Читать книгу Der Alte vom Berge - Thomas Riedel, Susann Smith - Страница 14
ОглавлениеKapitel 11
›Niniveh‹,
›Sargonsburg‹, vor der Ruine
L
autes Stimmengewirr empfing sie. Jeder der vier Männer, der die kleine Gruppe umringte, wollte sich nach den Stunden des Wartens zuerst Luft machen. Die Lautstärke hielt an, bis Professor Atkins gebieterisch die Hand hob. Die vier Männer verstummten. Dann grinsten sie den den alten Mann überrascht an. Erst jetzt fiel auch Sally und Jack auf, dass Atkins Anzug ziemlich zerrupft aussah.
»Diesen alten Kartoffelsack haben Sie wohl einer Vogelscheuche abgenommen, Professor?«
»Der war vor ein paar Stunden noch gesellschaftsfähig, Jack. Aber die verdammten … engen Gänge in der Burg. Da kann man schon einmal hängen bleiben.«
»Stimmt. Dort hätte man wirklich sehr leicht hängen bleiben können«, stimmte Jack zu. »Sehr heiß war es außerdem auch in der Burg.«
»Viel warm, Professor«, griff der Wortführer der vier Gehilfen das Stichwort auf. »Wir lange warten. Jetzt sind viel müde. Wir Pause machen müssen.«
Er schien der Älteste der vier zu sein, war lang und hager an Statur. Unter seinem stark verschmutzen Kopftuch blickten zwei kleine, stechende, aber dennoch lebhafte Augen unheimlich hervor; über den schmalen, blutleeren Lippen fristete ein dünner Bart ein kümmerliches Dasein. Das Spitze Kinn zeigte eine auffallende Neigung nach oben, und die Nase erinnerte lebhaft an einen Geier. Neben dem arabischen Blut mochte er auch noch türkisches in den Adern haben.
»Gut, Männer! Ihr könnt den ganzen Tag ausruhen … Selbstverständlich erhaltet ihr den gleichen Lohn weiter, so wie vereinbart.« Er wandte sich an den Wortführer. »Du und die anderen nehmt die Kamele und macht euch auf den Rückweg nach Mossul. Morgen früh erwarte ich dich mit den Männern vor meinem Hotel.«
Hassan verneigte sich würdevoll.
»Wie du befiehlst, ›Sidi‹. Dein Tag sei gesegnet.«
»Hoffentlich!«
»Solche Befehle würde ich mir als Arbeiter auch wünschen«, lächelte Sally.
Hassan kletterte in den Sattel.
»Willst du nicht mitkommen, Abu?«, fragte er Sallys und Jacks Führer.
Abu winkte gelassen ab.
»Ich verlasse Misses und Mister Hemsworth nicht«, gab er stolz zurück. »Ich arbeite für den Lohn, den ich bekomme.«
»Der ›Sheitan‹29 hole dich!«
»Ich an deiner Stelle würde mit ihnen zurückkehren«, meinte der Professor. »Wer weiß, was noch passiert.«
»Das werde ich nicht tun, ›Sidi‹. Sie können auf mich zählen. Ich kann gut kochen. Mein Tee wurde schon von vielen Herren gelobt.«
»Also gut«, entschied Jack. »Gib ihm den Sack mit den Vorräten, Hassan!«
Der Araber löste den Sack, den Jack am Sattel seines Reittiers befestigt hatte und reichte ihn Abu.
»Und jetzt macht euch auf den Weg«, forderte Atkins seine Männer auf. »Und vergiss nicht, morgen rechtzeitig zur Stelle zu sein, Hassan!«
Die Männer ließen die Kamele aufsteigen und trotteten langsam in Richtung Westen davon, wo hinter dem breiten Band des in der Gluthitze dampfenden Tigris die Stadt Mossul lag.
»Und wir, Professor?«, fragte Sally. »Kennen Sie einen Platz, wo wir einigermaßen geschützt sind?«
»Wir sollten durch das ›Tal der Sklaven‹ zum ›Grabmal des Heiligen‹ fahren, ›Sidi‹«, schlug Abu vor.
»Gut, Abu. Sehr gut sogar«, stimmte Atkins zu. »Von dort aus können wir auch nach Einbruch der Dunkelheit unbemerkt an die ›Sargonsburg‹ herankommen.«
»Ihr wollt doch nicht noch einmal in diese ›Dschahannam‹30 hinuntersteigen?«, entsetzte sich der tiefgläubige Moslem sofort. »Ihr wisst doch, dort brennt das Nar, das ewige Feuer. Die Flüsse dort stinken so sehr, dass der Verfluchte trotz seines glühenden Durstes nicht aus ihnen trinken kann. Denkt an den fürchterlichen Baum Zaqqum, an dessen Ästen Fruchtscheide wachsen, die wie Dämonenköpfe aussehen. Die Verdammten müssen ewig diese Früchte essen, die wie flüssiges Metall sind und wie kochendes Wasser in den Bäuchen der Sünder brennen. Es ist so schauderhaft! …«
»Und wir wollen doch die ›Zabaniyya‹31 dabei nicht vergessen, Abu, und ›Thabek‹32!«, lächelte Sally, seinen Redeschwall unterbrechend.
»Sie spotten mir, Miss Sally! Das sollten Sie nicht tun«, grollte Abu. »Ich habe Angst vor der Hölle und ihren sieben Abteilungen. In der ersten müssen die sündhaften Moslems so lange büßen, bis sie gereinigt sind. Die zweite ist für die Christen und die dritte für die Juden. Die vierte ist für die ›Sabäer‹33. In die fünfte kommen die Magier und Feueranbeter. In die sechste steckt man alle, die Götzen oder Fetische anbeten. In die Zaoviat, die siebte Abteilung aber, die auch Derk Asfal genannt wird, die die allertiefste und fürchterlichste ist, kommen alle Heuchler und Spötter, Miss Sally! Dort wird man von bösen Geistern durch Feuerströme geschleppt, und man muss die Früchte vom Zaqqum essen, welche dann die Eingeweide zerbeißen und zerfleischen!«
»Du brauchst nicht mitzugehen, Abu«, suchte Jack ihn zu beruhigen. »Nur eines musst du versprechen: Wenn wir bis morgen nach Sonnenaufgang nicht zurück sind, begibst du dich sofort nach Mossul und übergibst Kommissar Dschiluwi einen Brief, den ich gleich für ihn schreiben werde.«
»Ich werde direkt zum ›Mutasarrif‹ gehen, ›Sidi‹.«
Professor Atkins klemmte sich hinter das Steuer des schwarzen Packard und steuerte ihn um den Hügel. Abu hatte neben ihm Platz genommen, während Jack sich zu Sally nach hinten gesetzt hatte und sein Maschinengewehr schussbereit hielt. Er war fest entschlossen, auf das kleinste Anzeichen einer Feindseligkeit hin von der Waffe Gebrauch zu machen und ihrer aller Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Hier gab es nur eine Alternative, denn das hatte die Bande schon bewiesen: Sie oder wir!
Doch es geschah nichts. Der Burghügel, den sie jetzt zwischen sich und ihre Verfolger gebracht hatten, deckte sie. Sie fuhren so weit im Schutz des Hügels nach Norden und dann nach Nordosten, bis ein mit Büschen bestandenes weites Tal sie aufnahm. Tamarisken und Wacholder hatten den Weg, der nicht viel mehr als ein ausgetretener Pfad war, völlig überwuchert. Halbrechts von ihnen erhob sich über der niedrigen Höhe des Tales die dunkelgrüne Wand einer Dattelpalmen-Oase.
»Dies ist das ›Tal der Sklaven‹, ›Sidi‹«, erklärte Abu. »Hier lagerten die Männer, die ›Sargon‹ damals zum Bau seiner Burg benötigte.«
Links von ihnen erhoben sich ein paar Felsen, und als das niedrigere Felsband zu ihrer Rechten sich plötzlich höher hinaufschob, befanden sie sich in einer Schlucht, die sich sacht in die Höhe schwang.
»Die Hitze ist kaum auszuhalten«, stöhnte Sally. »Die Wände scheinen förmlich zu kochen.«
Glühend heiß stach die Sonne in die Schlucht hinunter. Nach rechts hinüberblickend, erkannte sie eine Gruppe scharlachroter und fast schwarzer Blumen, die sich fantastisch von dem dicht dahinter beginnenden Grüngürtel abhoben.
»Ist dort unten Wasser?«, wollte Jack wissen. Er deutete auf den Grüngürtel hinüber.
»Ja. ›Der kleine Fluss der Schlangen‹, ›Sidi‹. Er biegt hier in einer großen Schleife nach Südwesten ab und verschwindet dort hinter dem Burghügel«, erwiderte Abu. »Hinter der Burg kommt er wieder zutage und fließt in den Tigris.«
Die von der Sonne verbrannten Hügelkuppen links und rechts von ihnen waren vielleicht vierzig Yards hoch. In jähem Ansturm hatte das vom Wasser hervorgezauberte Grün von der Schlucht Besitz ergriffen. Wasser und Wärme hatten dieses Tal zu einer grünen Oase gemacht.
Immer noch führte der Weg bergauf und Atkins musste das Gaspedal voll durchtreten. Langsam schob sich der Packard hinauf. Ein gewaltiger Maulbeerbaum beschattete rechts von ihnen eine Fläche von zwanzig Yards im Durchmesser.
Steil stand die Sonne über ihnen. Wie flüssiges Gold fielen ihre Strahlen auf sie herunter.
Der rechte Vorderreifen des Packards rutschte in eine Vertiefung hinein. Der Motor brummte unter der Kraftanstrengung. Eine armlange Schlange wand sich mit verblüffender Schnelligkeit über den Pfad und verschwand im Gebüsch.
Einige Sekunden liefen die Räder ins Leere. Dann fassten sie wieder. Ruckartig schoss der Packard aus dem Loch heraus.
Das Dröhnen des Motors ließ Vögel aufflattern, die sich in den Schatten des dichten Grünstreifens am Bach vor der Glut der unbarmherzigen Sonne in Sicherheit gebracht hatten.
Aus dem ›Röhricht‹34, tiefer im Hintergrund der Schlucht, erklang ein Maunzen.
»Leoparden!«, flüsterte Abu mit zitternder Stimme.
Jack sah Atkins fragend an. Der Professor steuerte den Packard jetzt nach halblinks herum, wo sich ganz überraschend eine Seitenschlucht öffnete, in die er nun hineinfuhr. Ab jetzt entfernte sich der Wagen mit jedem Yard weiter von der ›Sargonsburg‹.
»Abu hat recht, Jack«, antwortete Atkins auf Jacks unausgesprochene Frage. »Hier könnten Sie tatsächlich auf Jagd gehen, wenn wir … ja, wenn wir Zeit dazu hätten.«
Atkins konzentrierte sich auf die Strecke vor ihm. Immer noch ging es bergauf. Der Weg machte einen Knick. Dann tauchte über ihnen die runde Kuppel eines Heiligengrabes auf, die halb von Büschen und Bäumen vergraben war.
Als sie das Plateau erreichten, sahen auch Sally und Jack, dass hier die Schlucht zu Ende war. Sie befanden sich auf dem Kamm des Hügels, in den sich die Seitenschlucht eingeschnitten hatte. Das mit Felsgeröll übersäte kleine Plateau wurde nach Norden und Nordosten von den Seitenwänden des Hügels überstiegen. Sie schützten den Platz vor den rauen Stürmen.
Hinter dem Heiligengrab stellte Professor Atkins den Packard ab, und sie stiegen aus. Sally und Jack erblickten die Überreste eins antiken Bauwerks.
»Das ist ein Wachturm. Er stammt noch aus ›Sargons‹ Zeit«, erklärte der Professor.
»Suchen wir erst einmal den Boden nach Spuren ab«, schlug Jack vor.
So eifrig sie auch suchten, sie fanden nicht die geringste Spur. Hier konnte seit Tagen kein Mensch mehr gewesen sein.
Aufatmend ging er mit seiner Schwester zum Wagen zurück. Sie sahen, dass Abu schon dabei war, sich den Proviantsäcken zu widmen und einiges daraus vor sich auf eine Felsplatte zu legen.
»Ein kräftiger Schluck würde mir guttun!« Jack nahm eine Flasche aus dem Sack. »Nun, Professor, wie wäre es mit einem kleinen Schluck? Wasser ist in den Schläuchen, falls Sie nicht für pure harte Sachen sind.«
»Oh, ›Sidi‹, das ist ›haram‹35. Alkohol tut Ihnen nicht gut«, bemerkte Abu, kaum das Jack die Flasche in der Hand hielt.
»Er hat recht, Jack. Whisky ist verdammt schlecht für diese Gegend!«, stimmte Sally zu. »Er ist überhaupt schlecht für alle Gegenden des Globus. Gib die Flasche her!«
Jack entzog die Flasche mit einer geschickten Körperdrehung seiner zufassenden Schwester.
»Weiß ich ja, Sally«, grinste er. »Und deshalb muss das Zeug auch vernichtet werden.«
Kopfschüttelnd war Professor Atkins zu ihnen getreten. Er griff in seine Hemdtasche und betrachtete mit einem Anflug von Wehmut die zerkrümelte filterlose Zigarette, während sich Jack einen Schluck Whisky direkt aus der Flasche genehmigte.
»Sie vereinen wohl alle Untugenden der Welt auf einmal, was?«
»Schon möglich, Professor«, erwiderte Jack. »Aber es tut verdammt gut. Jetzt noch eine Zigarette, dann ist alles wieder gut!«
Jack angelte seine Schachtel aus der Jacke, klappte sie auf und nahm eine Zigarette heraus. An der Steinplatte riss er ein Streichholz an und sog gleich darauf genießerisch den Rauch ein.
»Sie sollten sich das Rauchen abgewöhnen, Jack.«
»Aber Sie rauchen doch auch, Professor? … Es ist schwer, sich so etwas abzugewöhnen.«
»Ach was, schwer! Wenn man etwas will, ist gar nichts schwer«, überging der Professor seine Tabak-Leidenschaft. »Diese Willensschwäche der heutigen Jugend! Verdammt, da sind wir alten Hasen doch noch ganz andere Kerle. Nichts ist leichter, als sich das Rauchen abzugewöhnen. Sehen Sie mich an … Ich mache das schon seit dreißig Jahren.«
Verblüfft starrte Jack den Professor an. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
»Verstehe, Professor! Es liegt an der Sonne!«
»Jetzt halten Sie aber mal die Luft an, junger Mann«, empörte sich Atkins, »sonst bekommen Sie von mir persönlich Ihre dritte Kopfnuss!«
»Hört sofort auf! Beide!«, mischte sich Sally ein. »Es gibt anderes, das jetzt wichtiger ist! Bevor wir gleich etwas essen, sollten wir nachsehen, ob die Luft rein ist!«
»Ich übernehme das, Sally«, nickte Jack.
»Dann nehmen Sie mein Fernrohr mit.« Atkins reichte es ihm.
Das Maschinengewehr in der einen Hand und das Fernrohr in der anderen, entfernte sich Jack und kletterte in die Höhe. Er hatte seine Schwächephase überwunden und fühlte sich jetzt wieder deutlich frischer.
Sallys, Atkins und Abus Blicke folgten dem Emporkletternden.
Geschickt nahm Jack die Hindernisse. Die Leichtigkeit, mit der er Yard um Yard emporstieg, war verblüffend. Der blonde Schopf verschwand über ihnen im Gewirr der Zacken und Schrunden.
Kriechend bewegte sich Jack auf dem schmalen Grat der Wand weiter, bis er in einer Vertiefung Deckung fand. Mit einem Blick durch das Glas erkannte er unmittelbar vor sich den Burghügel.
Dieser Hügel war also einmal die Sommerresidenz des großen Königs ›Sargon II.‹ gewesen, der in den sechzehn Jahren seiner Regentschaft 721 v. Chr. ›Samaria‹36 eroberte und Babylon zurückgewann, das sich von Assyrien losgerissen hatte.
Der letzte ›Hethiterstaat‹37. ›Karkemis‹38 fiel 717 v. Chr. unter ›Sargon II.‹ Assyrien zu. Jack erinnerte sich an George Smith39, der 1876 die in biblischen, assyrischen und ägyptischen Texten erwähnte Stadt lokalisiert hatte. ›Sargon‹ hatte sich damit die Position eines uneingeschränkten Herrschers von Babylon, von der Nordgrenze bis hinunter zur Insel Dilmun40 im Persischen Golf erkämpft.
Jack ließ seinen Blick weiter kreisen. Die Hügel hinter der ›Sargonsburg‹ bargen ›Niniveh‹. Dort war die Stelle, an der Botta das ganze Jahr 1843 über vergebens gegraben hatte. Es war Layard41 vorbehalten geblieben, in ›Kujundschik‹, gegenüber am östlichen Ufer des Tigris, einen der größten Paläste auszugraben.
Jack wusste aus seinem Studium, dass ›Niniveh‹ - in der Bibel oft verflucht und gelästert – eine großartige Geschichte gehabt hatte. Hier hatten die größten assyrischen Könige residiert.
Er wollte den Professor bitten, ihm und seiner Schwester die Geschichte der Stadt zu erzählen.
Sein Blick glitt über die Ebene, die weit im Norden und Nordosten von den ersten Ausläufern des ›Zāgros‹-Gebirge begrenzt wurde. Ostwärts der ›Sargonsburg‹ erkannte er ein Zeltdorf nomadisierender Araber. Dahinter sah er einen Palmenhain. Aber er konnte nichts ausmachen, was auf die Anwesenheit ihrer Gegner hingedeutet hätte.
Besonders aufmerksam suchte Jack den Flusslauf ab. Dort, wo er am nördlichen Fuß des Hügels im Gewirr der Büsche verschwand, blieb sein Blick hängen. Dort musste – wahrscheinlich durch das dichte Gestrüpp verborgen – der Geheimeingang in den Hügel liegen, den nur die Schmuggler kannten.
Als sein Blick auf die niedrige Höhe fiel, von der aus sie bei ihrer Abfahrt beschossen worden waren, fesselte ein Aufblitzen seine Aufmerksamkeit. Er veränderte ein wenig die Einstellung seines Fernrohrs. Und plötzlich erkannte er eine Gestalt, die halb hinter einem Felsen verborgen ebenfalls mit einem Fernrohr den Hügel absuchte.
Jack lächelte. Dort also lag der Wächter, der auf ihr Wiederkommen lauern sollte.
Na, den Gefallen werden wir dir ganz bestimmt nicht tun, dachte er bei sich.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass diese Höhe nur durch die, von unten emporführende, Schlucht erreicht werden konnte, kroch er vorsichtig wieder zurück. Als er unten ankam, wischte er sich aufatmend den Schweiß von der Stirn.
»Hast du etwas Verdächtiges gefunden, Jack?«, fragte ihn seine Schwester.
Auch der Professor und Abu sahen ihm neugierig entgegen.
»Einen Wächter, drüben bei der ›Sargonsburg‹. Wie ich das einschätze, sind wir hier sicher … vorausgesetzt, dass die Banditen die Schlucht nicht unten dichtmachen und dass wir aufpassen, damit wir nicht von der Schlucht her überrascht werden.«
»Darf ich zu Tisch bitten?!«, rief ihnen Abu aus der Laubhütte zu, die er zusammen mit dem Professor und Sally, während Jacks Abwesenheit, geschickt aus zwei dicht nebeneinanderstehenden Pappeln errichtet hatte. Diese Hütte stellte einen ausgezeichneten Schutz vor der Sonne dar, die schon in wenigen Stunden mit aller Macht auch in diesen Winkel des Hochplateaus hineinstrahlen würde.
»Hm … riecht gar nicht schlecht, Abu!«, lobte Jake in der Luft schnuppernd.
»Schmeckt noch besser, ›Sidi‹, als es duftet«, lachte Abu herzlich.
Während sie aßen, was Abu ihnen mit den Zeremonien eines Küchenmeisters vorlegte, fragte Jack den Professor nach ›Niniveh‹.
»Ihre Frage bezieht sich sicher auf die assyrische Zeit?«
Jack nickte und Sally sah den Professor wissbegierig an.
»Gut. Dann will ich Ihr Grundwissen ein wenig erweitern«, schmunzelte Atkins. »Im 2. Jahrtausend vor Christus entwickelte sich ›Niniveh‹ zu einem bedeutenden urbanen und kultischen Zentrum, in dem die Göttin ›Istar‹42 verehrt wurde. Ihr Heiligtum wurde, laut dem Prolog im Codex ›Hammurapi‹, vom altassyrischen König ›Samsi-Adad I.‹ und dem altbabylonischen König ›Hammurapi‹ bewahrt. ›Samsi-Adad I.‹ rühmt sich, die ›Zikkurat‹43 ›Ekituskuga‹ und den ›Emenue‹-Tempel im ›Emesmes‹, dem heiligen Bezirk der Göttin, renoviert zu haben. Dabei habe er eine Gründungsurkunde von ›Manistusu‹, dem Sohn ›Sargons von Akkad‹ gefunden.
Im 15. und beginnenden 14. Jahrhundert vor Christus befand sich ›Niniveh‹ unter der Kontrolle des hurritischen Staates Mittani. Ab dem 13. Jahrhundert gehörte es dauerhaft zum assyrischen Reich, als eine der Residenzstädte der assyrischen Herrscher. Aus den Inschriften des ›Tiglatpilesar‹ sind besonders intensive Bauaktivitäten bekannt … so wurden zum Beispiel der Königspalast, genannt der ›Palast des Königs der Vier Weltgegenden‹, und der ›Istar‹-Tempel erneuert, die Stadtmauer instandgesetzt, sowie ein Garten und ein Kanal angelegt. In seinen Inschriften erwähnte er als früheren Bauherren des Palastes seinen Großvater ›Mutakkil-Nusku‹ und seinen Vater ›Assur-resa-isi‹. Bilder von wilden Tieren waren am Eingang des Königspalastes zu sehen. Unter anderem gab es das Bild eines Schwertwals, den der König selbst erlegt haben will. Die Türen sollen aus Holz und mit Bronze beschlagen gewesen sein. Seine Mauern bestanden aus glasierten Ziegeln in den Farben von Obsidian, Lapislazuli und Alabaster.
Im 1. Jahrtausend vor Christus wuchs ›Niniveh‹ dann zu einer bedeutenden Metropole an. Es wurden neuassyrische Inschriften entdeckt, in denen mehrere Herrscher über ihre Bauaktivitäten berichten.«
»Davon habe ich etwas gelesen«, warf Sally ein. »Soweit ich mich erinnere, erfolgte ein vollständiger Umbau unter König ›Sanherib‹. Er hat nach dem Tod seines Vaters ›Sargon II.‹ die Hauptstadt von ›Dur Sarrukin‹ nach ›Niniveh‹ verlegt und die Stadt zum Mittelpunkt seines Reiches gemacht.«
Professor Atkins nickte. »Sehr gut«, sagte er anerkennend. »Er errichtete hier eine gewaltige Stadtmauer mit einer Länge von knapp acht Meilen. Sie hatte mehrere Tore, die sie mit den Namen großer Gottheiten oder anderer Residenzstädte bzw. Provinzen, in deren Richtung sie sich öffneten, benannten.«
»Die Wasserversorgung erfolgte damals aus zwei von Norden kommenden Hauptkanälen. Ich glaube, es war aus Bawian und …«
»Maltai«, sprang Atkins ein, als Sally stockte.
»Stimmt«, lächelte sie. »Ich kam nicht gleich darauf … Unter ›Sanherib‹ und seinen beiden Nachfolgern, ›Asarhaddon‹44 und ›Assurbanipal‹, entstanden dann zwei neue monumentale Palastanlagen in ›Kujundschik‹ und ›Nebi Junus‹.«
»Auch richtig. Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis«, lobte der Professor.
»Die wurden aber leider zerstört. Es gab eine dreimonatige Belagerung durch den medischen Herrscher ›Kyaxares‹ und des babylonischen Königs ›Nabopolassar‹. Sie haben die Stadt eingenommen!« Abu lächelte. Er freute sich, eigenes Wissen beizusteuern.
»Dabei kam der assyrische König ›Sin-sar-iskun‹ laut einer babylonischen Chronik ums Leben«, warf nun Jack ein. »Ein wenig weiß ich zumindest auch.«
»Niemand hat Dir etwas anderes unterstellt«, grinste Sally frech und nippte an ihrem ›Keschreh‹, den Abu unter ihnen verteilte hatte; einem Getränk, gebraut aus den Schalen von Kaffeebohnen, gewürzt mit Zimt und Nelken.
»Während der Freilegung des ›Halzi‹- und ›Adad‹-Tores fand man zahlreiche Skelette der gefallenen Verteidiger«, fuhr Atkins fort. »Am Palastrelief sind noch weitere Spuren der Eroberung sichtbar …«
»Die Eroberer haben die Gesichter ›Sanheribs‹ und ›Assurbanipals‹ absichtlich beschädigt. Damals war das ja durchaus üblich Bilder aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Erinnert an ausgekratzte Pharaonennamen aus Kartuschen.« Sally war in ihrem Element.
»Genau so üblich war es damals auch, dass gefangene feindliche Könige am Tor von ›Niniveh‹ zur Schau gestellt wurden«, ergänzte Atkins.
Immer wieder war Jacks Blick während der Unterhaltung über das Heiligengrab hinweggegangen. Er sah das Farnkraut, das aus dem Mauerwerk herauswuchs. Die niedrigen Zwergpappeln, die das Grab im Viereck umstanden, schimmerten silbrig.
Die Stille auf der Höhe schien vollkommen zu sein. Und in dieser Stille, die nur durch die Geräusche der Essenden, Sallys Fragen und den Ausführungen des Professors gestört wurde, erschienen die Ereignisse, die sie vor wenigen Stunden erlebt hatten, einfach unglaubhaft.
»So, das reicht bis heute Abend«, durchbrach die sonore Stimme Atkins das inzwischen eingetretene Schweigen. Er griff in die Hemdtasche und holte einen Zwilling der verkrumpelten Zigarette hervor. Nachdem er den Tabak entzündet hatte, lehnte er sich gewaltig paffend zurück.
»Aber, aber!« Jack schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das wird Sie umbringen, Professor! Diese Zigaretten! Mit etwas Willenskraft wäre doch viel erreicht.«
»Ich zerreiße Sie noch in der Luft, Jack«, drohte Atkins und Sally konnte sich eines Lachens nicht erwehren.
»Wie wäre es denn, wenn wir nun eine kleine Wacheinteilung vornehmen, Professor, damit die übrigen ausruhen können. Sie werden doch …«
»Zuerst werde ich böse, wenn ihr mich weiterhin siezt, als würden wir uns das erste Mal sehen. Ich heiße John!«
»Nun gut, Prof … John! … Ich übernehme die erste Wache. Es ist gleich zwei Uhr nachmittags. Ich bleibe bis vier Uhr dort unten, wo die Seitenschlucht in die Hauptschlucht einbiegt. Bei Gefahr komme ich sofort zurück. Sollte das nicht mehr gehen, gebe ich einen kurzen Feuerstoß aus dem Gewehr ab.« Er sah Abu an. »Die zweite Wache übernimmt Abu, die dritte du, John. Sally bleibt hier.« Er warf seiner Schwester einen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete, und fuhr fort: »Danach wird es auch Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Glaubst du, dass wir es in einer Nacht schaffen werden, John?«
»Bestimmt, Jack!«, nickte der Professor. »Die Erdwand kann höchstens noch zwei Yards dick sein.«
»Nur zwei Yards? Na, das sollten wir gemeinsam mit Abu spielend schaffen, oder?«
»Ich bin auch noch da, Jack!«, maulte Sally, die sich wie aus dem Spiel genommen fühlte.
»Verzeih, Sally«, lenkte er ein.
Jack nahm noch einen Schluck aus der Flasche, ehe er im Gewirr des Bewuchses verschwand. Kopfschüttelnd blickten Sally und Atkins ihm nach.