Читать книгу Evolution Bundle - Thomas Thiemeyer - Страница 26

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Die Fahrt führte sie tiefer und tiefer in die unheimliche Seenlandschaft. Lucie kam es vor, als wären sie statt in die Zukunft in die Urzeit gereist. Alles war so dicht bewachsen, dass man glauben konnte, hier hätten niemals Menschen gelebt. Bäume, Sträucher und Wasserflächen, soweit das Auge reichte. Hin und wieder lugten die Dächer halb zerfallener Häuser oder verbogene Hochspannungsmasten aus dem Dickicht hervor. Doch das waren Nebensächlichkeiten. Der Großteil des Geländes bestand aus Teichen, Tümpeln oder größeren Seen. Lucie wusste nicht viel über den Bundesstaat Colorado, aber dass er hier wie in den sumpfigen Everglades aussehen sollte, davon hatte sie noch nie gehört.

Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn plötzlich der Hals eines Dinosauriers emporragen würde. Eines Brachiosaurus vielleicht oder eines Diplodocus. Die Idee erschien ihr gar nicht so abwegig. In einer Welt, die aus den Fugen geraten war, konnte selbst das möglich sein, oder? Die Natur hatte die Erde zurückerobert und schon bald würden auch die letzten Reste menschlicher Errungenschaften zerfallen sein.

Doch statt langer Hälse und tonnenschwerer Leiber erblickte Lucie Vögel. Massen von Vögeln. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Schwärme umso größer wurden, je weiter sie nach Süden fuhren. Sie hatte sogar den Eindruck, als würden sie dem Bus folgen und sie beobachten – so wie die Wölfe letzte Nacht. Was natürlich Unsinn war.

»Seltsam, oder?« Jem riss sie aus ihren Gedanken. »Die Vögel, meine ich. Sieht aus, als würden sie uns hinterherfliegen.«

»Bestimmt Einbildung«, murmelte Lucie. Es beunruhigte sie, dass ihm das ebenfalls aufgefallen war.

Er blickte besorgt nach oben. »Einbildung? Na, ich weiß nicht. Ich finde es ziemlich eindeutig, dass ihre Zahl zunimmt.«

»Es sind nur Vögel«, sagte Lucie. »Warum sollten die sich für uns interessieren?«

»Ja, warum …?« Jem beobachtete den Schwarm noch eine Weile, dann zuckte er die Schultern und wandte sich ab. »Ganz wohl ist mir trotzdem nicht. Ich finde, wir sollten das weiter im Auge behalten.« Er lächelte ihr zu. »Schau mal, es gibt auch gute Nachrichten.« Er deutete auf die Karte auf seinem Schoß. »In der letzten halben Stunde sind wir von hier bis hier gekommen. Wenn das so weitergeht, müssten wir eigentlich bald … ah, da vorne ist sie schon, siehst du?« Er deutete aus dem Fenster.

Lucie presste die Nase an die Scheibe. Zwischen den Bäumen war eine zweite Autobahn zu erkennen, die ihre kreuzte. Ein paar Schilder kamen in Sicht.

»Hier müssen wir raus«, rief Jem nach vorne.

»Schon gesehen«, antwortete der Kapitän. »Danke für die Erinnerung. Ich ziehe jetzt rüber. Haltet euch fest, es könnte ein bisschen holperig werden.«

Er griff ins Lenkrad und zog den Bus auf die rechte Seite. Rumpelnd fuhr er die Abzweigung hinab.

Diesmal hatten sie Glück, die Fahrbahn schien einigermaßen intakt.

Die Stadt war jetzt nicht mehr weit weg. Lucie konnte die schneebedeckten Gipfel dahinter erkennen. Ein faszinierender Anblick. Er erinnerte sie an einen Ausflug, den sie letzten Winter mit ihren Eltern gemacht hatte. Sie hatte das erste Mal in ihrem Leben auf Skiern gestanden.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie erst nach einer Weile bemerkte, dass Jem sie ansah. Als sie den Blick erwiderte, wandte er sich schnell ab.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Ach nichts«, sagte er. War das ein roter Schimmer auf seinen Wangen?

»Komm schon. Du hast mich doch angesehen.«

»Schon, ja …« Er knabberte auf seiner Unterlippe. »Ich habe mich gefragt, woran du wohl gerade denkst.«

»Ich habe mir ausgemalt, was wohl passiert wäre, wenn wir den Flieger tatsächlich verpasst hätten. Wenn die Signalstörung so schlimm gewesen wäre, dass wir mit dem nächsten Flugzeug hätten fliegen müssen.«

»Vermutlich wäre gar nichts passiert«, überlegte er. »Unsere Gastfamilien hätten uns vom Flughafen abgeholt, wir hätten eine interessante Zeit in den USA verlebt und uns wahrscheinlich nie wiedergesehen. Aber sicher kann man sich da natürlich nicht sein.«

Sie nickte. Ähnliche Gedanken waren ihr auch schon durch den Kopf gegangen. »Ich vermisse sie«, sagte sie leise. »Meine Eltern, meine ich. Anna, meine beste Freundin. Die Leute aus meiner Klasse. Na gut, nicht alle, aber doch die meisten.« Sie sah ihn an. »Der einzige Trost ist, dass ich dich kennengelernt habe.«

»Das stimmt …« Mehr sagte er nicht dazu. Er wirkte plötzlich richtig verlegen.

»Weißt du noch, wie wir aus dem Flugzeug zum ersten Mal die Berge gesehen haben?«

»Und ob«, antwortete er.

»Hätten wir gewusst, was auf uns zukommt, wären wir wahrscheinlich irgendwo anders hingeflogen. Jetzt ist es dafür leider zu spät.«

»Tja, aber ob es da besser gewesen wäre. Vielleicht ist Denver ja kein Einzelfall.«

»Auch wieder wahr …«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir in der Zukunft gelandet sind. Dieser Gedanke ist einfach so was von abwegig! Aber wenn das hier tatsächlich die Zukunft ist, dann muss wohl irgendwas in der Vergangenheit schrecklich schiefgelaufen sein.«

»Oh ja«, sagte sie und spürte, wie es ihr bei dem Gedanken die Kehle zuschnürte. »Was Arthur vorhin gemeint hat … ich frage mich wirklich, was aus meinen Eltern geworden ist. Die Vorstellung, dass sie nicht mehr am Leben sind …« Sie konnte nicht weitersprechen. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Hey«, sagte Jem und legte einen Arm um sie. »Nicht traurig sein.«

Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. Es war schön, jemandem zum Anlehnen zu haben.

»Was immer geschehen ist, es ist vor langer Zeit passiert. Vermutlich haben sie davon gar nichts mehr mitbekommen.«

»Glaubst du wirklich?« Sie schniefte.

»Ganz bestimmt.«

Lucie richtete sich wieder auf und sah Jem an. »Du wirkst immer so gefasst – so vernünftig. Gibt es denn niemanden, den du vermisst?«

»Natürlich«, erwiderte er. »Die Jungs aus meiner Gang. Klaus, Kevin, Marc … Sven. Ein paar meiner Schulkameraden – wobei die Zahl recht überschaubar ist – und natürlich meine Mom.«

Sie wischte eine Träne aus ihrem Augenwinkel. »Und was ist mit deinem Vater? Vermisst du ihn auch?«

An seiner Reaktion merkte sie, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Er nahm seinen Arm zurück und beugte sich zu seinem Rucksack runter. Seine Aura wechselte von Blau nach Grau. »Wir sind nicht gerade die besten Freunde«, sagte er knapp.

Ups, dachte Lucie. Da habe ich wohl in ein Wespennest gestochen. Wahrscheinlich war es besser, wenn sie nicht weiter nachbohrte. Doch als Jem jetzt mit einer Wasserflasche wieder auftauchte, begann er, von selbst zu erzählen.

»Wir sind im Streit auseinandergegangen. Vor einem halben Jahr hab ich dann erfahren, dass er wieder geheiratet und noch mal ein Kind bekommen hat.«

»Oh«, machte Lucie nur. Sie konnte sich vorstellen, was das für ein Schock gewesen war.

»Das war echt ein Schlag ins Gesicht, als er mir am Telefon davon erzählt hat.« Jem senkte den Kopf. »Ich dachte, wie kann er mir das antun? Ich kannte die Kleine ja nicht einmal und habe sie trotzdem gehasst. Bescheuert, oder?«

»Überhaupt nicht«, sagte Lucie. »Das hätte mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Der Gedanke, meine Eltern könnten sich trennen und einer von ihnen bekäme noch mal ein Kind ….« Sie schüttelte den Kopf.

»Auf das Wiedersehen mit ihm habe ich mich dann allerdings schon gefreut«, gab Jem zu. Er wurde leiser. »Na ja, aber wie gesagt: Das liegt ja alles in der Vergangenheit …«

Lucie bemerkte einen traurigen Glanz in seinen Augen. So cool, wie er immer tat, war er nicht.

Sie überlegte, wie sie ihn trösten konnte, als sie einen plötzlichen Knall hörte. Der Bus machte einen Satz, als wäre er mit etwas kollidiert. Im selben Moment krachte es erneut. Bennett fluchte.

Lucie wollte sehen, was los war, wurde aber von seinem heftigen Ausweichmanöver wieder auf die Sitzbank geschleudert.

»Himmel, Arsch und Zwirn!«

Der Kapitän trat hart auf die Bremse. Es quietschte und rumpelte, dann schlingerte der Bus und blieb stehen.

Bennett blickte in den Rückspiegel. »Alles in Ordnung, dahinten?«

»Alles okay«, rief Jem. »Was zur Hölle ist denn da los bei euch?«

Statt einer Antwort öffneten die beiden Männer die Tür und hasteten nach draußen. Lucie sah Connie an, die nur mit den Schultern zuckte.

Dann standen sie auf und folgten den Männern nach draußen.

Der Kapitän hatte die Arme in die Seiten gestemmt und starrte auf das rechte Vorderrad. »Das hat uns ja gerade noch gefehlt.« Lucie sah, dass der Reifen der Länge nach aufgerissen war und weißes Zeug daraus hervorquoll. »Ich hatte gehofft, ich hätte mich geirrt.«

»Was ist passiert?«, fragte Lucie.

»Irgendetwas ist vor mir über die Straße gelaufen. Es kam wie aus dem Nichts. Es war so schnell, dass ich nicht rechtzeitig ausweichen konnte.«

»Und was?«

»Wenn ich das wüsste. Ich habe noch versucht, das Lenkrad rumzureißen, und bin dabei offensichtlich in eine Spalte geraten. Dahinten, seht ihr?« Er deutete zurück. Ein paar Meter weiter zog sich ein Riss quer über den Asphalt.

»Verflixt tief«, murmelte Jem.

»Jedenfalls hat es unser Vorderrad erwischt. Müssen mal sehen, ob wir damit überhaupt noch fahren können.« Bennett untersuchte den Radkasten. Dabei schien er auf etwas zu treten, was ihn erschrocken nach hinten springen ließ.

»Himmel, was ist das denn?«

Jaeger trat näher. »Lass mich mal sehen.« Der Sky Marshal blickte vor seine Füße und zuckte ebenfalls zurück. Lucie versuchte zu erkennen, was die beiden so in Aufregung versetzte. Irgendetwas lag da vor ihnen im Gras. Es sah aus wie eine Schlange ohne Kopf. Etwas Glibberiges, Fahles. Es schwoll nach vorne hin dick an, während es hintenheraus immer dünner und länger wurde. Das Ende war zusammengerollt wie eine Schnecke.

Lucie verzog angewidert das Gesicht. »Vielleicht ein Wurm oder ein Aal«, sagte sie.

»Möglich. Es ging alles so schnell.«

»Was es auch ist, jetzt ist es jedenfalls tot«, befand Jaeger und tippte mit der Fußspitze dagegen. »Machen wir, dass wir hier wegkommen. Mir ist nicht wohl in dieser Ecke.«

»Ihhh«, rief Olivia mit angeekeltem Gesichtsausdruck und deutete ins Innere des Radkastens. »Hier sind noch mehr.«

Lucie trat näher und rümpfte die Nase. Was für ein widerlicher Gestank! Sie konnte sich nicht erinnern, so etwas schon mal gerochen zu haben.

Vier oder fünf der Würmer hingen dort drin. Blass und eklig sahen sie aus. Sie waren halb durchsichtig, sodass Adern und Blutgefäße zu sehen waren.

Paul stieß ein würgendes Geräusch aus und Arthur verschwand mit einem Stöhnen im Inneren des Busses.

»Muss ein ganzes Nest gewesen sein«, murmelte Lucie. »Am besten sagen wir M.A.R.S. Bescheid, dass er das Zeug beseitigen soll.«

»Gute Idee«, sagte Bennett und gab dem Roboter den entsprechenden Befehl.

M.A.R.S. machte sich gleich an die Arbeit, zog das Gewürm unter dem Wagen raus, warf es ins nahe gelegene Gebüsch und befreite den Radkasten von den letzten Resten.

Lucie drehte es den Magen um.

Als alles fertig war, ging Jaeger in die Hocke. »Ich bin kein Mechaniker, aber ich glaube, die Felge hat auch etwas abbekommen. Weit kommen wir damit jedenfalls nicht mehr.«

»Haben wir ein Ersatzrad?«, fragte Connie. »Jem, du kennst dich doch mit diesem Fahrzeug aus. Hast du etwas Entsprechendes gesehen?«

»Leider nein«, erwiderte Jem. »Das sind auch keine normalen Reifen, seht ihr? Sie sind mit irgendeinem Schaum gefüllt. Vermutlich sind sie unter normalen Umständen so gut wie unzerstörbar.«

»Tja, schade, dass wir hier keine normalen Umstände haben«, sagte Bennett. »Aber es hilft ja nichts, fahren wir eben mit beschädigtem Rad weiter. Es sind nur noch ungefähr zehn Kilometer, das müssten wir eigentlich schaffen. Sobald wir in der Stadt sind, kümmern wir uns um ein Ersatzrad. Immerhin ist es ein Schulbus, davon dürfte es mehr als nur einen gegeben haben. Also einsteigen, Herrschaften. Und vergesst nicht, den Roboter mitzunehmen.«

Lucie warf einen letzten Blick auf das Gewürm im Gras, dann stieg sie wieder ein und die Tür schloss sich hinter ihr. Was ging hier nur vor? In was für einem Albtraum waren sie da alle gelandet?

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