Читать книгу Der Alte vom Berge - Thomas Riedel, Susann Smith - Страница 12
ОглавлениеKapitel 9
›Niniveh‹,
Ruinen der ›Sargonsburg‹
J
ack zwängte sich durch den schmalen Durchlass und erreichte einen seitlich abgestützten Gang. Über ihm hingen Steine bedrohlich tief von der Decke herunter. Er trug die Laterne am ausgestreckten Arm vor sich her. Immer wieder blieb er stehen, um zu horchen. Doch es war nichts zu hören, außer dem unterirdischen Rauschen des Kanals, den er durch den Abtritt gesehen hatte.
Als sich der Gang teilte, versuchte Jack, Spuren zu entdecken. Im umherhuschenden Schein der Laterne erkannte er Schrammspuren an den Alabasterplatten. Hier musste jemand harte und sperrige Gegenstände entlang getragen haben.
Der Boden war mit Fußspuren übersät. Anscheinend hatte man sich hier nicht einmal mehr die Mühe gemacht, die verräterischen Spuren zu verwischen, wie es im großen Saal geschehen war.
Jack folgte einer deutlichen, noch frischen Spur in den rechten Gang. Irgendetwas warnte ihn. Er spürte das elektrische Prickeln im Nacken und blieb lauschend stehen.
Von irgendwoher vernahm er leises Grollen. Es schien aus großer Entfernung zu kommen. Vorsichtig setzte er Fuß um Fuß nach vorn. Langsam ging er weiter, bis er vor einer Wand stand, wo der Gang plötzlich zu Ende war. Seine Hände tasteten über die Wandvorsprünge.
Als er einen, aus dem Fels herausragenden Stein ertastete, drückte er ihn herunter. Mit einem dumpfen Grollen öffnete sich ein Abgrund genau unter seinen Füßen. Kühle Luft schlug ihm entgegen, als er fiel.
Mit einem gewaltigen Satz warf er sich rückwärts und schnellte gleichzeitig in der Luft herum, um nicht mit dem Rücken auf den Felsrand aufzuschlagen. Seine Hände krallten sich in den steinigen Boden. Schmerzhaft schlugen seine Knie gegen die seitliche Felswand. Schon spürte er, dass seine Hände abglitten.
Instinktiv spreizte Jack die Beine auseinander. Rechts spürte er den Halt des rechten Fußes an der Seitenwand. Dann erreichte auch der linke Fuß die rettende Unterstützung. Er hing über einem Abgrund. Wenn er stürzte, dann war alles aus.
Unter Aufbietung aller Willenskraft presste Jack seine Knie nach außen. Schurrend glitten seine in die Seitenwände gestemmten Schuhe tiefer. Dann … endlich hatten auch seine Knie die Seitenwände erreicht.
Der Sturz in die unter ihm gähnende Tiefe, den er schon für unvermeidlich gehalten hatte, schien abgewendet. Doch wie lange konnte er sich so halten, bis seine Kräfte erlahmten und er in den rauschenden Fluss hinunterstürzte, der unter ihm entlangfloß?
Für Sekunden verließ seine Rechte die Spalte zwischen zwei Steinen und tastete sich zur Seitenwand hinüber. Als er die Vertiefung erreichte, aus der er den Steinhebel nach unten herausgezogen hatte, atmete er auf. Er spannte alle Kraft an. Seine Fingerkuppen rissen an den scharfen Kanten des Gesteins blutig auf. Er ignorierte die schmerzenden Wunden und zog sich mit schnellen Bewegungen seiner Knie abwechselnd höher. Abermals ruhte er aus. Er horchte – krampfhaft das eigene Keuchen unterdrückend – in den Gang. Wenn jetzt ein Gegner kam, war er ihm hilflos ausgeliefert.
Aber es kam niemand.
Nach einer letzten ungeheuren Anstrengung schob er sich über den Rand des Abgrundes. Auf dem Bauch liegend, atmete er eine Weile in gierigen Zügen die Luft ein. Unter der Belastung des Hinaufkletterns begannen seine Knie zu schmerzen. Ächzend kam er wieder auf die Beine und stolperte den Weg zurück, den er gekommen war. Er dankte seiner Umsicht, die Petroleumlampe zuvor auf sicherem Boden abgestellt zu haben.
Ohne jeden Zweifel hatte man eventuelle Verfolger des Professors durch die überdeutlichen Spuren in diesen Todesstollen führen und ausschalten wollen.
Doch dieser teuflische Plan war den Banditen nicht gelungen. Was ihnen jedoch gelungen war, war ihn darauf neugierig zu machen, wer sich hinter dem mysteriösen Titel ›Der Alte vom Berge‹ verbarg und welche Beweggründe diese skrupellose Bande hatte, alle aus dem Weg zu räumen, die hier graben wollten.
Jack hatte wieder die Weggabelung erreicht. Ohne zu zögern, bog er in den zweiten Gang ein. Schon nach fünfzig Yards verengte sich der Gang so sehr, dass er nur noch knapp an den Seitenwänden vorbeikommen konnte.
Prüfend ließ er den Lichtschein seiner Laterne über das nächste Stück des Weges gleiten. Er bemerkte Vasenscherben, die aus dem Schutt herausragen. Ein Glitzern an der Decke warnte ihn. Vorsichtig bewegte er sich näher an dieses verdächtige Gebilde heran.
Auf einmal erkannte er den dunklen Draht, der in knapp einem halben Fuß Höhe über dem Boden gespannt war. Dort, wo dieser Draht in die Wand führte, war die Alabasterplatte, die den Schutt abdeckte, entfernt worden. Der Draht lief über einen Holzpfosten nach oben.
Jack nahm ein Stück der zerbrochenen Platte auf. Dann trat er einige Schritte zurück und warf das Bruchstück genau auf den Draht.
Mit einem donnernden Poltern stürzten zwei kopfgroße Felsbrocken in einem Yard Abstand von der Decke herunter. Ein paar kleinere Steinbrocken und schwarze Erde rieselten nach. Vom jenseitigen Ende des Ganges hallten die brüllenden Echos zu ihm zurück.
Die Felsbrocken waren so kunstvoll in die Decke eingelassen, dass man deren tödliche Bedrohung nicht sogleich erkennen konnte. Wenn er mit dem Fuß oder mit der Hand den raffinierten Mechanismus betätigt hätte, wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem der beiden Brocken erschlagen worden.
Mit doppelter Vorsicht huschte Jack den Gang weiter. Der aufgewirbelte Staub ließ ihn sein Stofftuch aus der Hosentasche nehmen, um es sich schützend vor den Mund halten. Als er ein kaum vernehmbares Geräusch hörte, blieb er wie angewurzelt stehen.
Das waren doch Schritte?
Kamen jetzt die Initiatoren dieser heimtückischen Hinterhalte, um nach ihrem Opfer zu suchen und ihn dann verschwinden zu lassen?
In fieberhafter Eile tastete sich Jack weiter vor. Er steckte das Tuch in seine Tasche, um die Hände frei zu haben, falls er auf die Fallensteller treffen würde. In dem glatten deckungslosen Gang durften sie ihn auf keinen Fall finden. Zurückgehen wollte er aber auch nicht. Plötzlich tauchte ein schmaler Seitengang als Rettungsstation vor ihm auf. Er hatte ihn kaum erreicht, das Licht der Laterne ausgeblasen und sich hinter dem Felsen in Deckung gebracht, als er abermals Schritte hörte, die sich schnell näherten.
Es verging eine gefühlte Ewigkeit unter atemberaubender Anspannung. Schon konnte er Stimmengemurmel vernehmen. Dann huschte ein schwacher Lichtstrahl durch den Hauptgang, um sogleich wieder zu verlöschen.
Sprungbereit kauerte Jack in seiner Nische. Starker Schweißgeruch wehte ihm als Vorhut entgegen, und als unmittelbar hinter der Nische einer von zwei Männern zu sprechen begann, zuckte Jack unwillkürlich zusammen.
»Du gehst vor und siehst nach, ob dieser verdammte ›Kafir‹ dort liegt. Ich bleibe hier und decke dich!«
»›Hasanana‹21, Halim!«
Schemenhaft sichtbar huschte einer der beiden Männer an Jacks Nische vorbei. Der Zweite, den der andere mit Halim angesprochen hatte, tauchte aus dem Gang auf und zwängte sich in die Nische hinein. Vorsichtig kam er auf Jack zu, der sich in den hintersten Winkel der Nische zurückzog und den Atem anhielt.
Noch ehe Jacks geöffnete Fäuste Halim greifen konnten, zuckte der wie unter einem Peitschenhieb zusammen und schnellte mit einem gewaltigen Satz in den Hauptgang zurück.
Dieser verzweifelte Sprung rettete ihn vor Jacks Fäusten. Mit einem schrillen Schreckensschrei, warnte er seinen Kumpan.
Mit einem Griff hatte Jack den Kolben seines Webley-Revolvers in der Hand. Ein Feuerstrahl zuckte ihm entgegen. Haarscharf zischte das Geschoss an seiner rechten Schläfe vorbei und klatschte gegen die Nischenwand.
Jack visierte Halims Mündungsfeuer an und schoss um den Bruchteil einer Sekunde später. Ein gellender Schrei zeigte ihm, dass er getroffen hatte. Er warf sich nach vorn. Jetzt galt es den Gegner endgültig außer Gefecht zu setzen.
In dem Augenblick, als Jack den Gang erreichte, prallte der von der Falle zurücklaufende Mann mit voller Wucht auf ihn und riss ihn dabei im Fallen mit sich zu Boden.
»Huna, Halim! Huna! Hierher! Ich habe ihn!«, schrie der Bursche, als sich seine Pranken um Jacks Hals legten.
Mit einem harten Ruck warf sich Jack herum. Seine mit dem Revolver bewaffnete Faust fuhr seinem Gegner krachend in die Rippen. Die um seinen Hals verkrampften Finger lösten sich, und ein zweiter Schlag ließ den Kerl jäh ins Land der Träume hinübergleiten.
Gerade noch rechtzeitig warf sich Jack vor dem auf ihn anrennenden Schatten zur Seite. Halim sauste wie ein Blitz an ihm vorbei und stürzte über seinen Kumpan. Mit einem Griff hatte Jack die Laterne in der Hand. Das Licht zeigte das wutverzerrte Gesicht des sich hastig wieder aufrappelnden Gegners. In der unverletzten Linken des Mannes blitze ein Krummdolch.
Mit einer schnellen Bewegung hob Jack den Webley-Revolver. Abermals peitschte eine Kugel aus einer der sechs Kammern und riss dem Angreifer den Dolch aus der Hand. Unmittelbar darauf warf sich Jack nach vorn. Er packte den Gegner und riss ihn zu Boden.
Eine Faust landete krachend auf Jacks Kopf, und ein zweiter Schlag riss ihm den Revolver aus der Hand. Halims Kopf zuckte empor und traf schmerzhaft Jacks Kinnspitze.
Ein Sternschnuppenschwarm platzte vor seinen Augen auseinander. Mit Händen und Füßen verzweifelnd um sich schlagend, versuchte der verwundete Gegner, sich aus der Umklammerung zu lösen. Doch Jack ließ nicht locker. Gleich den Backen eines Schraubstockes schlossen sich seine Arme um die Brust des Arabers und pressten sie unerbittlich zusammen. Pfeifend stieß Halim den Atem aus.
Plötzlich hatte eine irrsinnige Wut von Jack Besitz ergriffen und ließ ihn seinen Druck noch verstärken. Die Aktionen seines Gegners wurden schwächer und schwächer. Und auf einmal war dieser Mann nur noch ein um Gnade flehendes Bündel.
Blitzschnell löste sich Jack von dem Burschen. Beide Fäuste gleichzeitig emporschnellend, traf er Halims Kinn und warf dessen Kopf mit einem fürchterlichen Ruck in den Nacken.
Danach musste Jack alle Willenskraft aufbringen, um wieder auf die Beine zu kommen. Nur mit letzter Anstrengung bezwang er den in sich aufschießenden Wunsch, einfach an Ort und Stelle liegen zu bleiben. Er musste diese beiden Kerle erst vollkommen außer Gefecht setzen, bevor sie noch Verstärkung erhielten. In seinem Schädel erklangen tausend Glocken.
Mit zitternder Hand suchte Jack nach der Petroleumlampe. Als er sie endlich gefunden hatte, riss er ein Streichholz an und hielt die Flamme an den Docht. In ihrem Lichtschein fand er seinen zu Boden gefallenen Revolver. Er ließ die Trommel herausklappen und füllte die leeren Kammern auf. Dann suchte er sich die Kordeln der Kopfbedeckungen seiner Angreifer und fesselte ihnen Hände und Füße, ehe er sie Rücken an Rücken auf den Boden des Ganges positionierte. Mit den weiß-rot-karierten Tüchern knebelte er sie.
Jack warf noch einen letzten Blick auf die zu einem Bündel verschnürten Männer, ehe er entschlossen weiter in die Richtung ging, aus der die beiden gekommen waren.
Er war sich nun ziemlich sicher, dass nicht noch weitere Überraschungen auf ihn warteten. Warum sonst hätten meine Gegner nach der Falle gesehen?
Schritt für Schritt tastete sich Jack weiter durch das unbekannte Labyrinth einer längst versunkenen Zeit, in dem Verbrecher der Gegenwart am Werk waren. Wenn der Professor wirklich hier war, dann würde er ihn auch finden. Und wehe den Burschen, wenn sie ihm auch nur ein Haar gekrümmt hatten.
Er und seine Schwester kannten den Hochschullehrer zwar erst einen Tag, und er konnte für sich nicht sagen, was ihn dazu trieb ihm beizustehen, aber wusste, dass er es tun musste.
Hier wartete ein Abenteuer auf seine Schwester und ihn. Doch daneben wartete auch etwas anderes …
… der Tod?!
Sie waren beide Optimisten, weil es das Vorrecht der Jugend ist, Optimismus zu haben und an die eigene Kraft, das eigene Können und ihren guten Stern zu glauben.
Noch war Jack keine zweihundert Yards weit gekommen, als der Gang im rechten Winkel nach rechts abbog. Bevor er die Biegung nahm, horchte er einige Minuten lang in die Finsternis hinein. Nichts war zu hören.
Oder etwa doch?
War es verhaltenes Atmen?
Plötzlich wusste Jack, dass es das Atmen eines Menschen war. Eines Menschen, der keine zwei Yards von ihm entfernt hinter einer Ecke lauerte.
In einer Art Panik, die augenblicklich sein Herz zusammenkrampfen ließ, wollte er zurücklaufen. Nur heraus aus diesem Verließ der Vorzeit, heraus aus der tödlichen Bedrohung und hinaus aus dem Labyrinth der Angst.
Doch sein eiserner Wille, die Furcht zu überwinden, ließ ihn bleiben. Etwas, was er immer wieder in Stunden höchster Gefahr spürte, brachte ihn dazu auch hier alle kreatürliche Furcht zu überwinden.
Lautlos sank er in den Vierfüßlerstand auf den Boden. Mit dem Webley-Revolver in der Rechten, näherte sich sein Kopf Inch um Inch der unteren Felskante. Ein leichter Luftzug traf sein Gesicht, als er den Felsen umrundet hatte. Keine drei Schritte vor sich erkannte er die Beine eines Mannes.
Für den Bruchteil einer Sekunde war Jack unschlüssig. Er konnte diesen Gegner mit zwei gezielten Schüssen von den Beinen reißen. Doch die Schüsse würden weit genug zu hören sein, so dass die übrigen Verbrecher genau wussten, wo er sich befand.
Sein Gegenüber enthob ihn dieser Überlegung. Denn im gleichen Augenblick bewegten sich die Füße vorsichtig auf ihn zu. Fast unmittelbar vor Jack blieben sie wieder stehen. Er sah europäisches Schuhwerk.
Den Revolver fallen lassend, griff Jack blitzschnell mit beiden Händen zu, warf sich mit einem gewaltigen Ruck zurück und riss den Mann von den Beinen. Dumpf schlug dessen Hinterkopf auf dem Boden des Ganges auf. Im selben Moment war Jack bereits über ihm. Seine Rechte traf mit voller Wucht das Kinn des Gegners.
Auch diesen Mann fesselte er auf die gleiche Weise wie zuvor die beiden anderen. Sein Aufprall würde nicht weit zu hören gewesen sein. Insgeheim ging Jack davon aus, dass nicht noch mehr Wächter aufgestellt worden waren. Schließlich war es unwahrscheinlich, dass es überhaupt jemanden gelingen konnte, die Fallen und Posten zu überwinden.
Wenige Minuten später stand Jack in einem offenen, langgestreckten Raum, in den dieser Gang mündete. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass außer ihm niemand in diesem Raum sein konnte, brannte er die Lunte seiner Laterne wieder an.
In ihrem Schein wurden großartige Bildwerke sichtbar. Zwei geflügelte Stiere schienen die Rückwand des zehn mal sechs Yards großen Raumes zu tragen. Daneben, an der linken Längswand, schienen die gewaltigen Reiterzüge eines großen Reliefs lebendig zu werden. Schlachtenszenen wurden vom Lichtkegel in eine geheimnisvolle Bewegung versetzt: Es sah so aus, als lebten die Reiter, als rotierten die Räder der Streitwagen und als schwirrten die Speere und Pfeile wirklich durch die Luft, die die Künstler vor Jahrtausenden geschaffen hatten.
Aber so sehr Jack auch suchte, von einem geheimen Durchgang war nichts zu entdecken. In diesem Raum war allem Anschein nach die Burg ›Sargons‹ zu Ende.
Aber wo war der Professor geblieben?
Jack zermarterte sich das Gehirn, um sich alles das, was der Professor seiner Schwester und ihm über den geheimen Zugang zu den Schatzkammern gesagt hatte, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Doch alles wirbelte in seinem Kopf durcheinander.
Unschlüssig schritt Jack zu den beiden Stieren hinüber. Mechanisch strich seine Hand über den Rücken des einen Stieres, der an der rechten Ecke der Querwand stand. Er spürte feine Risse im Stein, eine Rauheit, die davon herrührte, dass irgendetwas über diesen Stierrücken geschleift worden sein musste.
Und plötzlich erinnerte sich Jack wieder an den Text der Keilschriftplatte:
›Über den Rücken des göttlichen Stieres,
den kein Mensch besudelt,
führt der Weg in die Kammer der Schätze.‹
Der Lichtschein seiner Laterne huschte über den Stierrücken hinweg und tastete sich an der Wand empor. Er blieb auf den Kratzern liegen, die auch die Alabasterplatten aufwiesen.
Jack schwang sich auf den Rücken des Tieres. Von hier aus konnte er mühelos die Decke erreichen, und als seine rechte Hand in den hintersten Winkel hineingriff, spürte er, wie der Fels unter diesem Druck nachgab und geräuschlos zurückschwang.
Eine etwa zwei Fuß breite und einen Yard hohe Öffnung gähnte in der Wand unmittelbar unter der Decke des Raumes. Ohne zu zögern kletterte Jack hinein. Dabei war er bemüht, nicht das leiseste Geräusch zu machen. Vorsichtig tastete er nach dem Mechanismus und schob die Platte wieder vor. Dann kroch er weiter. Nach wenigen Yards konnte er sich wieder aufrichten. Er befand sich in einem niederen Gang – zwei Yards über dem Niveau des ersten.
Ein lauter Aufschrei, der aus der Dunkelheit zu ihm herüberdrang, ließ ihn jäh in seiner Bewegung erstarren. Das Echo eines Schusses dröhnte zu ihm herüber. Dann vernahm er lautes Getrappel.
Ohne sich lange zu besinnen, begann er zu laufen. Nach dreißig Yards machte der Gang einen scharfen Knick, und wenig später öffnete er sich zu einem langgestreckten Raum. Nischen gingen nach beiden Seiten ab.
Vom anderen Ende des mit bunten Ziegeln ausgelegten Gewölbes blitzte abermals eine Feuerblume durch die Finsternis. Eine Stimme brüllte etwas durch den Raum. Und wenngleich Jack auch nichts verstand, so erkannte er sie sofort: es war die Stimme von Professor Atkins.
Aus der nächsten Nische, rechts vor ihm, löste sich eine Gestalt und warf sich ihm entgegen. Sie rannte genau gegen Jacks vorgestreckten Revolver und stürzte zu Boden.
Mit einem weiten Sprung setzte Jack über den Liegenden hinweg und raste dorthin, wo sich der Professor im Kampf mit seinen Widersachern befand.
Zwei, drei Schüsse folgten Jack. Eine dieser ihm blindlings nachgeschickten Kugeln, die ihn verfehlte, musste einen der Männer getroffen haben, die sich vor ihm zu einem Knäuel ineinander verschlungen hatten.
»Professor Atkins!«, schrie Jack in den Lärm hinein, der durch die rollenden Echos schaurig verzerrt und verstärkt wurden.
»Hierher! Hier …! … Hilfe!«
Mit einem Hechtsprung warf sich Jack in das Getümmel. Seine Fäuste droschen wild auf Gesichter und Körper ein. Einer seiner Gegner sprang ihm von hinten auf den Rücken und blieb wie ein Reiter darauf sitzen.
In einer blitzschnellen Reaktion schlug Jack mit seiner bewaffneten Rechten nach hinten. Schreiend vor Schmerz löste sich der Mann von seinem Nacken und stürzte zu Boden.
Plötzlich lag der langgestreckte Raum in strahlender Helligkeit. Elektrisches Licht war aufgeflammt und ein Stromgenerator war angesprungen. Aus dem Hintergrund knallten zwei Schüsse. Haarscharf zischten die Projektile über Jacks Kopf hinweg, klatschten schräg gegen die Wand und heulten als Querschläger durch den Gang.
Jack sprang in eine der Nischen. Dabei stieß er schmerzhaft gegen einen großen hölzernen Gegenstand. Mit der Linken tastete er ihn ab. Es war eine Kiste.
Er hob den Revolver an und spähte in den hellen Raum. Doch was in den dunklen Nischen geschah, blieb seinem Blick verborgen. Als es abermals in einer Nische aufblitzte, krümmte Jack seinen Zeigefinger. Der Webley-Revolver in seiner Faust spuckte tödliche Kugeln aus.
Sofort verstummte das Feuer des Gegners.
»›Sa’ria‹! ›Sa’ria‹22!«, hörte er eine gutturale Stimme in Arabisch rufen.
Jack schnellte in die Höhe und feuerte erneut. Dann stürzte er sich wieder auf die beiden Männer, die erneut auf den Professor losgehen wollten, und dem er durch sein Auftauchen ein wenig Luft verschafft hatte.
Noch war Jack nicht zur Stelle, als sich eine schwarze Schnur, die aus einer der Nischen geworfen worden war, um den Hals des Professors legte. Zwei fratzenhaft verzerrte Gesichter tauchten unmittelbar darauf aus der Nische auf. Mit einem weiten Sprung warf sich Jack auf den ersten, der eben die Schlinge zuziehen wollte. Der Aufprall von Jacks Körper ließ den Mann nach hinten taumeln. Sofort straffte sich die Schlinge um Atkins Hals. Jacks Faust stieß nach vorn und traf genau die Kinnspitze des Mannes, dessen Hände sich auf der Stelle öffneten.
Professor Atkins fiel zu Boden. Rennende Schritte, die laut aus dem Hintergrund des Gewölbes widerhallten, zeigten Jack an, dass ihre Gegner flohen. Doch sie flohen nicht nur zu der Seite, aus der er gerade gekommen war, sondern auch in die entgegengesetzte Richtung.
Sein letzter Widersacher hatte sich von dem Überraschungsangriff erholt. Von unten her versuchte er im Hochschnellen einen Uppercut gegen Jack zu führen, aber er traf nur dessen Brust.
Mit unartikuliertem Brüllen warf sich der Mann nach vorn. Ein Handkantenschlag zielte genau auf Jacks Halsschlagader.
Jack sah den Schlag kommen und suchte, durch einen Ausweichschritt aus der Reichweite seines Gegners zu kommen. Doch er blieb in einer Bodenspalte stecken und fiel genau in den Schlag hinein.
Zum Glück traf ihn der Schlag viel zu tief. Es kam Jack vor, als habe ihm jemand sein Schlüsselbein mit einer Eisenstange bearbeitet. Der Schlag ließ ihn in die Knie sinken.
Noch einmal gelang es Jack, in einer instinktiven Abwehrreaktion das Gesicht seines Gegners zu treffen, als sich dieser auf ihn warf. Dann wurde er durch die Wucht des auf ihn fallenden Körpers zu Boden gedrückt. Blindlings stieß seine rechte Faust in die Höhe. Dann traf ihn ein Schlag auf den Mund. Seine Unterlippe wurde hart gegen die Zähne gepresst und platzte auf. Abermals wurde Jack voll getroffen, und diesmal schlug sein Kopf gegen den Boden.
Wie ein langes Messer wühlte sich der Schmerz durch seinen Hinterkopf. Jack spürte noch, wie sein Gegenspieler plötzlich von einem Dritten zur Seite geworfen wurde. Dann verlor er das Bewusstsein.
Professor John Atkins fühlte, wie der Druck der Schlinge, die seinen Hals umspannte, plötzlich nachließ. Er wollte zurückweichen und krachte schwer hintenüber. Benommen blieb er liegen, bis ein Keuchen ihn wieder auf die Beine schnellen ließ. Was er sah, ließ ihn sofort handeln.
Der Mann, der dort vor ihm auf den Boden ging, war niemand anders als der junge Archäologe Jacob Hemsworth. Es sah so aus, als habe er keine Chance mehr.
Trotz seines Körpergewichts warf sich der Professor mit einem langen Sprung vorwärts. Er sah, wie der Gegner abermals ausholte. Seine beiden Hände, die er im Sprung nach vorn reckte, krallten sich in die Schulter des bärenstarken Arabers und rissen ihn von dem hart zurücksackenden Jack herunter. Der Professor tat instinktiv das Richtige, als er den Gegner eisern festhielt. Er hörte einen arabischen Fluch, spürte, wie ihn der linke Fuß des Mannes traf.
Dann schlug er zu. Er hämmerte, den Burschen mit der Linken immer noch festhaltend, mit der anderen Faust auf ihn ein. Seine Knöchel schmerzten, als er das Kinn des Arabers traf. Er spürte, wie dessen Widerstand erlahmte. Abermals schlug er zu. Der Mann sackte in sich zusammen, und sich herumwerfend schmetterte Atkins dem bereits Benommenen noch seine Rechte gegen die Schläfe.
Professor Atkins untersuchte die Taschen des Mannes auf Waffen. Als er eine dünne, starke Schnur fand, begann er den Mann zu fesseln. Dann wandte er sich wieder Jack zu, der sich gerade wieder rührte.
»Was ist mit Ihnen, Jack?«, erkundigte er sich besorgt.
»Verflucht! Der Bursche hat mich hart erwischt, Professor!«
»Aber Sie haben es dem Burschen zuerst gut gegeben!«, lächelte Atkins anerkennend. »Sonst wäre es mit mir zu Ende gewesen, Jack.«
Benommen kam Jack auf die Beine. Er griff sich an den schmerzenden Schädel und begann schon damit, die Nischen abzusuchen. Doch es war niemand mehr hier. Ihre Gegner hatten sich nach seinem überraschenden Eingreifen entschieden das Weite zu suchen.
»Ich glaube, Professor, Sie haben eine besondere Gabe dafür, immer in gefährliche Situationen zu geraten«, meinte Jack, als er das Terrain abgesucht hatte.
»Nun, das Gleiche könnte ich auch von Ihnen sagen, junger Mann. Denken Sie doch mal an gestern und vorgestern«
»Bleiben Sie hier, Professor. Ich werde versuchen, zur anderen Seite vorzustoßen, um zu sehen, wie die Kerle dort hinausgekommen sind … Hier! … Nehmen Sie diesen Revolver. Er gehörte einem der Burschen.«
Jack gab dem Professor die Waffe, die er auf dem Boden des Raumes gefunden hatte, und eilte vorsichtig durch den Gang.
Am Ende des langgestreckten Gewölbes erreichte Jack einen abzweigenden schmalen Tunnel. Nach wenigen Minuten stand er vor einem schmalen senkrechten Schacht von wenigen Fuß Durchmesser. Er setzte sich an die Kante und ließ seine Füße hineinbaumeln. Mit den Füßen tastend fühlte er in die Wand eingelassene Steigeisen. Sie führten in die Tiefe. Ungefähr sechs Yards unter sich hörte er Wasser rauschen.
Dort unten schien der Fluss herzuführen, den er durch das Loch des antiken Abortes gesehen hatte, in das er beinahe gestürzt wäre. Es war sehr wahrscheinlich, dass dieser Fluss einen Ausgang aus dem Hügel hatte und dass die Banditen von dorther in die ›Sargonsburg‹ eingedrungen waren.