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Einleitung:
Die europäische Dimension
des Holocaust: Nichtdeutsche Täter
in deutschen Diensten

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Der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 war eine entscheidende Zäsur in der Gewaltgeschichte des NS-Staates. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Verfolgung angenommener und tatsächlicher politischer Gegner sowie die Drangsalierung der jüdischen Minderheit vergleichsweise wenige Todesopfer gefordert.1 Der Krieg änderte alles. Massenhafte Gewalt, die in der Struktur von Hitlers Herrschaft von vornherein angelegt war, wurde nun zum bestimmenden Merkmal der Politik, allerdings ganz überwiegend außerhalb der deutschen Grenzen.2

Während beispielsweise die stalinistische Sowjetunion ihre eigenen Bürger unter Generalverdacht stellte und millionenfach umbrachte, richtete sich der nationalsozialistische Furor gegen die Staatsangehörigen der von der Wehrmacht besetzten Länder. Demgegenüber war der Anteil Deutscher und Österreicher an der Gesamtzahl der Opfer nationalsozialistischer Gewaltverbrechen gering.3 Es bestand, mit anderen Worten, ein enger Zusammenhang zwischen Besatzungspolitik und Massenmord. Unter den rund 13 Millionen Opfern deutscher Tötungen außerhalb von Kampfhandlungen stellten die Juden mit rund 6 Millionen die mit Abstand größte Gruppe, gefolgt von sowjetischen Kriegsgefangenen mit rund 3 Millionen von der Wehrmacht getöteten Kombattanten.4

Die nationalsozialistische Führung strebte die vollständige Auslöschung des jüdischen Volkes im Machtbereich des Deutschen Reiches an. Durchgeführt wurde dieser Völkermord mit Waffengewalt auf dem Territorium der UdSSR sowie in besonderen Lager auf dem Territorium Polens. Dies waren einerseits die Lager Chełmno im Warthegau und Auschwitz-Birkenau in Oberschlesien, beide juristisch deutsches Staatsgebiet. Diese waren zum anderen Bełżec, Sobibór und Treblinka, die in den Distrikten Lublin und Warschau des so genannten Generalgouvernements, also in Ostpolen, errichtet wurden.5

Die drei letztgenannten Lager standen im Mittelpunkt der »Aktion Reinhardt«, eines Vernichtungs- und Raubprogramms größten Ausmaßes, dem in den Jahren 1942/43 deutlich mehr Juden zum Opfer fielen als Auschwitz-Birkenau.6 Im September 1942 erreichte der Holocaust seinen grässlichen Höhepunkt. Zu keinem Zeitpunkt vorher oder nachher wurden so viele jüdische Männer, Frauen und Kinder getötet wie im Spätsommer dieses Jahres.7 Die Massenverhaftungen, Deportationen, Erschießungen und Giftgasmorde der »Aktion Reinhardt« zeigen aufs Neue, dass der in der Geschichtsschreibung beider deutscher Staaten zunächst dominierende Topos vom »maschinellen«, gewissermaßen lautlos und menschenleer ablaufenden Genozid keine Entsprechung in der Realität hatte.8 Hier wurde von Angesicht zu Angesicht getötet und maximale Gewalt angewendet.

Als die Rote Armee Polen befreite, waren über drei Millionen polnische Juden umgebracht worden. In diesem Land hatte die größte jüdische Gemeinde Europas gelebt. Polen musste auch den höchsten Blutzoll für die deutsche Besatzungsherrschaft entrichten. Die polnischen Juden wurden jedoch aus antisemitischen, rassistischen und ökonomischen Gründen ermordet. Daher halten wiederholte Versuche polnischer Nachkriegsregierungen, das jüdische Leid zum Opfer für die Nation umzubiegen, dem historischen Befund nicht stand.9

1939 und 1942 waren Zäsuren, aber die Kontinuität des Mordens überwog. Inzwischen kann als gesicherte Tatsache gelten, dass Hitler nach der deutschen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten seine Untergebenen autorisierte, die europäischen Juden zu ermorden.10 Auch die Wannseekonferenz vom Januar 1942 spielte eine wichtige Rolle.11 Die Bedeutung solcher Ermächtigungen und ministerieller Abstimmungen wird jedoch durch die Todeszahlen relativiert: Bereits vor der Besprechung am Wannsee waren rund 900 000 Juden ermordet worden.12 Hitlers »Befehl« vom Dezember 1941, sofern man diesen Begriff verwenden möchte, setzte nicht den Holocaust in Gang, sondern bekräftigte den Fortgang eines beispiellosen Massenmordes, der viel früher begonnen hatte, selbstverständlich mit Wissen und Einverständnis des Diktators.13

Der Auftakt zur Ermordung der europäischen Juden war die Besetzung Polens ab September 1939. Was sich dort bis zur Ausweitung des Krieges auf die Sowjetunion abspielte, war in mancher Hinsicht eine Blaupause für den Genozid.14 Die »Aktion Reinhardt« stellte das Bindeglied zwischen den Massenerschießungen sowjetischer und westukrainischer Juden seit Sommer 1941 und der europäischen »Endlösung der Judenfrage« dar.15 Die drei Vernichtungslager wurden nacheinander erbaut: Bełżec von November 1941 bis Februar 1942, Sobibór von März bis Mai 1942, Treblinka von Mai bis Juli 1942.16 In Bełżec wurden seit Mitte März 1942 fast ausschließlich Juden aus den Distrikten Lublin und Galizien ermordet, in Sobibór seit der zweiten Maiwoche 1942 Juden aus dem Distrikt Lublin, Frankreich, den Niederlanden, Weißrussland und dem Baltikum, in Treblinka seit Ende Juli 1942 Juden aus den Distrikten Warschau und Radom, dem Bezirk Białystok sowie aus Bulgarien und Griechenland.17 Hinzu kamen in allen Lagern, vorrangig aber wohl in Sobibór und Treblinka, Juden aus dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937, aus Österreich, den annektierten westpolnischen Gebieten, dem Protektorat Böhmen und Mähren sowie der Slowakei.18 Die »Aktion Reinhardt« war ein gesamteuropäisches Ereignis.

In Bełżec, Sobibór und Treblinka wurden die Juden mit Motorabgasen erstickt.19 Die Massenmorde im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden im großen Maßstab seit Juni 1942 durchgeführt. Im Konzentrationslager Lublin-Majdanek, das offiziell als Kriegsgefangenenlager firmierte, fanden seit Herbst desselben Jahres ebenfalls Vergasungen statt. Hierzu verwendete man, wie in Auschwitz, das Blausäurepräparat Zyklon B zur Ermordung der Juden. Die Zahl der Todesopfer von Majdanek ist allerdings deutlich geringer, als zunächst angenommen wurde.20

Die Erforschung der Massenmorde am osteuropäischen »Tatort« begann spät, erst in den 1990er Jahren.21 Das hatte politische Gründe in der erstmaligen Zugänglichkeit vormals sowjetischer Archive nach dem Ende des Kalten Krieges. Es hatte generationelle Gründe im Nachwachsen von Historikerinnen und Historikern, die im Unterschied zu ihren akademischen Lehrern keine Scheu hatten, die Empirie des Massenmordes in den Blick zu nehmen. Es hatte sozialpsychologische Gründe in der fortdauernden Verdrängung des Geschehenen bis zum Ende der deutschen Teilung. Nichts belegt eindrucksvoller den Schrecken des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs als die Tatsache, dass ein halbes Jahrhundert vergehen musste, bis dieses zeitgeschichtliche Erbe im vollen Umfang angenommen werden konnte.22

Der genaue Blick auf die deutsche Besatzungspolitik in Osteuropa zeigte, dass es Konkurrenz zwischen verschiedenen Instanzen des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats gab, so zwischen dem Beamtenapparat auf der einen und dem SS- und Polizeiappparat auf der anderen Seite, dass diese »Polykratie« die Ermordung der antisemitisch Verfolgten jedoch nicht behinderte, sondern beschleunigte. Es gab Konkurrenz um die radikalsten Projekte zur Judenvernichtung, zugleich eine funktionale Arbeitsteilung zwischen zivilen und polizeilichen Funktionären. Im Detail mochte man unterschiedlicher Auffassung sein, etwa in der Frage jüdischer Arbeitskräfte, aber im Grundsatz gab es keinen Dissens über die Ermordung von Juden und anderen ›unerwünschten‹ Bevölkerungsgruppen.23 Die Forschung trug nun auch der Tatsache Rechnung, dass mindestens ein Drittel der Opfer nationalsozialistischer Judenvernichtung durch Erschießungen getötet wurde, von einem »fabrikmäßigen Töten«, das man in Auschwitz meinte realisiert zu sehen, also nur bedingt die Rede sein konnte.

Diese Studien waren, insbesondere in Deutschland, meist politik- und gesellschaftsgeschichtlich ausgerichtete »Täterforschung«, wie man in Anlehnung an die strafrechtliche Terminologie formulierte.24 Man geht von nicht weniger als 200 000 Tätern des Holocaust aus, ganz überwiegend Männer.25 Kollektivbiographien, wie sie, herausragend, der Berliner Historiker Michael Wildt über das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamts verfasste, zeigten, dass diese Männer keine Randgestalten der deutschen Gesellschaft waren, sondern aus deren Mitte kamen und nach dem Krieg auch wieder dorthin zurückkehrten, sofern sie nicht durch Ermittlungs- und Strafverfahren der bundesdeutschen Justiz aus der bürgerlichen Bahn geworfen wurden.26 Andererseits gehörte es zum Selbstverständnis dieser Vordenker nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, bei der Durchführung selbst Hand anzulegen.27 Schreibtischtäter, lange Zeit das Paradigma zeitgeschichtlicher Reflexionen innerhalb und außerhalb Deutschlands, konnten, mit anderen Worten, auch Direkttäter sein. Sie leiteten ihr professionelles Selbstverständnis daraus ab, dieser Aufgabe im vermeintlichen Interesse der »Volksgemeinschaft« gerecht geworden zu sein.

Die Ermordung der europäischen Juden war ein deutsches Massenverbrechen, das in in Ost- und Südosteuropa durchgeführt wurde. Zunehmend rückt aber ins öffentliche Bewusstsein, dass der Ermordung der Juden Frauen, Männer und vor allem Kinder aus allen Staaten des damaligen Kontinents sowie aus Nordafrika zum Opfer fielen. Mit Blick auf die Verfolgten und Getöteten ist eine europäische Gesamtdimension per se gegeben.28 Folglich lässt sich seit rund zwei Jahrzehnten eine Tendenz zur Europäisierung der Holocaust-Erinnerung beobachten.29 Von einer »Europäisierung« kann man aber auch sprechen, weil Nazi-Deutschland Unterstützer rekrutiert hatte, von der staatlichen Ebene bis hinab zu Tätern der Massenmorde. Die gesamteuropäische Dimension dieser Beteiligung zeichnet sich erst allmählich ab.30

Verbündete Regierungen beteiligten sich aus Opportunismus, Antisemitismus oder Gewinnsucht am Holocaust. Der Völkermord gab diesen Staaten Gelegenheit, ihre Bündnistreue unter Beweis zu stellen, die nichts kostete, vielmehr auch pekuniär etwas einbrachte.31 Der Antisemitismus etwa der ungarischen Regierungen vor und unter deutscher Besatzung erwies sich als radikalisierender Faktor, der erheblich zur Ermordung der ungarischen Juden in der letzten Kriegsphase beitrug.32 Solche Zusammenarbeit lässt sich nicht einfach als »Kollaboration«, also Landesverrat, abtun.33 Eine begiffliche Akzentverschiebung zur »Kooperation« soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Eliten der betreffenden Staaten keine passiven »Satelliten« des Deutschen Reiches waren, sondern meist eigenständige Agenden verfolgt hatten.34

Ferner rekrutierten die Deutschen in den besetzten und abhängigen Ländern hunderttausende Freiwillige zur Auffüllung ihrer zunehmend dezimierten militärischen Verbände. So dienten in der Wehrmacht nicht weniger als eine Million Sowjetbürger und bestand im letzten Kriegsjahr die vermeintlich »germanische« Waffen-SS überwiegend aus Ausländern und »Volksdeutschen«.

Und letztlich zog der NS-Staat ein Heer von ›freiwilligen‹ Hilfskräften für die Durchführung seiner Massenverbrechen heran, weil das eigene Personal nicht ausreichte. Auch hier gab es Entgegenkommen landeseigener Politik. So zeigte sich am Beispiel Ungarns, der Westukraine und Litauens, dass rechtsradikale Milizen eine erhebliche Rolle bei der Ingangsetzung und Durchführung des Judenmords in den besetzten Gebieten Osteuropas gespielt hatten. Sie führten als »Vergeltungsaktionen« camouflierte Pogrome gegen den angeblich »jüdischen Bolschewismus« durch und stellten später den Nukleus von Hilfspolizeieinheiten, die an der Verhaftung und Erschießung jüdischer Menschen mitwirkten.35 Die Aufmerksamkeit der Forschung richtete sich zunächst auf »Schutzmannschaften« und ähnliche militarisierte Einheiten in den zivilverwalteten Gebieten der Sowjetunion. Schutzpolizisten, Gendarmen im Einzeldienst und andere nichtdeutsche Einheiten blieben zunächst außen vor.

Von zweien dieser Formationen ist in diesem Buch die Rede: den Wachmännern des Lubliner SS- und Polizeiführers, die nach dem Namen ihres Ausbildungslagers meist als »Trawniki-Männer« bezeichnet werden, und ukrainischen Hilfspolizisten, die der deutschen Schutzpolizei zur Hand gingen. Auf das Konto der Hilfspolizei gehen Massenverhaftungen und Erschießungen, die der Deportation polnischer Juden in die Vernichtungslager vorangingen. Trawniki-Männer bewachten diese Lager und führten die Giftgasmorde mit durch.36 Mit dieser Konzentration auf die lokale Ebene von Ghettos und Lagern fügt sich das Buch in einen wichtigen Trend der neueren Kollaborationsforschung ein.37

Das Zahlenverhältnis zwischen deutschen und nichtdeutschen Tätern lag in den Lagern der »Aktion Reinhardt« zwischen eins zu sechs und eins zu zehn, in der Schutzpolizei bei eins zu zwei und mehr. Die Zahl der nichtdeutschen Beteiligten war also deutlich höher als diejenige ihrer deutschen Vorgesetzten. Und auch der Tatbeitrag der Hilfspolizeiformationen war erheblich. So verhafteten im August 1942 ukrainische Hilfspolizisten mindestens die Hälfte der aus der Hauptstadt Ostgaliziens, Lemberg, nach Bełżec deportierten Juden. In der Mordstätte, in die man sie mit dem Güterzug brachte, verrichteten Nichtdeutsche unter deutscher Aufsicht das eigentliche Tötungshandwerk.38

Die Studie gehört dem polizeigeschichtlichen Zweig der Täterforschung an. Den bahnbrechenden Auftakt bildete hierzu das Buch des amerikanischen Historikers Christopher Browning über die mörderischen Aktivitäten einer aus Hamburg stammenden Schutzpolizeiformation, des Reserve-Polizeibataillons 101, im Distrikt Lublin des Generalgouvernements.39 Brownings Interesse galt einerseits der Ereignisgeschichte der zahlreichen Untaten, die diese im mittleren Lebensalter stehenden Polizisten im Herzen nationalsozialistischer Finsternis verübt hatten.

Andererseits und vor allem wollte er Antworten auf die drängende Frage geben, warum sie gemordet hatten, obwohl die Reserve-Polizisten keine ideologische Kerngruppe des NS-Apparats dargestellt hatten und nach Brownings Auffassung auch nicht in besonderem Maße ideologisch indoktriniert worden waren. Im Ergebnis beschrieb Browning ein Ursachenbündel, darunter Gruppendruck und »Kameradschaft« innerhalb einer militärisch organisierten Gemeinschaft, Gewöhnung ans Töten und eine ausgeprägte Gehorsamsbereitschaft.40

Der amerikanische Politologe Daniel Goldhagen, Autor einer seinerzeit vieldiskutierten Studie über die Täter des Holocaust, kam auf der Grundlage derselben Akten aus der Strafjustiz, die Browning ausgewertet hatte, zu diametral entgegengesetzten Schlüssen. Nach seiner Auffassung war das Reserve-Polizeibataillon 101 exemplarisch für einen genozidalen Antisemitismus, der seit Luther tief in der deutschen Nationalkultur verankert war. Die Polizisten hatten Goldhagen zufolge Juden ermordet, weil sie es gewollt hatten. Insbesondere die Befehlsverhältnisse überschießende Grausamkeit der uniformierten Massenmörder belegte nach Goldhagens Auffassung, dass die Polizisten keine »ganz normalen Männer« (Browning), sondern »ganz normale Deutsche« gewesen waren. Der Antisemitismus, bei Browning ein Ursachenfaktor unter anderen, war für Goldhagen der entscheidende Grund für das grausige Geschehen im Distrikt Lublin.41

Nicht zuletzt wegen der Kontroverse zwischen Browning und Goldhagen wurden Polizeibataillone, besonders die ungewöhnlich dicht dokumentierte Hamburger Einheit, zum neuen Paradigma der Täterforschung. Polizeimajor Wilhelm Trapp statt SS-Obersturmführer Adolf Eichmann, Direkttäter statt Schreibtischtäter, auf diese Veränderungen lässt sich der Forschungstrend in etwa bringen.42 Der Historiker Klaus-Michael Mallmann verwendete in einem Aufsatz Ende der 1990er Jahre erstmals den plastischen Begriff des »Fußvolks«, der auch im Titel dieses Buches zu finden ist. Er bezog ihn aber ebenfalls auf militarisierte Polizeiverbände.43 Mit Blick auf die Täter wäre demzufolge nicht von »ganz normalen Deutschen«, sondern, im Sinne Brownings, von »ganz normalen Männern« unterschiedlicher Nationalitäten zu sprechen, die als »Fußvölker« mithalfen, die »Endlösung« zu realisieren.

Der von Goldhagen als spezifisch deutsch herausgestellte eliminatorische Antisemitimus erweist sich im Spiegel neuerer Forschungen indes als gemeineuropäische Erscheinung jener faschistischen Internationale, die im Windschatten des »Dritten Reiches« und seines Achsenpartners Italien auf dem Kontinent entstanden war.44

Wesentliche Impulse zur Erforschung der Trawniki-Männer gingen von der Strafverfolgung aus. Sie reicht in der Sowjetunion bis in das Jahr 1942 zurück, als diese Hilfspolizisten ihre größten Verbrechen begingen, und führt über die Vereinigten Staaten von Amerika nach Deutschland als Urheberstaat zurück.

Der sowjetische Geheimdienst verfolgte Kollaborateure der deutschen Besatzer mit besonderem Eifer. Die juristische Grundlage bildeten zunächst die Artikel 58 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik (RSFSR) von 1926 und der analog gestaltete Artikel 56 des Strafgesetzbuches der Ukrainischen SSR.45 Artikel 58 der RSFSR stellte einen weit gefassten Katalog »konterrevolutionärer Verbrechen«46 sowie die Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten oder Gruppen bei feindlichen Handlungen gegen die UdSSR unter Strafe.47 Üblicherweise wurde auf die Todesstrafe erkannt.

Mithilfe des Artikels 58 ging die Sowjetunion zunächst gegen vermeintliche oder tatsächliche Nationalisten vor, die sich der sowjetischen Besatzungsherrschaft in den 1939/40 von der UdSSR annektierten Gebieten widersetzt hatten.48 Das Strafrecht war hierbei ein Instrument stalinistischen Terrors, neben Massenverhaftungen durch den Staatssicherheitsdienst (das NKWD) und Deportationen in die Lager der »Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager« (GULag).49 Nachdem die Rote Armee diese Gebiete im Laufe des Jahres 1944 wiedererobert hatte, ging die sowjetische Justiz gegen denselben Personenkreis erneut vor, nun aber unter dem Vorwurf des Landesverrats.50 Neben der individuellen Strafverfolgung wandte die UdSSR auch das Mittel kollektiver Repressalien an. So wurden die Wolgadeutschen ab Sommer 1941 als vermeintliches Sicherheitsrisiko nach Sibirien deportiert. Ein ähnliches Schicksal traf die indigene Bevölkerung der Krim und des Kaukasus. Gegen Wolgadeutsche wurden ab 1944 zusätzlich Strafverfahren nach Artikel 58 geführt.51

Nach dem Scheitern der deutschen Offensive gegen Moskau führte das NKWD bereits im Frühjahr 1942 erste Militärstrafverfahren durch. Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erließ ferner am 19. April 1943 die erste spezifisch gegen NS-Kriegsverbrecher und Kollaborateure gerichtete Rechtsvorschrift (Ukaz Nr. 43) über »Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter […] sowie der Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern und deren Helfershelfern«.52

Auf Mordtaten der Deutschen und ihrer Verbündeten sowie Spionage und Vaterlandsverrat von Sowjetbürgern auf dem Territorium der UdSSR stand der Tod durch den Strang, der öffentlich vollzogen wurde. Zuständig waren Militärstrafgerichte. Für Beihilfe zu diesen Verbrechen waren 15 – 20 Jahre Lagerhaft vorgesehen. 1947 schaffte das Präsidium des Obersten Sowjets die Todesstrafe als Höchststrafe in der UdSSR ab und ersetzte sie durch eine 25-jährige Lagerhaft. Seit 1950 konnte dann aber doch wieder die Todesstrafe für Vaterlandsverrat und Spionage verhängt werden.53

Im großen Maßstab wurden Verfahren durchgeführt, seit die Rote Armee ab Frühjahr 1943 von der Wehrmacht besetzte Gebiete laufend zurückeroberte. Hierbei ist zwischen einheimischen Beschuldigten und in Gefangenschaft geratenen Deutschen zu unterscheiden. Gegen beide Gruppen wurden anfänglich Schauprozesse gemäß Ukaz Nr. 43 abgehalten, später Geheimverfahren vor Militärstrafgerichten des sowjetischen Innenministeriums.

Um die Abschreckungswirkung in den noch deutsch besetzten Gebieten zu erhöhen und die Westalliierten politisch unter Druck zu setzen54, führte die sowjetische Justiz im Juli 1943 einen öffentlichen Schauprozess in Krasnodar durch. Bei diesem ersten Prozess wegen NS-Verbrechen überhaupt waren elf Staatsangehörige der UdSSR unter dem Vorwurf der Kollaboration mit dem deutschen Sonderkommando 10 a (Einsatzgruppe D) angeklagt, das Gaswagen zur Vernichtung der Juden eingesetzt hatte.55 Im Dezember 1943 fand ein weiterer Schauprozess gegen drei Deutsche und einen Sowjetbürger in Charkow statt.56 Gegenstand auch dieses Verfahrens war u. a. die Ermordung der Juden. Nach Kriegsende, parallel zu den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher, folgten 1945/46 weitere Schauprozesse in sowjetischen Großstädten gegen hohe Offiziere der ehemaligen SS und Wehrmacht, darunter Anfang 1946 der ehemalige Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln, der in Riga öffentlich gehenkt wurde.57

Etwa 40 000 Sowjetbürger waren noch 1943 vom NKWD verhaftet worden. Die Zahl der Inhaftierten stieg bis in die ersten Nachkriegsjahre auf etwa 300 000. Bis 1952 dürfte die Mehrzahl von ihnen unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgeurteilt worden sein, darunter zahlreiche ehemalige Trawniki-Männer und Polizisten, die allerdings meist mit dem Leben davonkamen.58 Ferner wurden Deutsche auf dem Gebiet der Sowjetunion abgeurteilt, vor allem 1949/50, als etwa 20 000 ehemalige Wehrmachtsangehörige und Besatzungsfunktionäre in Schnellverfahren zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurden.59

Gezielte Ermittlungen gegen die ehemaligen Trawniki-Männer und Hilfspolizisten setzten etwa 1947 ein. Sie beruhten auf der Auswertung deutscher Dokumente, die die Rote Armee bei ihrem Vormarsch erbeutet hatte, und richteten sich vorrangig gegen ehemalige Rotarmisten, die nach Kriegsende in die UdSSR zurückkehrten oder von den Westalliierten dorthin repatriiert wurden. In Strafprozessen gemäß Artikel 58 wurde der Tatvorwurf meist pauschal erhoben. Für die Verurteilung genügte vielfach der Nachweis, im Lager Trawniki zum Waffendienst gegen die Sowjetunion ausgebildet worden zu sein. Dieser wurde durch Personalbögen und Versetzungsanordnungen aus der Lagerverwaltung, belastende Zeugenaussagen ehemaliger Kameraden und Geständnisse der Angeklagten geführt.60

Der Staatssicherheitsdienst arbeitete mit Folter und Gegenüberstellungen, durch die Beschuldigte unter Druck gesetzt wurden.61 Ihre Aussagen waren oft formelhaft und von stalinistischer Rhetorik geprägt. Die Anklageschrift wurde den Beschuldigten meist erst unmittelbar vor dem Prozess zugestellt. Sie verzichteten ›freiwillig‹ auf einen Rechtsbeistand und wurden oft nur aufgrund ihrer eigenen Aussage verurteilt. Eine Berufung war nicht möglich. Nur ein Teil der Verurteilten kam wegen tatsächlicher NS-Verbrechen in den GULag. Seit 1955 wurden allerdings die meisten ehemaligen Wachmänner durch eine Amnestie nach Stalins Tod aus den Zwangslagern entlassen.62

Gleichzeitig intensivierte das KGB in den 1950er Jahren seine Ermittlungen wegen NS-Verbrechen. Systematische Strafverfolgung richtete sich seit Anfang der 1960er Jahre auch gegen ehemalige Hilfspolizisten und Angehörige des SS-Ausbildungslagers Trawniki. Maßgeblich war nun nicht mehr der Artikel 58, sondern die Artikel 181 – 182 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation. Diese stärkten die Rechte der Angeklagten und schrieben den unabhängigen Zeugenbeweis verbindlich vor. Jedoch trugen die sowjetischen Verfahren wenig zur Aufklärung über die Befehlsstruktur der Massenmorde, die deutschen Vorgesetzten in den Vernichtungslagern etc. bei.63

1966/67 fand in Dnjepropetrowsk (Ukrainische SSR) der wichtigste öffentliche Strafprozess in der UdSSR gegen ehemalige Wachmänner des Vernichtungslagers Bełżec statt. Er war kein Schauprozess nach stalinistischem Muster.64 Während sich die Beschuldigten des etwa gleichzeitigen bundesdeutschen Verfahrens gegen Oberhauser u. a. im Allgemeinen zurückhaltend über ihre Tätigkeit in den Vernichtungslagern äußerten, sagten ehemalige Wachmänner im sowjetischen Zuev-Verfahren sehr viel konkreter über das grausige Geschehen in Bełżec aus.65

Der Grund für diese Offenheit war vermutlich, dass die Befragten, die meist bereits in der Stalinära verurteilt worden waren, eine erneute Verurteilung nicht fürchten mussten und daher gefahrlos die Wahrheit sagen konnten:

»Im Ermittlungsverfahren und in der Gerichtsverhandlung in meiner Sache [bei seiner früheren Verurteilung] habe ich die Tatsache meines Dienstes im Todeslager Belzec und der dort begangenen Verbrechen verschwiegen, weil ich Angst vor der Verantwortung deswegen hatte. Ich habe verstanden, dass ich ein schweres Verbrechen begangen habe, deshalb habe ich es verschwiegen, da ich gewusst habe, dass ich viel härtere Folgen hätte tragen müssen, wenn ich vom Dienst in Belzec und den von uns dort begangenen Verbrechen erzählt hätte. Jetzt habe ich eine Strafe für den Dienst bei der SS verbüßt und weiß, dass man sich nicht zweimal wegen eines Verbrechens verantworten muss, deshalb habe ich beschlossen, alles so zu erzählen, wie es gewesen war. Aus diesem Grund ist alles, was ich über das Todeslager Belzec und die dort begangenen Verbrechen sowie die Personen, die ich genannt habe, die Wahrheit.«66

Trotz der dubiosen rechtsstaatlichen Qualität sowjetischer Aussagen ist ihr Stellenwert für die historische Forschung hoch. Was sowjetische Beschuldigte in den späten 1940er und frühen 1950er Jahre aussagten, war oftmals das Erste, was man über die Vorgänge in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt« überhaupt erfahren konnte, sieht man von den Berichten Kurt Gersteins und Wilhelm Cornides' ab, die in der Bundesrepublik publiziert wurden.67 Ermittlungen wegen der Verbrechen in diesen Lagern kamen in der Bundesrepublik erst deutlich später in Gang.

Zudem muss zwischen den Urteilen jener Jahre und den Vernehmungen als solchen unterschieden werden: Erstere waren gewissermaßen vorgefertigt; letztere hingegen haben oft einen hohen Informationswert, weil die Vernehmungsbeamten des NKWD den Werdegang und die Einsätze der Betreffenden genau erfragten. Den Ermittlern lagen meist Versetzungslisten aus dem Lager Trawniki vor, mit denen die Beschuldigten konfrontiert werden konnten. Auf diese Weise kamen weitere Details zum Vorschein, die sich aus den genannten Urkunden nicht unmittelbar entnehmen ließen.68

Als Zwischenfazit lässt sich feststellen, dass die sowjetischen Verfahren rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügten. Bei den geheimen Schnellverfahren der frühen Nachkriegszeit kann von einem fairen Strafprozess keine Rede sein, obgleich das Urteil in vielen Fällen Angeklagte getroffen haben dürfte, die tatsächlich schuldig waren. Für die zweite Welle sowjetischer Verfahren gegen ehemalige Wachmänner ist eine Konzentration auf tatsächliche NS-Verbrechen und größere Sorgfalt zu konstatieren, doch auch dort war mit der fast sicheren Verurteilung der Angeklagten zu rechnen. Die Rechtsstaatlichkeit kann aber nicht der alleinige Maßstab für die Verwendbarkeit sowjetischer Vernehmungen sein. Für den Historiker sind sie wertvolle Ergänzungen des vorhandenen Wissensstandes. Ich schließe mich insgesamt der Auffassung des Historikers Dieter Pohl an, dass aus pragmatischen Gründen »eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte nationalsozialistischer Verbrechen in Osteuropa ohne die Auswertung der Justizakten kaum möglich erscheint.«69

Dass in den deutschen Vernichtungslagern in Ostpolen »Fremdvölkische« anwesend waren, wusste man in der Bundesrepublik seit der Pubikation des Gerstein-Berichts, also seit den 1950er Jahren.70 Auch in Berichten polnischer Augenzeugen, die von einer staatlichen Kommission zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen erhoben wurden, spielten diese Hilfskräfte eine gewisse Rolle.71 Jedoch konzentrierten sich die Ermittlungen der bundesdeutschen Strafverfolgung auf deutsche Tatverdächtige. Von den umfangreichen Ermittlungs- und Strafverfahren des KBG gegen »Trawnikis« wusste man im Westen nur wenig. Immerhin gelangten einige sowjetische Aussagen in die Akten des umfangreichen Bełżec-Verfahrens der Staatsanwaltschaft München gegen Josef Oberhauser u. a. Es scheiterte de facto.72

In den Strafverfahren gegen mutmaßliche Angehörige der Vernichtungslager Sobibór und Treblinka sowie des Konzentrationslagers Majdanek, in denen zahlreiche Angeklagte zu lebenslanger Haft, andere zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, spielten die »Ukrainer«, »Schwarzen« etc. zwar eine gewisse Rolle, wurden aber nicht als Gruppe ins Auge gefasst.73 Dies tat hingegen das umfangreiche Verfahren der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Karl Streibel, den ehemaligen Kommandanten des SS-Ausbildungslagers Trawniki, und zahlreiche weitere deutsche und nichtdeutsche Beschuldigte wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Vernichtungslagern, Arbeitslagern und Ghettos im Generalgouvernement Polen, vorrangig in den Distrikten Lublin und Warschau.74 Das Hauptverfahren vor dem Landgericht Hamburg endete nach dreieinhalb Jahren im Sommer 1976 mit dem Freispruch aller Angeklagten. Die Akten des Trawniki-Verfahrens, die maßgeblich von der Staatsanwältin Helge Grabitz verfasste Anklageschrift und das Urteil gegen Streibel u. a. sind jedoch eine nach wie vor wesentliche Grundlage für Forschungen über die Trawniki-Männer.75

In der seinerzeit bahnbrechenden Text- und Fotoedition über Massenmörder in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«, welche die Historiker Ernst Klee und Volker Rieß und der Staatsanwalt Willi Dreßen 1988 vorlegten, waren Fotos von »Ukrainern« teils mit falschen Namen versehen76; auch vermittelte das Buch keine Vorstellung über die beträchtliche Zahl nichtdeutscher Täter in den Tötungslagern. Impulse zur Erforschung der Trawniki-Männer gingen seit den 1990er Jahren zunächst von der bereits dargestellten Erforschung osteuropäischer Tatorte aus. Auf die wichtige Rolle dieser Handlanger hatte der Historiker Wolfgang Scheffler, Sachverständigengutachter in zahlreichen Strafverfahren wegen NS-Gewaltverbrechen, schon frühzeitig hingewiesen.77

Entscheidende Impulse kamen jedoch aus den USA. Dort untersuchte eine dem FBI angegliederte Dienststelle für Sonderermittlungen (Office of Special Investigations, OSI), systematisch die Einbürgerungsanträge ehemals osteuropäischer Einwanderer aus der Zeit nach 1945. Ließ sich nachweisen, dass Angehörige dieses Personenkreises seinerzeit falsche Angaben gemacht, beispielsweise ihre Zugehörigkeit zu deutschen Hilfspolizeieinheiten verschwiegen hatten, übergab das OSI den Fall der Justiz, die ein Verfahren zur Ausbürgerung und Abschiebung der Betreffenden in Gang setzen konnte.78

Um Beweise für falsche Einbürgerungsangaben führen zu können, stellte das OSI umfangreiche Bestände von Fotokopien aus deutschen Akten in sowjetischen Archiven sowie von Zeugenaussagen ehemaliger Trawniki-Männer zusammen. Dieser als »Trawniki Central« bezeichnete Quellenbestand ist seit 2009 öffentlich zugänglich, soweit er nicht in laufenden Ermittlungsverfahren verwendet wird.79 Er bildet eine wesentliche Grundlage auch des vorliegenden Buches.80 Das OSI erwarb durch seine Ermittlungen beträchtliche Expertise. Der Historiker Peter Black, ehemals Chefhistoriker des OSI, ist der beste Kenner der Materie und hat eine Reihe grundlegender Aufsätze über die in Trawniki ausgebildeten Hilfspolizisten vorgelegt.81 Sein Nachfolger im Amt des Chefhistorikers, David Rich, charakterisierte die Trawniki-Männer als »Reinhard‹s Footsoldiers«82.

Die Ausbürgerung ehemaliger »fremdvölkischer« SS-Helfer konfrontierte die Justizbehörden der zur Aufnahme verpflichteten Staaten mit der Frage, ob sie Ermittlungen gegen diese oft schon hochbetagten Männer in Gang setzen sollten. Spektakulär war das Verfahren gegen den ehemaligen Wachmann Ivan Mykolajovyč (John) Demjanjuk. Er wurde von den Vereinigten Staaten nach Israel ausgeliefert und dort zum Tode verurteilt, weil man ihn mit einem letztlich nicht ermittelten Wachmann »Iwan der Schreckliche« im Vernichtungslager Treblinka verwechselt hatte.83 Das Oberste Gericht Israels sprach Demjanjuk 1993 frei. Er kehrte in die USA zurück, wo das OSI seine erneute Ausbürgerung betrieb, weil Demjanjuk nachweislich im Vernichtungslager Sobibór gedient hatte. Er wurde im Mai 2009 nach Deutschland abgeschoben, wo die Staatsanwaltschaft München ein Strafverfahren gegen den 89-jährigen Beschuldigten vorbereitete.

Demjanjuk wurde im Mai 2011 der Beihilfe zum Mord an über 28 000 jüdischen Menschen für schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Das Gericht ging davon aus, dass der Angeklagte Wachmann in Sobibór gewesen war. Seine bloße Mitgliedschaft in der Organisation des Lagers genügte nach Auffassung des Landgerichts, um den Schuldspruch gegen Demjanjuk zu rechtfertigen.84 Diese Rechtsauffassung brach mit der jahrzehntelangen Praxis in der deutschen Justiz, die »kleinen Rädchen« am unteren Ende der Befehlskette unbehelligt zu lassen.85 Anklage und Verteidigung legten Revision ein, doch starb der Angeklagte, bevor das Urteil rechtskräftig wurde.

Im Gefolge des Demjanjuk-Verfahrens wurden Ermittlungen gegen ehemalige Trawniki-Wachmänner erstmals oder wiederholt aufgenommen. Zu einem dieser Ermittlungsverfahren, geführt von der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von Nationalsozialistischen Massenverbrechen in Dortmund gegen einen ehemaligen Zugwachmann im Vernichtungslager Bełżec, steuerte ich 2010 ein Sachverständigengutachten bei.86 Kurz darauf eröffnete die Staatsanwaltschaft München ein Ermittlungsverfahren gegen einen ehemaligen ukrainischen Hilfspolizisten wegen der Beteiligung an Verbrechen gegen die jüdischen Einwohner der Stadt Lemberg. Zu diesem Verfahren legte ich ebenfalls ein Sachverständigengutachten vor.87

Das Demjanjuk-Verfahren intensivierte die Forschung über die Trawniki-Männer. Die Historikerin Angelika Benz und der Historiker Lawrene Douglas berichteten über den Prozess.88 Der Historiker Dieter Pohl, der als Sachverständiger an diesem Verfahren mitgewirkt hatte, publizierte einen Aufsatz über die Wachmänner im Vernichtungslager Bełżec.89 Peter Black legte einen weiteren umfangreichen Aufsatz vor, in dem er die Trawniki-Männer, wie vor ihm Rich, als »Foot Soldiers of the Final Solution« bezeichnete.90 Die Historikerin Sara Berger kontextualisierte die Trawniki-Männer in dem Netzwerk von Tätern, das in den Mordanstalten der NS-»Euthanasie«, den Tötungslagern der »Aktion Reinhardt« und deren letzten Ausläufern in Oberitalien Dienst getan hatte.91 Aus einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation an der Humboldt-Universität ging Angelika Benz' Monographie über die Trawniki-Männer hervor.92 In der jüngsten Publikation zur »Aktion Reinhardt«, einer Edition von Fotos, die der stellvertretende Kommandant des Vernichtungslagers Sobibór, Johann Niemann, hinterlassen hat, behandelt Martin Cüppers die in Trawniki ausgebildeten Wachmänner in einem eigenen Kapitel, das den gegenwärtigen Forschungs- und Kenntnisstand wiedergibt.93

Die neuere Forschung über die »Trawnikis« betont übereinstimmend die Heterogenität dieser Formation bereits bei der Rekrutierung und die Spannweite ihrer Verhaltensoptionen. Pauschale Bewertungen, etwa der besonderen Grausamkeit dieser Hilfspolizisten oder des Zwangs, unter dem sie gestanden hätten, wurden durch differenzierte Urteile abgelöst. Insoweit scheint es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Trawniki-Männern und den Angehörigen des T 4-Netzwerks in den Lagern der »Aktion Reinhardt« gegeben zu haben. Das erleichtert Vergleiche zwischen Täten und Mittätern, Deutschen und Handlangern, wirft aber die Frage nach der Spezifik der Trawniki-Männer auf. Zudem entsprechen gängige Erklärungen ihres Verhaltens weitgehend dem bereits von Browning hervorgehobenen Faktorenbündel und teilen mit ihm die unzureichende Gewichtung der Einzelfaktoren.94

Für die Beteiligung der ukrainischen Hilfspolizei am Holocaust in der östlichen Ukraine (also im »Reichskommisariat«) hat der Historiker Martin Dean ebenfalls eine weitgehende Übereinstimmung mit den »gewöhnlichen Männern« Brownings konstatiert.95 Die Erforschung der ukrainischen Hilfspolizei ist jedoch hinter der »Trawniki«-Forschung zurückgeblieben.96 Akten sowjetischer Strafverfahren gegen Hilfspolizisten sind nicht im gleichen Umfang in den Westen gelangt wie diejenigen der Wachmänner-Verfahren. Es fehlt bislang auch an einer alle deutschen Besatzungsgebiete umfassenden Monographie über die Hilfspolizei. Den Schwerpunkt neuerer Publikationen bildet die in der gegenwärtigen Ukraine vieldiskutierte Frage, ob die ukrainische Hilfspolizei nur ein willfähriges Organ deutscher Besatzungspolitik war oder als paramilitärischer Arm der rechtsradikalen »Organisation Ukrainischer Nationalisten« eigenständige politische Ziele verfolgte. Auch die Frage nach dem Antisemitismus der OUN und der Hilfspolizei wird intensiv diskutiert.

Generell ist davon auszugehen, dass Vergleiche zwischen gleichartigen Gruppen Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser zutage fördern als die isolierte Erforschung einer einzelnen Gruppe. Das vorliegende Buch versteht sich als erster Versuch eines solchen Vergleichs, hier zwischen ukrainischen Hilfspolizisten und Trawniki-Männern im mikrogeschichtlichen Rahmen der Stadt Lemberg und des Vernichtungslagers Bełżec. Beide waren Polizeieinheiten, beide standen mit der deutschen Vernichtungspolitik in enger Verbindung, beide setzten sich mehrheitlich aus Ukrainern zusammen. Andererseits waren die Trawniki-Männer das Produkt weit ausgreifender rassenpolitischer Planungen der SS, was für die Ukrainische Polizei nicht gilt, hatten die Wachmänner einen ungeklärten Rechtsstatus und partizipierten in den Vernichtungslagern direkt am Massenmord.

Auf der Suche nach Vergleichsparametern stößt man auf zwei Studien, die auf je unterschiedliche Weise neue Antworten auf die vieldiskutierte Frage geben, was Menschen zu Tätern macht: Harald Welzers »Täter«-Buch und Stefan Kühls Buch über Organisationen im Holocaust. Die Forschungen des Sozialpsychologen Harald Welzer über den »Referenzrahmen« des Tötungshandelns, hier am Beispiel einer weiteren in Osteuropa operierenden Polizeieinheit, des Reserve-Polizeibataillons 45, waren bahnbrechend.97 Laut Welzer kam es weniger auf individuelle Charaktereigenschaften oder psychische Dispositionen der Massenmörder an als vielmehr auf die kollektiven Moralvorstellungen, die deren Taten als im Sinne der »NS-Moral« notwendig legitimierten, und auf die routinisierenden Praktiken, die das Töten erleichterten. Am Beispiel von Franz Stangl, der das Vernichtungslager Treblinka kommandierte, erläutert Welzer seine These wie folgt:

»Stangl hat keine oder kaum moralische Irritationen durch die ›Arbeit‹ gehabt, die er seiner Auffassung nach zu verrichten hatte – weil er diese in einen Referenzrahmen einordnen konnte, der jenseits seiner Verantwortung lag. […] Die Aufrechterhaltung dieses Selbstbildes wird es gewesen sein, die sichergestellt hat, dass Stangl ob seiner eigentlichen Funktion, die darin bestand, Massen von Menschen dem Tod zuzuführen, eben keinerlei moralische Bedenken befielen: Hier ist eine Aufgabe, die in ein Universum so oder so begründbarer Zwecke einzuordnen ist, dort ist ein Mann, der seine Aufgaben jederzeit pflichtgemäß zu erfüllen bereit ist, der aber daneben auch ›Mensch bleiben‹ will.«98

Stangl und seinesgleichen waren nicht unmoralisch, sondern sie leitete eine partikulare Moralvorstellung, die Ethik der »Volksgemeinschaft«. Demnach war gut, was dem deutschen Volk nützt, und schlecht, was ihm schadete. Als schädlich betrachtete die NS-Moral die Annahme, dass Menschen universale Rechte beanspruchen könnten und die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Rechte gebunden sei. Heinrich Himmlers berüchtigtes Diktum, sein schwarzes Korps sei bei der Ausrottung der Juden »anständig geblieben«, entsprach Welzer zufolge von breiten Mehrheiten der Deutschen geteilten Moralvorstellungen.

Welzers Studie hebt die verhängnisvolle Rolle des deutschen Bürgertums hervor. Nicht wenige Intellektuelle, darunter Staatsrechtler wie Carl Schmitt, waren nur allzu bereit gewesen, die universalistische Ethik als wesensfeindliches Herrschaftsinstrument zu denunzieren und den bürgerlichen Wertehimmel von Freiheit und Gleichheit im düsteren Gebräu der »Volksgemeinschaft« versinken zu lassen.99

Die Anwendung dieses Ansatzes auf nichtdeutsche Polizeieinheiten wirft das Problem auf, dass in der Sowjetunion kein Bürgertum im okzidentalen Sinne existierte und die ukrainische Hilfspolizei überwiegend unterbürgerliche Schichten umfasste. Es stellt sich mithin die Frage, in welchem Referenzrahmen sich Trawniki-Männer und Hilfspolizisten bewegten und ob an ihnen eine ähnliche Verschiebung zur Tötungsmoral aufgewiesen werden kann, wie sie die Truppenpolizisten des Reserve-Polizeibataillons 45 vollzogen.

Ähnlich neue Wege beschritt der Soziologe Stefan Kühl in seiner erneuten Auseinandersetzung mit dem von Browning und Goldhagen prominent behandelten Reserve-Polizeibataillon 101.100 Der Bielefelder Luhmann-Schüler interessiert sich nicht für die Moralvorstellungen von Tätern, sondern für die Art und Weise, wie Massengewalt ausübende Organisationen ihre Binnenkommunikation strukturieren, ihre Mitglieder einbinden und bei der Stange halten. Der organisatorische Zusammenhalt beruht demnach auf »Konsensfiktionen« wie dem wirkmächtigen Topos der »Volksgemeinschaft« und namentlich dem Antisemitismus.

Man musste nicht an die Realität dieser ethnisch definierten Gemeinschaft glauben – diese These unterscheidet Kühl von Welzer. Es genügte, davon überzeugt zu sein, dass die anderen Mitglieder der Organisation sie für ebenso konsensual hielten, wie man selbst es tunlichst tun sollte. Man musste die Juden nicht hassen; es genügte, sein eigenes Handeln auf die Tatsache einzustellen, dass der NS-Staat die Verfolgung der Juden zum Programm erhoben hatte und man daher dem eigenen Gegenüber antisemitische Motive ungefährdet unterstellen konnte. Ein Verstoß gegen solche realen Konsense zog die Gefahr sozialer Ausgrenzung nach sich.101

Moderne Organisationen zeichnet aus, dass sie ihren Mitgliedern Spielräume für selbstbestimmtes Handeln eröffnen und an die Leistungsbereitschaft ihrer Mitglieder appellieren.102 So gesehen, ist der von dem britischen Historiker Ian Kershaw geprägte Topos des »dem Führer Entgegenarbeitens«103 nicht zwangsläufig Ausdruck vorauseilenden Gehorsams, sondern kann als »ganz normale«, nicht spezifisch nationalsozialistische Identifikation mit Organisationszwecken interpretiert werden.

Nationalsozialistische Organisationen machten es ihren Mitgliedern jedoch nahezu unmöglich, diese zu verlassen. Es gab beispielsweise keinen Zwang, SS-Mitglied zu werden, aber die SS übte Zwang in der Art und Weise aus, wie sie ihren Mitgliedern den Austritt erschwerte. Gruppendruck, den auch Browning als wichtige Ursache hervorgehoben hatte, genauer: »Kameradschaft« spielte hierbei eine wesentliche Rolle. Dies gilt in besonderem Maße für eine militärisch, nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam, organisierte Polizeieinheit im geschlossenen Einsatz, die sich von tödlichen Feinden umgeben wähnte.104

Moderne Organisationen lassen künftige Mitglieder darüber im Unklaren, was von ihnen erwartet wird. Organisationen müssen darauf bauen können, dass ihre Mitglieder bereit sind, der Organisationsleitung zuzugestehen, dass sie nicht alle auf den Einzelnen zukommenden Aufgaben vorab definiert, sondern es bei recht allgemeinen Zweck- und Funktionszuschreibungen belässt. Mtglieder stellen der Organisation folglich »eine Art Blankoscheck für die Verwendung ihrer Arbeitskraft« aus:

»Dadurch entsteht eine folgenreiche Indifferenzzone, innerhalb der sie zu den Befehlen, Aufforderungen, Anweisungen und Vorgaben der Vorgesetzten nicht Nein sagen können, ohne die Mitgliedschaft in ihrer Organisation grundsätzlich infrage zu stellen. Der Vorteil für die Organisationsleitung liegt auf der Hand: Die Organisationsmitglieder geloben eine Art Generalgehorsam gegenüber zunächst nicht weiter spezifizierten Befehlen und Weisungen. So ermöglichen sie der Führung, die Organisation sehr schnell und ohne umständliche interne Aushandlungsprozesse an veränderte Anforderungen anzupassen.«105

Gewaltorganisationen sind daran interessiert, diese Indifferenzzonen auszuweiten, damit Zweifel an der Legitimität einer Gewalthandlung (etwa eines Befehls zur Erschießung wehrloser Frauen und Kinder) organisationskonform beseitigt werden können. Dies geschieht in der Regel mit dem rechtlichen Instrument der Legalisierung, kann aber auch durch die gedankliche (in diesem Fall zutreffende) Unterstellung geschehen, es sei der »Wunsch des Führers«, dass diese Taten verübt werden, also durch den Appell an die Konsensfiktion gemeinschaftlichen Handelns.106

Die »Arisierung« jüdischen Eigentums trug erheblich dazu bei, die Bindung zwischen Führung und Geführten in der nationalsozialistischen »Zustimmungsdiktatur« zu stärken.107 Geld spielte Kühl zufolge auch in den nationalsozialistischen Gewaltorganisationen eine wichtige Rolle. Zu den materiellen Anreizsystemen gehörte die Besoldung der Polizisten. Die legale und illegale Bereicherung am Eigentum Ermordeter habe darüber hinaus zwar keine zentrale Motivation zur Organisationsmitgliedschaft, aber einen willkommenen Mitnahmeeffekt dargestellt.108 Solche informalen Belohnungen erleichterten das Mittun, waren aber stets geeignet, die Integrität der Organisation durch Verhaltensweisen zu gefährden, die Himmler von den vorgeblich hohen Moralstandards der SS, ihrer Tötungsmoral im Sinne Welzers, abgrenzte.109

Kühl hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich sein Ansatz dazu eigne, auch nichtdeutsche »Fußvölker« des Holocaust zu analysieren.110 Treffen Kühls Thesen also auch auf die ukrainische Hilfspolizei zu? Wenn ja, lassen sie sich auf »anormale« Organisationen wie die Trawniki-Männer sinnvoll anwenden? Waren diese Organisationen womöglich beide nicht »normal«, weil es soziologisch eben doch einen Unterschied ausmacht, ob eine Organisation Briefe verschickt oder Massen von Menschen tötet?111

Indem Trawniki-Männer und ukrainische Hilfspolizisten in den Blick genommen werden, behandelt die vorliegende Darstellung nichtdeutsche Polizeiformationen, von denen eine im Kühlschen Sinne als »normal« anzusprechen ist, aber nicht im geschlossenen Einsatz war, sondern die städtische Schutzpolizei verstärkte, die andere mit der Person des Lubliner SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik eng verbunden war und ursprünglich zu dem »anomalen« Zweck ins Leben gerufen wurde, nationalsozialistische »Rassenpolitik« zu ermöglichen.

Wie viel Zwang wurde ausgeübt, wie hoch war der Grad oder doch zumindest die Fiktion der Freiwilligkeit zum Eintritt in die beiden Organisationen? Rekrutierte die SS vorzugsweise solche Personen als Wachmänner, von denen sie annahm, dass sie das Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« teilten, an der deutschen Vernichtungspolitik also aus eigenen ideologischen Antrieben partizipieren würden? War das Motiv der Selbstverpflichtung stark genug, um die Teilnahme an Gewaltverbrechen aus teilweise eigenem Antrieb hervorzubringen? Welche Möglichkeiten hatten Wachmänner und Polizisten, sich zu entziehen? Welche Austrittsoptionen boten die Organisationen an, welche Belohnungs- und Zwangsmittel standen ihnen gegenüber, um den Verbleib in den Organisationen sicherzustellen? Wie war die für die beiden Polizeiformationen einschlägige Rechtslage im Generalgouvernement? Welche Rolle spielten die alltäglichen Gewaltinszenierungen und -erfahrungen auf den Straßen einer deutsch besetzten Großstadt und in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«?

Nach Stefan Kühls Auffassung ist die gegen jüdische Opfer eingesetzte exzessive Gewalt dadurch zu erklären, dass der Auftrag zum Massenmord die Mitglieder der Organisationen mit neuen Aufgaben belastet. Die Organisationsleitung formuliert einen Appell, die Indifferenzzone erneut auszuweiten und die Selbstdarstellung des präsumptiven Töters mit der neuen Realität in Einklang zu bringen. »Exzessive Gewalt gegen andere«, so Kühl, scheint ein »Reparaturmechanismus in der Selbstdarstellung zu sein«112, eine Überwindung von Selbstzweifel und Törungshemmung durch dehumanisierende, demütigende Gewaltpraxen. Diese These könnte die Brutalität der Trawniki-Männer erklären, die schon von deutschen Vorgesetzten hervorgehoben wurde. In der zeitgeschichtlichen Forschung wurde sie vor allem von Helge Grabitz betont.113 Insoweit scheint ein Unterschied zu den ukrainischen Hilfspolizisten bestanden zu haben, über die solches Verhalten eher selten berichtet wurde. Brachten die in Kriegsgefangenenlagern angeworbenen Trawniki-Männer womöglich eine weiter zurückreichende Gewaltsozialisation aus der Sowjetunion mit, die zur Brutalisierung der neuen Organisation beitrug? Ob überschießende Gewalt bei ihnen häufiger war als in der Hilfspolizei, ist aber eine offene Frage.

Die Quellenlage des vorliegenden Buches ist im Vergleich zu Studien über die Polizeibataillone lückenhaft. Die Akten der Lemberger Schutzpolizei sind gänzlich verloren gegangen oder vernichtet worden. Hier kann ersatzweise auf erhalten gebliebene Akten der ukrainischen Hilfspolizei und deutsches Schriftgut anderer Dienststellen im Oblastarchiv der Stadt Lviv zurückgegriffen werden.114 Hinzu kommen die Überlieferung der Wehrmacht, Zeugenaussagen im Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Lemberg und Umgebung sowie meist polnischsprachige Erinnerungsliteratur.115

Die vorliegende Darstellung stützt sich in Teilen auf Monographien über die Judenvernichtung in Ostgalizien, die Dieter Pohl und ich unabhängig voneinander vorgelegt haben.116 Jedoch geht das Buch über diese Forschungsergebnisse insofern hinaus, als die Planung und Durchführung der Mordaktionen in der Hauptstadt des Distrikts Galizien und die ihr zugrunde liegende Einsatzplanung erstmals minutiös rekonstruiert werden.117

Bezüglich der Trawniki-Männer stellt sich die Quellenlage wieder anders dar.118 Die Dokumentation des OSI bildet die umfangreichste Sammlung von Archivquellen, darunter zahlreiche Personalunterlagen. Auf deren Grundlage konnte erstmals die Rotation der Wachmänner in das Vernichtungslager Bełżec und aus dem Lager heraus rekonstruiert werden.

Demgegenüber sind Zeugenaussagen aus sowjetischen Verfahren mit erheblicher Vorsicht zu verwenden, weil sie nicht freiwillig zustandekamen, sondern unter dem Zwang der sowjetischen Geheimpolizei. Im Einzelnen weichen die Beurteilungen dieser Quellen sowjetischer Provenienz voneinander ab. Peter Black hält die Vernehmungen für glaubwürdig und verwendbar, obwohl die Verfahren in der UdSSR rechtsstaatlichen Standards nicht entsprachen.119

Skeptischer äußert sich David Rich, der Chefhistoriker des OSI. Er hebt hervor, dass das KGB als Ermittlungsbehörde und folglich auch die Gerichte in der UdSSR mangels Dokumenten über das politische und organisatorische Umfeld der »Endlösung« gar nicht in der Lage gewesen seien, die Zuverlässigkeit von Aussagen zu überprüfen.120 Dieter Pohl bemängelt ebenfalls die fehlende Rechtsstaatlichkeit in der UdSSR, darüber hinaus die nachgewiesene Unrichtigkeit mancher Beschuldigungen und Geständnisse im Lichte späterer Überprüfungen durch das OSI sowie fehlende individuelle Schuldnachweise in einigen frühen Verfahren in der UdSSR.121

Für strafprozessuale Aussagen gilt generell, dass Beschuldigte oder Zeugen dann als glaubwürdig gelten können, wenn sie sich nicht untereinander abgesprochen haben können, ihre Aussagen übereinstimmen und zum historischen Kontext passen. Ermittlungen gegen frühere Trawniki-Männer haben zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten der UdSSR stattgefunden. Zeugenabsprachen scheiden praktisch aus. Viele ehemalige Trawniki-Männer wurden in den 1960er Jahren zudem als Zeugen, nicht als Beschuldigte vernommen. Das erhöht ihre Glaubwürdigkeit.

Hinzu kommt, dass die sowjetischen Vernehmungen, insbesondere in den 1960er Jahren, Erkenntnisse aus den deutschen Ermittlungsverfahren in hohem Maße bestätigen. Die Aussagen deutscher Beschuldigter und Zeugen aus dem Verfahren gegen Josef Oberhauser u. a. (Bełżec) und die sowjetischen Vernehmungen aus jener Zeit bilden gewissermaßen zwei Teilstücke der historischen Realität. Die »gewalttägige Welt« des alltäglichen Mordens in Bełżec lässt sich überhaupt nur auf der Grundlage sowjetischer Aussagen erschließen.122 Darin liegt ihre herausragende Bedeutung für die zeitgeschichtliche Forschung. Es besteht überwiegend Konsens, dass Vernehmungen aus sowjetischen Verfahren verwendet werden können, sofern die Regeln der Quellenkritik eingehalten und die Sachdarstellungen der Beschuldigten durch Vergleiche mit Vernehmungen in westlichen Ländern (vorrangig in der Bundesrepublik) und urkundliche Beweisstücke bestätigt werden können.

Vergleiche lassen sich auch zwischen den Vernichtungslagern anstellen. So haben sowjetische Vernehmungen über die Diensteinteilung, die Rotation des Personals und die Rolle der Unterführer übereinstimmende Erkenntnisse für Bełżec, Sobibór und Treblinka zutage gefördert, die von Befunden der westlichen historischen Forschung bestätigt werden, diese in einigen Hinsichten sogar ergänzen und vertiefen.

Im vorliegenden Fall werden die Vernehmungen in der UdSSR auch durch polnische Aussagen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit bestätigt, deren rechtsstaatliche Qualität deutlich günstiger beurteilt wird.123 So haben Zeugen im Ermittlungsverfahren gegen Zuev u. a. freimütig über den Raub des Eigentums ermordeter Juden im Vernichtungslager berichtet; polnische Zeugen auf der ›Abnehmerseite‹ verifizieren diese Aussagen, z. T. sogar mit Namensangaben derselben Personen, die sich in der UdSSR über ihre Unterschlagungen im Lager eingelassen haben.124

Das vorliegende Buch ging, wie bereits erläutert, aus zwei unveröffentlichten Sachverständigengutachten hervor. Sie wurden für den Zweck dieser Publikation gekürzt und umgeschrieben. Prinzipiell stand ich vor der Alternative einer streng systematischen Gliederung entlang der leitenden Fragestellungen nach Rekrutierungsmustern, Organisationsspezifika und Gewaltpraxen und einem chronologisch-genetischen Durchgang durch sechs Jahre deutscher Vernichtungspolitik. Die Gliederung des Buches stellt einen Kompromiss aus beiden Perspektiven dar: Unter den Leitbegriffen des Tatorts, der Tat und der Täter folgt sie systematischen Erkenntnisinteressen; innerhalb der drei Großkapitel sowie teilweise auch zwischen ihnen stehen die Soziologie der »fremdvölkischen« Organisationen sowie die Eskalationsdynamiken von Verfolgung und Massenmord im Vordergrund. Im Fazit wird der Versuch gemacht, Antworten auf die Fragestellungen des Buches zu geben, offene Probleme zu benennen und weiteren Forschungsbedarf zu identifizieren. –

Meine Forschungen über den Nationalsozialismus haben von den Anregungen und Schriften des Historikers Michael Wildt erheblich profitiert. Seit einem Jahrzehnt arbeite ich nun mit diesem herausragenden Wissenschaftler und Kollegen an der Berliner Humboldt-Universität zusammen. Über das NS-Regime und seine Schrecken aufzuklären war und ist unser gemeinsames fachliches und hochschuldidaktisches Anliegen. Dieses Buch ist Michael Wildt mit Dank gewidmet.

Das Fußvolk der

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