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Gemeinsam verließen sie das stickige Dämmerlicht des Bahnhofs und traten hinaus ins Freie. Jem kniff die Augen zusammen, weil die Sonne so blendete. Die Temperaturen hatten merklich angezogen. Grillen und Zikaden zirpten sich die Seele aus dem Leib. Irgendwo links musste ein Tümpel sein, in dem einige extrem große Frösche hockten. Ihr Quaken warf ein Echo an die gegenüberliegende Häuserwand.

»Also gut«, sagte Marek. »Wohin gehen wir?«

Ehe Jem etwas antworten konnte, meldete sich Paul zu Wort.

»Ich hätte da eine Idee«, sagte er. »Hab ich vorhin im Reiseführer entdeckt. Allerdings müssten wir dafür einen ziemlichen Fußmarsch hinlegen …«

»Ist doch scheißegal«, sagte Marek. »Hauptsache, es passiert endlich mal was. Also, wohin geht es? Komm schon, lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«

Jem nervte es, dass Marek sich so aufspielte, aber er hatte keine Lust auf Ärger und hielt lieber die Klappe.

Paul holte den Reiseführer raus und blätterte eine bestimmte Seite auf. Eine kleine Innenstadtkarte war dort zu sehen.

»Also wir sind hier.« Er deutete auf die Stelle, an der der Bahnhof war. »Wenn wir die 16th Street in Richtung Civic Center Park gehen, kommen wir nach knapp einem Kilometer zu einem Park. Das ist sozusagen das Herz der Stadt.«

»Ja und was gibt es dort so Besonderes?«

»Eine Bücherei«, erklärte Olivia und band ihre Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Nicht irgendeine Bücherei, die Public Library.«

Marek runzelte die Stirn. »Warum sollte ich dahin wollen?«

Jem fragte sich, ob Marek wirklich so blöd war oder nur so tat.

»Ist doch wohl klar, oder?«, sagte er. »Wir brauchen Informationen. Also müssen wir einen Ort finden, an dem solche aufbewahrt werden. Eine Bücherei.«

»Wir könnten natürlich auch Ausschau nach einem Stadtarchiv halten«, ergänzte Olivia, »aber in der Public Library haben wir wahrscheinlich größere Chancen, einen passenden Großcomputer zu finden.«

»Verstehe«, sagte Marek. »Gute Idee. Dann lasst uns mal aufbrechen.«

»Ich komme nicht mit«, verkündete Lucie leise. Sie stand auf der obersten Treppenstufe und hatte die Arme verschränkt.

»Was? Warum denn?«, fragte Jem überrascht.

»Weil ich Connie nicht alleine lassen möchte.«

»Aber ich habe ihr doch angeboten, uns zu begleiten«, warf Katta ein.

Lucie schüttelte den Kopf. »Ist doch egal. Ich bleibe hier. Ihr macht das schon.« Sie warf Jem einen schwer zu deutenden Blick zu. War sie sauer auf ihn?

»Passt gut auf euch auf, okay?« Sie drehte sich um und ging.

»Aber …«

Er blickte ihr hinterher, wie sie zurück ins Bahnhofsgebäude ging. Katta schmiegte sich an Marek und suchte seine Hand. »Da geht sie hin«, säuselte sie übertrieben. »Soll sie doch für Connie das Kindermädchen spielen. Ich glaube eher, dass sie kalte Füße bekommen hat. Kommt schon, lasst uns gehen. Und vergesst nicht, den laufenden Blecheimer mitzunehmen.« Sie warf M.A.R.S. einen herablassenden Blick zu.

Jem beachtete sie gar nicht. Er war einfach nur traurig über Lucies Entscheidung.

Das Buschwerk war ziemlich dicht. Marek hatte einen Pfad entdeckt, der sie tief ins Herz der Stadt führte und der etliche Haken und Wendungen schlug. Jem tippte auf einen Wildwechsel. Vermutlich von Wildschweinen oder Hirschen angelegt – von Tieren also, die groß genug waren, um zu einer Bedrohung zu werden, wenn man ihnen direkt gegenüberstand. Weil ihm etwas mulmig zumute war, klaubte er einen Knüppel aus dem Unterholz. Von denen lagen hier mehr als genug herum. Die anderen folgten seinem Beispiel. Marek lief natürlich wieder vorneweg. Katta und Zoe folgten ihm, während Olivia, Arthur und Paul den Roboter begleiteten. Jem bildete das Schlusslicht.

Als die anderen im dichten Buschwerk verschwunden waren, blieb er noch mal stehen und warf einen letzten Blick zurück.

Lucie war fort. Das Licht der Morgensonne ließ die Bahnhofsfassade wie ein versunkenes Märchenschloss wirken. Warum war sie nicht mitgekommen? Dass Lucie wirklich nur aus Sorge um Connie so gehandelt hatte, glaubte er keine Sekunde. Also doch wegen ihm. Aber warum? Weil sie ihm etwas anvertraut hatte und er ihr im Gegenzug nichts? Hätte er vor den anderen damit anfangen sollen? Es war eh schon peinlich genug gewesen, dass die sie zusammen gesehen hatten. Kattas Kommentar, Mareks höhnischer Blick – vermutlich dachten alle, er hätte Lucie angebaggert. Wenn sich die Gelegenheit noch mal ergab, würde er Lucie auch von seinem Geheimnis erzählen. Schade nur, dass er ihr das jetzt nicht mehr sagen konnte.

Den Kopf gesenkt, die Hände tief in den Jeanstaschen vergraben, marschierte er hinter den anderen her.

Es mochte etwa eine Viertelstunde vergangen sein, als er zum ersten Mal stehen blieb. Seine Kehle war wie ausgedörrt. In den Häuserschluchten gab es kaum noch Schatten. Fern am Horizont bildeten sich schon wieder die ersten Wolken. Vermutlich würde es später noch ein Gewitter geben.

Er nahm einen großen Schluck, dann steckte er die Feldflasche wieder weg. Bis jetzt hatten sie noch keine Menschenseele getroffen. Mit jeder verstrichenen Minute wurde klarer, dass das auch so bleiben würde. Ein paar Meter weiter vorne sah er Marek, Katta und Zoe gerade aus einem Laden für Sportartikel kommen.

»Und?«, fragte er.

»Nichts«, antwortete Marek. »Keine Pistolen, keine Gewehre und keine Munition. Nicht mal Pfeile für Zoes Bogen.«

Jem blickte zu den blinden Fenstern empor. Die Fassaden waren dicht mit Efeu überwuchert. In den Häuserschluchten erklangen die Schreie herumzischender Mauersegler. »Wie ausgestorben«, murmelte Jem. »Ich frage mich, was hier geschehen ist.«

»Eines dürfte feststehen«, sagte Arthur und deutete die Straße entlang. »Es hat keinen Krieg gegeben. Die Menschen sind nicht in Panik geflohen.«

»Stimmt«, pflichtete Jem ihm bei. »Die Geschäfte und Cafés sehen aus, als wären sie ruhig und geordnet verlassen worden. Weder Anzeichen von Einbrüchen noch von Plünderungen oder sonstigen Zerstörungen …«

»In den Schaufenstern liegt immer noch Schmuck«, ergänzte Arthur. »Da gibt es Uhren, Handtaschen und Schuhe, Koffer und Unterhaltungselektronik.«

»Ist mir auch schon aufgefallen.« Marek nickte. »In den Kassen im Sportgeschäft war immer noch Geld.«

»Und seht euch die Autos an«, ergänzte Katta. »Sie stehen ordentlich geparkt am Seitenstreifen und an den Haltestellen hängen noch immer Fahrpläne. Wie passt das bloß alles zusammen?«

Tja, wie? Weder Jem noch jemand anderer hatte dafür eine Erklärung. Also gingen sie weiter.

Jem wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Er blinzelte in die Sonne und versuchte, nicht schon wieder an Trinken zu denken. Verdammte Helligkeit. Zu blöd, dass er seine Sonnenbrille irgendwo verloren hatte. Andererseits – hier gab es doch genug. Schräg gegenüber befand sich ein Geschäft für Brillen und Ferngläser.

»He, wo willst du denn hin?« Marek hatte bemerkt, dass er abgebogen war.

»Geht ruhig schon vor«, rief Jem. »Ich hol mir nur rasch eine Sonnenbrille. Ich hol euch schon wieder ein.«

»Na gut, aber mach nicht zu lange.«

Jem verließ den Pfad und steuerte auf den Laden zu.

Er hatte Glück. Die Tür war unverschlossen. Zwar musste er ein paar Äste und etwas Geröll beiseiteräumen, aber dann hatte er die freie Auswahl. Er suchte ein bisschen herum und entschied sich dann für eine Ray-Ban. Nicht zu dunkel und mit einer automatischen Anpassung an die Lichtverhältnisse. Nicht schlecht.

Jetzt musste er sich aber wirklich beeilen.

Er war gerade wieder ins Freie getreten, als sein Blick auf eine verkrüppelte Eiche fiel, die neben dem Geschäft aufragte. Fünf Amseln saßen darin und unterhielten sich tschilpend. Kaum, dass sie ihn bemerkten, hörten sie mit ihrem Spiel auf und richteten ihre Knopfaugen auf ihn. An sich nichts Ungewöhnliches. Wie sie im Unterricht gelernt hatten, waren Amseln recht kluge und neugierige Vögel. Aber irgendetwas an ihnen war seltsam.

Er blieb stehen und sah sie an. Und die Vögel sahen ihn an. Ausdruckslos, starr und irgendwie feindselig.

Jem trat näher und klatschte in die Hände. Nichts geschah.

»Husch, husch«, er wedelte mit seinem Stock in der Luft. Eigentlich hätte jeder Vogel im Radius von zehn Metern sofort wegfliegen müssen, aber nicht so diese Amseln. Nicht mal ein Flügelflattern war zu sehen. Eine hielt den Kopf leicht schief, eine andere reckte den Hals, um besser sehen zu können. Ansonsten ausdrucksloses Starren.

Seltsam. Es war nicht das erste Mal, dass er sich über das Verhalten der einheimischen Tierarten wunderte. Die Männer, die jagen gegangen waren, hatten da einige seltsame Geschichten erzählt. Kaninchen, die einen bis auf mehrere Meter heranließen, Fische, die man mit der bloßen Hand fangen konnte – Lucie hatte ihm am Flughafen Vögel gezeigt, die so zutraulich waren, dass sie auf der ausgestreckten Hand landeten.

Bisher hatte er das darauf geschoben, dass die Tiere keine Menschen gewohnt waren. Aber, dass sie sich überhaupt nicht von ihm beeindrucken ließen, befremdete ihn nun doch.

Ihm fielen die Wölfe wieder ein.

Ein unmittelbares Gefühl von Bedrohung kroch mit haarigen Spinnenbeinen seinen Rücken empor. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Die Vögel waren nicht allein.

Er wollte schon weitergehen, als der Baumstamm hinter den Vögeln in Bewegung geriet. Es war nicht die Art Bewegung, wie sie vom Wind erzeugt wurde, nein, es war der Baum selbst. Die Äste und Zweige bogen sich auf eine Art, die Jem höchst unnatürlich vorkam. Es war, als hätte die Pflanze einen eigenen Willen. Als besäße sie Arme und Beine.

Ein fremdartiger Laut ertönte. Eine Art Zwitschern, das aber nicht von den Vögeln stammte. So ein Geräusch hatte Jem noch nie zuvor gehört. Gleichzeitig roch er etwas. Säuerlich und irgendwie faulig.

Etwas schien über ihm durch die Luft zu sausen, doch sehen konnte er nichts. Etwas Großes. Wie ein Flügelschlag, nur mächtiger.

Einen Schrei unterdrückend, wandte er sich um und rannte, wie er noch nie zuvor gerannt war. Durch das Gestrüpp, zurück auf den Pfad und hinter seinen Freunden her. Keine Sekunde wollte er länger an diesem unheimlichen Ort bleiben.

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