo ist der Kerl?«
»Keine Angst, Jack! Der kann uns nichts mehr anhaben«, ließ ihn Sally wissen.
»Ich habe ihn …«, begann der Professor und wurde von Jack direkt unterbrochen.
»Und der Falstaff?«
»Ich werde ihn fangen, und dann soll er in der ›Dschahannam‹ braten!«, versprach Abu alle Angst beiseiteschiebend.
Bevor er sich in Bewegung setzen konnte, hielt ihn die Hand des Professors zurück.
»Du bleibst hier, Abu«, befahl Atkins.
»Gebt mir einen Schluck aus meiner Medizinflasche«, bat Jack.
»Zum Teufel aber auch«, fluchte der Professor. »So langsam musst du deinen Magen mit Blech ausschlagen, damit er dir nicht durchbrennt, Jack!«
Dennoch holte er ihm die Whiskyflasche und reichte sie Sally, die sie ihm an die Lippen hielt.
Jack nahm einen kräftigen Schluck. Augenblicklich spürte er, wie seine Lebensgeister wiedererwachten.
»Los, Abu! Sieh mal nach dem Araber! Er liegt dort auf dem Weg, wo ich vorhin war«, forderte Jack ihren Führer auf. »Und nimm für alle Fälle meinen Revolver mit!«
»Ja, ›Sidi‹!«, erwiderte Abu, nahm den Revolver, dem ihn Sally reichte und verschwand.
»Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich Sally und strich ihm liebevoll durchs Haar.
Jack stemmte sich auf die Ellenbogen. In seinem Kopf schienen Granaten zu detonieren und ihn zu zerreißen.
»Ach, Sally«, brummte er. »Ich bin noch dabei herauszufinden, wo es am meisten weh tut. Aber ich glaube, ich werde dir und der Welt erhalten bleiben … Komisch, ich weiß nicht einmal mehr, wie ich zur Laubhütte zurückgekommen bin.«
»Du wurdest getragen, Bruderherz«, lächelte Sally. »Eigentlich müsstest du das ja inzwischen kennen, oder?«
Er versuchte ebenfalls zu lächeln, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Stöhnend griff er sich an den Kopf und fühlte den Verband. »Dieser Schlag war nicht von den schlechten Eltern. Dennoch habe ich ausgesprochenes Glück gehabt. Wenn ich die Granate nicht getroffen hätte, läge ich jetzt zerfetzt auf dem Weg.«
Jack richtete sich vollends auf. Noch ehe ihn seine Schwester daran hindern konnte, stand er schon auf den Beinen. »Wieviel Zeit ist inzwischen vergangen, John?«
»Keine zehn Minuten, Jack.«
»Wir müssen zusehen, dass wir diesen Dickwanst abfangen.« Jack warf ihm einen ernsten Blick zu. »Und vielleicht braucht der Angeschossene Hilfe … Und der Kerl, den du …?«
»Der braucht nichts mehr, Jack!« Atkins Stimme klang gepresst. »Ich habe noch nie einen Menschen getötet, aber hier hatte ich wirklich keine andere Wahl.«
»Die wollten uns töten«, milderte Sally ab. »Es war Notwehr!«
»Sehe ich auch so. Eine klare Sachlage«, nickte Jack.
»Ich habe dennoch einen schalen Geschmack im Mund«, seufzte der Professor. »Und jetzt, im Nachhinein, weiß ich nicht einmal mehr, was mich dazu befähigt hat, den Finger am Abzug durchzudrücken, als ich den Burschen im Visier hatte.«
»Sie haben es getan, weil es erforderlich war«, meinte Sally. »Sie haben es getan, weil der Kerl schon auf meinen Bruder angelegt hatte.«
Atkins kam nicht dazu, darauf zu antworten, denn plötzlich war Abu auf dem Weg aufgetaucht, wo der arabische Fährtensucher liegen musste, den Jack zu Beginn des Feuergefechts ausgeschaltet hatte. »Schnell, ›Sidis‹! Schnell!«
Atkins war sofort aufgesprungen und auf Abu zugelaufen. Jetzt folgte er ihm im Laufschritt.
»Hol das Verbandzeug, Sally«, wies Jack seine Schwester in weiser Voraussicht an. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass sie es brauchen würden. Dann lief er auf wackeligen Beinen hinter den beiden her.
Als Jack mit seiner Schwester den Araber erreichte, sah er, dass dieser viel Blut verloren haben musste. »Kannst du das übernehmen, Sally?«, bat er seine Schwester.
»Ich mache das«, nickte sie und kniete bereits neben dem Verwundeten nieder. Geschickt schnürte sie den noch immer blutenden Unterschenkel ab und verband das zweimal getroffene rechte Bein.
Der Araber leistete keine Gegenwehr. Er war bei der Prozedur ohnmächtig geworden.
Wenige Minuten später war alles erledigt und Sally wandte sich an die umstehenden Männer. »Bringt ihn zu unserem Lager. Ich werde später noch einmal nach seinen Wunden sehen.«
Abu und der Professor hoben den Verletzten an und trugen ihn zum Wagen, wo sie ihn mit dem Oberkörper gegen das vordere Wagenrad lehnten und ihm die Hände nach hinten an die Speichen banden.
»Woher kannst du das, Sally«, fragte Atkins erstaunt über ihre Fähigkeiten als Krankenschwester.
»Sie ist Mitglied der ›St. John’s Ambulance Association‹52, die überall in England Sanitätsschulen eingerichtet hat und freiwillige Helfer für den Rettungs- und Sanitätsdienst ausbildet. Wann immer Sally kann hilft sie dort aus«, antwortete Jack, und in seiner Stimme lag ein gewisser Stolz auf seine Schwester.
»Deine Schwester ist wirklich ungewöhnlich, Jack. Wie ich bereits sagte, sie überrascht mich immer wieder.«
»Sie wird es ganz sicher noch öfter tun, John.«
»Was ist eigentlich mit dem zweiten Fährtenleser, der dir in den Bambus gefolgt ist«, erkundigte sich Sally.
»Den kannst du zusammen mit Abu holen, John«, entgegnete Jack. »Ich werde versuchen den Dicken wiederzufinden.« Ohne auf den Protest seiner Schwester zu achten, machte sich Jack auf die Suche nach der Stelle, an der der Übergewichtige im Gebüsch untergetaucht war.
Es bedurfte keiner besonderen Kunst die Stelle ausfindig zu machen, und dem Mann durch das Gebüsch zu folgen. Schon wenig später vernahm er ein klägliches Wimmern.
Jack blieb vorsichtig. Er witterte eine Falle. Langsam kroch er, immer auf seine Deckung achtend, auf eine kleine Lichtung zu. Was sich hier seinem Auge bot, ließ ihn ungeachtet der ernsten Situation in ein brüllendes Gelächter verfallen.
Der Falstaff war auf seinem Weg in die Freiheit in eine Grube gestürzt. In dem Bemühen, sich daraus zu befreien, hatte er sich derart in ein wild rankendes Stachelgestrüpp verstrickt, dass er darin hängengeblieben war. Wie eine Fliege im Spinnennetz hing er nun mit völlig zerrissenen Kleidern und wirrem Haar im Gestrüpp und versuchte, sich der Moskitos und Ameisen zu erwehren, die ihn zu ihrem Opfer auserkoren hatten.
Jetzt erst erkannte Jack, dass der Mann genau in einen Ameisenhügel gestürzt war. In mehreren Marschreihen stürzten sich dessen Bewohner auf ihn. So sehr er auch um sich schlug, so wild er auch stöhnte und fluchte, die Quälgeister ließen nicht mehr von ihm ab.
Jack wusste, dass der Bursche verloren war, wenn er ihn ohne Hilfe hier liegen ließ. Nach einem ihm unbekannten, aber todsicheren Nachrichtensystem würden diese Ameisen andere herbeilocken und durch ihre ständigen Bisse eine tödliche Allergie auslösen. Nach und nach würden sie ihn dann vertilgen.
Vorsichtig näherte sich Jack dem Rand der Grube. Mit seinem Messer schnitt er die im Wege hängenden Ranken ab – eine nach der anderen.
»Machen Sie doch schneller!«, flehte der Dicke in einer kuriosen Mischung aus Englisch und Französisch.
Jack ließ sich davon nicht beirren. Er kappte eine Ranke nach der anderen. Dann hatte er den Mann erreicht. Er streckte seine Hand nach ihm aus. Die behaarten Hände des Dicken klammerten sich um sein Handgelenk. Sich weit nach hinten legend, zog Jack den zerschundenen Mann aus seinem Gefängnis heraus.
»Und jetzt gehen Sie vor! Wo der Weg ist, wissen Sie ja!«, befahl Jack eisig.
Watschelnd lief der Dicke vor ihm her und zum Weg hinüber, wo er sich die zerrissenen Kleidungsstücke vom Leibe riss und wild auf dem Boden wälzte, um die Quälgeister abzuschütteln.
Das laute Geschrei hatte Abu angelockt. Als er den Mann sah, der sich, nur mit Unterzeug und Socken bekleidet auf dem Weg wälzte, begann er lauthals zu lachen.
»Schnell, Abu! Hol etwas Benzin!«, herrschte Jack ihn an.
»Sofort, ›Sidi‹!«
Keine fünf Minuten später kam er mit einem der beiden Reservekanister Benzin angelaufen.
Sally folgte ihm auf dem Fuße. Auch sie musste ein Grinsen gewaltsam unterdrücken.
»So helfen Sie doch endlich!«, schrie der Dicke. »Wollen Sie etwa, dass mich diese Biester bei lebendigem Leibe auffressen?«
»Sie haben vielleicht einen sonnigen Humor!«, fuhr Jack ihn an. »Erst versuchen Sie, uns durch ihre Kumpane umbringen zu lassen, und nun sollen wir bei Ihnen die barmherzigen Samariter spielen, wie?« Jack half seine Schwester dabei den Körper des Mannes mit Benzin einzureiben. Der Dicke brüllte dabei, als würde er am Spieß über offener Flamme geröstet. Doch dann ergriffen die Ameisen die Flucht und das Geschrei des Mannes ließ nach. Mühevoll und benommen kam er auf die Beine.
»Haben Sie uns nichts zu sagen, Monsieur?«, fuhr ihn Sally in reinstem Schulfranzösisch an.
Der ›Levantiner‹53 sah die drei mit seinen wasserblauen Augen an, die wie Froschaugen unter seinen wulstigen Brauen hervorquollen. Hass glomm darin und Furcht. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen? Warum belästigen Sie mich?« Seine Stimme kippte vor Erregung über.
»Sie hatten verdammt große Eile, von hier fortzukommen, nachdem Sie feststellen mussten, dass wir Ihre Handlanger gut empfangen haben!«
»Ich warne Sie, Hemsworth! Wenn Sie, Ihre Schwester und Professor Atkins irgendwo in unserem Lande unruhig leben wollen, dann sind ›Niniveh‹ und Mossul die richtigen Orte für Sie!«
»Manifique! Manifique, Monsieur!«, spottete Jack und sah den Drohenden kaltblütig an. »Ich bin es inzwischen gewohnt auf Kaktusstacheln zu schlafen!«
»Nun hören Sie mir einmal zehn Sekunden genau zu, Hemsworth!« Der Blick des Dicken richtete sich auf Sally, die dicht vor ihn getreten war. Der ›Levantiner‹ sah unmittelbar in das Gesicht der Frau, deren Bruder bisher alle ihre Pläne durchkreuzt hatte. »Was wollen Sie von mir, s’il vous plait? Ich bin Kaufmann und …«
»… handeln mit geschmuggelten Waffen!«, fiel sie ihm ins Wort. »Das Sonderdezernat in Mossul ist höllisch daran interessiert, die Drahtzieher und Waffenlieferanten der rebellischen Banden zu erwischen.« Sie wandte sich an ihren Bruder. »Was meinst du, Jack, sollen wir Kommissar Dschiluwi einen Tipp geben?«
»Ist vielleicht keine schlechte Idee«, erwiderte Jack. »Ihn könnten wir dabei gleich abliefern.«
Ohne jede Vorwarnung glitt Jacks Rechte mit schnellem Griff in das Jackett, dass der Dicke wieder übergezogen hatte. Als er sie wieder herauszog, hielt er eine prallgefüllte Brieftasche in der Hand.
Der Dicke griff nach ihr. Geifer stand ihm vor dem Mund. Seine Hände öffneten sich zu Krallen, die bereit waren, sich zu tödlicher Umklammerung um Jacks Hals zu schließen. Doch ein Schlag auf das Brustbein warf ihn drei Schritte zurück.
»Sie wollen anscheinend nicht verstehen, dass wir es ernst meinen«, zischte Jack gefährlich. »Nun, wenn einer von der Bande des ›Alten vom Berge‹ will, dass es uns schlecht geht, dann soll er nur kommen. Ihnen aber möchte ich eines zur Warnung mit auf den Weg geben. Wir haben Ihre Papiere und könnten sofort nach Mossul zurückfahren und den Kommissar benachrichtigen, der dann innerhalb weniger Stunden das Waffenlager aushebt. Aber daran sind wir nicht interessiert. Haben Sie das verstanden?« In Jacks Augen blitzte es gefährlich auf. »Woran wir interessiert sind, ist, dass Sie und Ihresgleichen uns in Ruhe lassen, bis wir hier unsere Arbeit erledigt haben. Wenn Sie das tun, soll es uns gleich sein, was Sie machen. Sollten Sie es aber nicht, werden wir Mossul verständigen, Monsieur!«
»Glauben Sie nur nicht, dass Sie lebend nach Mossul kommen würden. Auch ihre Mitarbeiter haben die Stadt nicht erreicht.« Der Dicke lachte höhnisch. Er schien die Bösartigkeit förmlich aus allen Poren zu schwitzen.
Jack stieß ihm den Lauf des Maschinengewehrs unsanft in den Rücken. »Geben Sie mir nur einen Grund Sie zu töten und ich werde es liebend gern tun! Und jetzt vorwärts! Los!«
Sie gingen den Weg zum Heiligengrab hinauf. Als sie die Laubhütte erreichten und der Dicke seine beiden Kumpane sah, die dort am Packard angebunden saßen, stieß er einen Fluch aus.
Jack gab Abu und Atkins einen Wink. Von links und rechts traten sie an den Dicken heran und hielten ihn fest.
Gleich darauf schleiften sie ihn zu einer Palme und drückten ihn hinunter, so dass er auf seinem breiten Hintern zum Sitzen kam. Dabei brüllte er animalisch herum. In dem vergeblichen Versuch, seine Kumpane heranzurufen, schrie er, bis er, blaurot angelaufen, erschöpft aufgeben musste. »Das werden Sie mir büßen!«, heulte er. »Der ›Alte vom Berge‹ wird euch alle vernichten. Wir werden euch vierteilen, wir … wir …«
Zu mehr kam er nicht, denn Jack stopfte ihm ein Taschentuch in den Mund, dass er in der rechten Jackentasche des Mannes gefunden hatte. Eine Sekunde sah er den Dicken noch an, dann wandte er sich Atkins zu. »Sieh ihn dir an, John, diesen schmierigen Waffenschmuggler. Auf sein Konto kommen alle Morde, wenn auch nur unmittelbar. Dieses Häufchen Elend ist einer der Drahtzieher. Warum er sich hier raufgewagt hat, ist mir schleierhaft.«
»Für eine Weile wird er keine Schönheitskonkurrenz mehr gewinnen, Jack«, schmunzelte der Professor und ging auf den Packard zu. »Wir müssen so schnell wie möglich fort. Hör zu, Abu, weißt du, wo wir mit einiger Sicherheit den Einbruch der Dunkelheit abwarten können?«
Abu nicke und legte seinen Zeigefinger auf seine Lippen. »Wir müssen die beiden auch an Palmen binden«, sagte er und deutete auf die am Wagen sitzenden Banditen.
Die Arbeit war schnell erledigt und ihre Sachen schnell im Wagen verstaut.
»Wir fahren nach ›Dar-es-karam‹«, erklärte Abu leise, kaum dass der Professor den Motor des Packard gestartet hatte.
»Na, dann los. Nichts wie weg, bevor die Bande in Kompaniestärke kommt. Um die Kerle hier werden die sich schon früh genug kümmern.«
Sally und Jack schwangen sich auf die hinteren Sitze. Atkins löste die Bremse, wendete den Wagen und schon rollte er wieder durch den Schluchtweg nach unten – hinein in die Abenddämmerung.
Während Abu dem Professor die Weisungen gab, wie er zu steuern hatte, durchforschte Jack das Dickicht links und rechts des Weges. Er war bereit, beim geringsten Anzeichen einer Gefahr zu feuern.
Doch diesmal hatten sie Glück. Niemand zeigte sich. Als sie die Schlucht hinter sich hatten und den dunklen Umriss der ›Sargonsburg‹ halblinks von sich erkannten, atmeten sie erleichtert auf.
Sie folgten dem Lauf des wiederauftauchenden Schlangenbaches. Durch ein Felsgewirr, aus dem es kein Entrinnen mehr zu geben schien, lotste Abu den Packard in eine kleine Schlucht. Kurz darauf nahm sie eine waagerecht in den Felsen hineinführende Höhle auf.