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Kapitel 4

Mossul,

Hotel, Zimmer von Jacob Hemsworth

J

ack erwachte von einem Geräusch, von dem er zunächst nicht wusste, woher es kam. Dennoch war er sofort hellwach. Darum bemüht, keine hastige Bewegung zu machen, glitt seine Rechte empor und griff unter das Kopfkissen, unter dem sein Webley-Revolver lag. Sein Finger spürte die Kühle des Metalls. Stück um Stück zog er die Waffe vorsichtig unter dem Kissen hervor.

Die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen, versuchte er, die Dämmerung zu durchdringen. Aber nichts war zu sehen. Und dennoch spürte er wieder das Kribbeln im Nacken, das ihn immer schon gewarnt hatte.

In der linken Hälfte des Raumes befand sich niemand. Wenn Jack auch nach rechts forschen wollte, musste er sich umdrehen. Unruhig, wie ein Träumender, warf er sich auf die rechte Seite. Tief durchatmend, täuschte er einen Schlafenden vor.

Abermals öffnete er die Augen einen Spaltbreit. Das Mondlicht fiel durch die geöffnete Tür zum Balkon ins Zimmer. Nichts war zu sehen. Dann erkannte Jack plötzlich, dass sich einer der zurückgezogenen und in der Ecke zusammengerafften Vorhängte bewegte.

Jacks Blick konzentrierte sich auf diese Stelle. Eine kleine Gestalt schlüpfte mit behänden Bewegungen hinter dem Vorhang hervor und kam vollkommen lautlos quer durch den Raum auf ihn zu. Vor dem Bett blieb der nächtliche Eindringling stehen. Als er den Arm hob erkannte Jack an der Reflexion des Lichtes die Klinge eines Dolches.

Die Rechte zum Stoß erhoben, griff der kleine Mann mit der Linken ans Ende des Moskitonetzes, das seitlich unter der Matratze festgesteckt war.

Weiter kam der Mann nicht …

Jacks hundertachtzig Pfund Lebendgewicht hinderten ihn daran. In einer schnellen, fließenden Bewegung war Jack hochgeschnellt und hatte den Eindringling beim Aufprall zu Boden geschleudert.

Jacks Hände verstrickten sich im Moskitonetz. Er spürte einen stechenden Schmerz im Oberarm. Dann endlich bekamen seine Finger den Hals des Gegners zu fassen.

Mit beiden Beinen um sich tretend, versuchte der Überrumpelte, sich zu befreien. Doch vergebens. Als seine Bewegungen ermatteten, ließ Jacks Rechte los und stieß wie ein Rammpfahl in das Netzgewirr hinein, in dem er schemenhaft das Gesicht seines Gegners erkannte.

Jack hatte den Schlag mit aller Kraft ausgeführt. Er traf den ungebetenen Besucher am Kinn und setzte ihn augenblicklich außer Gefecht.

Kaum war Jack auf die Füße gekommen, befreite er sich vom Moskitonetz. Dann legte er die Fensterläden vor und machte Licht. Mit der Vorhangschnur fesselte er dem unbekannten Eindringling die Hände auf den Rücken. Erst danach kam er dazu, die Stichwunde an seinem linken Oberarm in Augenschein zu nehmen. Zum Glück war es nur ein Kratzer, den er mit etwas Jod einpinselte und mit einer Mullbinde umwickelte.

Er wollte gerade einen Knoten in die Enden machen, als ihn ein Geräusch veranlasste, sich blitzschnell zu seinem Gefangenen umzudrehen.

»Na? … Was verschafft mir die Ehre deines nächtlichen Besuches?«

Der Gefangene antwortete nicht. Stattdessen riss er an seinen Fesseln. Als er erkannte, dass seine Hände zu gut verschnürt waren, ergab er sich endlich in sein Schicksal.

»Geh zur Hölle, du ›Kafir7! Ungläubiger!«, presste er in gutturalem Englisch heraus.

»Falls ich dort sein werde, wenn du des Weges kommst, werde ich dir dort den wärmsten Platz reservieren«, erwiderte Jack, böse lächelnd. »Und jetzt los! Heraus mit der Sprache! Was wolltest du von mir? … Geld?«

Verächtlich schnaubte der Gefangene durch die Nase. Erst jetzt bemerkte Jack, dass sich auch dieser Mann in einem Drogenrausch befand. Seine Erkenntnis wurde auch sofort bestätigt.

»›Der Alte vom Berge‹ will deinen Tod. Mir hat er den Ausblick ins Paradies gezeigt.«

»Du bist also ein ›Opferbereiter‹, ein ›Fedajin8«, stellte Jack immer noch lächelnd fest. »Falls du erwartest, dass ich dich töte, jetzt, wo du versagt hast …«

»Der Tod ist für mich keine Drohung, ungläubiger Engländer! Ich werde die Brücke ›as-Sirāt9 überqueren und bei den ›Huris10 im ›Dschanna11 sein.«

Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Entzücken. Mit einem Anflug von Entsetzen erkannte Jack Hemsworth, was die für dunkle Geschäfte missbrauchten Menschen alles zu tun imstande waren, wenn sie derart mit Drogen vollgepumpt und von gewissenlosen Verbrechern auf menschliche Ziele ›angesetzt‹ wurden. Auch wenn dieser Eindringling ihm nach dem Leben getrachtet hatte, empfand er Mitleid mit diesem Mann.

»Was hat Professor Atkins dem ›Alten vom Berge‹ denn getan?«, fragte plötzlich eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund.

Sally Hemsworth hatte schon immer einen leichten Schlaf und die Geräusche im Zimmer ihres Bruders vernommen. Durch die Verbindungstür hatte sie das Zimmer betreten.

Der ›Fedajin‹ hielt die Augen geschlossen und antworte nicht mehr.

»Was willst du mit ihm machen, Jack?«

Ihr Bruder blieb ein paar Sekunden grübelnd im Zimmer stehen, ehe er ihr antwortete:

»Du verwahrst doch unsere Reisemedikamente. Ich gebe ihm eine ordentliche Dosis Schlafmittel. Dann wird er nur länger schlafen als sonst, und dass, ohne gleich im Paradies aufzuwachen.«

Sally nickte und verschwand, nur um eine Minute später mit der gewünschten Ledertasche zurückzukehren.

»Nimm bitte nicht Zuviel davon«, mahnte sie ihn. »Denk an Celestes Worte, als sie uns die Tasche gepackt hat.«

Jack nickte ihr zu und löste ein wenig ›Barbital‹-Pulver12 in einem Glas auf. Dann kniete er sich neben dem Eindringling nieder. Mit der linken hielt er ihm die Nase zu und zwang ihn auf diese Weise zu trinken.

Schon wenig später tat das starke Schlafmittel seine Wirkung.

»So, mein Freund! Jetzt haben wir die nächsten zwölf Stunden Ruhe vor dir!« Er wandte sich an seine Schwester. »Ich will vorsichtshalber nachsehen, ob wir noch anderen Besuch zu erwarten haben ... Du wartest hier!«

Jack öffnete die Fensterläden ein wenig und gab sich Mühe, möglichst vollkommen geräuschlos zu sein. Nachdem er nichts Ungewöhnliches ausmachen konnte, begab er sich zum Balkon. Auch hier war nichts zu sehen. Mit schussbereiter Waffe überstieg er das Eisengitter, das seinen Balkon von dem des Nebenzimmers trennte. Nur über den zu seiner Rechten konnte der Eindringling in sein Zimmer gelangt sein – das andere zur Linken gehörte Sally.

Die Tür des Nebenraumes stand halb offen. Der leichte Nachtwind, der ein wenig Kühle vom Tigris mitbrachte, spielte mit dem Vorhang. Entschlossen schnellte Jack in den unbekannten Raum hinein und ließ sich zu Boden gleiten …

… nichts geschah!

Regungslos blieb er liegen und erwartete den Feuerstrahl eines Schusses. Dieser Schuss blieb aus. Eine Minute später kroch er zum Bett hinüber und von dort zum Bad. Diese Tür stand ebenfalls einen Spalt auf. Aber auch hier befand sich niemand.

Erst als Jack sicher war, dass er sich allein in dem Appartement befand, schloss er geräuschlos die Fensterläden, zog die Vorhänge vor und entzündete den Docht einer Petroleumlampe.

Systematisch ging er dazu über den Schrank auszuräumen. Er durchwühlte die gesamte Kleidung. Dann kamen die Koffer an die Reihe. Doch auch hier war nichts zu finden, das ihm weitergeholfen hätte.

Unschlüssig wog er das Reisenessecaire in der Hand. Rein zufällig nahm er das Rasiermesser aus dem Etui. Als er die Klinge herausklappen ließ, fiel ein kleiner Zettel heraus, der mit winzigen arabischen Zeichen bedeckt war. Mit einem grimmigen Lächeln begann er, die Zeichen zu kopieren. Dann steckte er die Vorlage wieder in den Apparat zurück, klappte die Klinge ein und legte das Etui an den alten Platz zurück.

Er öffnete die Tür zum Flur, lehnte sie leicht an und kehrte über das Geländer des Balkons wieder in sein Zimmer zurück.

»Komm! … Hilf mir, Sally«, sagte er zu seiner Schwester, während er mit seinen Armen unter die Achseln seines Angreifers packte. »Nimm die Füße … Er hat sein Zimmer nebenan. Wir legen ihn auf sein Bett.«

Seine Schwester nickte ihm stumm zu.

Zehn Minuten später hatten sie den schlafenden Eindringling unbemerkt in sein Zimmer zurückgebracht und auf das Bett gelegt. Jack hatte ihm die Fessel gelöst und ihn dann zusammen mit seiner Schwester schlafend verlassen.

»Der wird sich noch wundern und denken, alles geträumt zu haben«, schmunzelte Jack.

»Hoffen wir es, Bruderherz!«, murmelte sie. »Wir sollten noch alle Anzeichen eines Kampfes beseitigen. Es sei denn, Du hast danach Verlangen, auf dem Präsidium wieder peinlichst befragt zu werden.«

»Womöglich werde ich sogar in Schutzhaft genommen«, meinte Jack. »Ich habe nicht vor, lange hier zu bleiben. Schließlich haben wir nur zwei oder drei Tage für ›Niniveh‹ vorgesehen, ehe wir nach Babylon zurückkehren wollten. Ich werde uns schon zu schützen wissen, Sally.«

Nachdem sie alle Spuren beseitigt hatten, holte er die Kopie der Notiz hervor, die er gefunden hatte.

»Was hast du da?«, wollte seine Schwester wissen.

»Schau es dir an.«

Gemeinsam begannen sie am Sekretär, die arabischen Schriftzeichen zu entziffern. Dabei gratulierten sie sich zu ihrem ›heldenhaften‹ Studium der arabischen Sprache und der verteufelt krausen Schrift.

Als sie am Ende ihrer Übersetzung waren, verdüsterten sich ihre Gesichter.

»Wenn der Professor morgen seinen Ausflug zur ›Sargonsburg‹ macht, wird es ihm das Genick brechen«, sagte Sally erschrocken und Jack las:

›Nach Erledigung Auftrag Jack Hemsworth, sofort neuer Einsatz ›Sargonsburg‹. Punkt Steinerner Löwe, über Wildstier und Abu.‹

»Wir sollten jetzt etwas schlafen, Schwesterherz«, suchte er Sally aufzumuntern. »Morgen werden wir weitersehen. Wir werden uns dort umschauen. Vielleicht entdecken wir den Professor und dann sollen diese komischen Vögel ruhig kommen.«

Er begleitete sie in ihr Zimmer und blieb, bis sie sich hingelegt hatte. Dann huschte er in sein Appartement, kontrollierte noch einmal die Fensterläden und prüfte die Tür. Anschließend warf auch er sich aufs Bett und schlief gleich darauf ein.


Der Alte vom Berge

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