Читать книгу WorldRunner (2). Die Gejagten - Thomas Thiemeyer - Страница 10

Оглавление

3

Bayerische Alpen, eine Woche später

Draußen klatschte der Regen gegen die Scheiben des Kurhotels. Die Berge waren nur als graue Scherenschnitte zu erkennen. Der Himmel sah aus, als könne er nicht mehr dunkler werden. Der Park, der gestern noch voller Kurbesucher gewesen war, lag heute einsam und verlassen da.

Tims Blick fiel auf den Helikopter, der sie später zu ihrem ersten Einsatzort fliegen würde. Doch selbst er wirkte traurig. Die Rotorblätter hingen nach unten und die beiden Landelichter blinkten träge.

Im Konferenzraum herrschte angespannte Stille.

»Wo bleiben die denn?« Dad schaute bestimmt zum zwanzigsten Mal auf die Uhr. »Das Treffen war für achtzehn Uhr anberaumt, jetzt ist es schon fast halb sieben.«

»Die werden schon noch kommen.« Tim ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn die Abgesandten der Spieleleitung von GlobalGames nicht kämen. Wenn er und die anderen wieder heimfahren durften. Vielleicht stellte sich ja heraus, dass die ganze Geschichte nur ein Irrtum war. Man entschuldigte sich und alles war wie zuvor. Ein Teil von ihm wünschte sich, dass es so wäre.

Mochten die anderen auch scharf darauf sein, im Rampenlicht zu stehen, er wollte eigentlich nur sein Spiel spielen. Dass er jetzt hier saß und wartete, lag an den vielen Hoffnungen und Wünschen, die auf ihm ruhten. Nicht nur die seiner kleinen Schwester und seiner Mom, auch die der restlichen Teammitglieder. Die seiner Schule. Seiner Stadt. Seines Landes. Alle hofften sie, dass er den großen Preis gewann. Wie sah das denn aus, wenn er jetzt einen Rückzieher machte?

Annika stand bei ihren Eltern. Die drei steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise.

Tim wurde klar, dass es kein Zurück gab. Noch heute Nacht würde man sie zu ihrem ersten Claim bringen und ihr Abenteuer würde beginnen.

»Ich glaube, ich sehe sie!«, rief Emily mit roten Wangen. »Da kommen sie!«

Eine Frau und ein Mann in dunklen Businessanzügen näherten sich mit eiligen Schritten. Begleitet wurden sie von einem Mann im Arztkittel und einem Techniker im Overall, der sechs Kisten auf einem Rollwagen vor sich herschob. Die vier betraten den Konferenzraum, schlossen die Türen und gingen nach vorne zum Rednerpult. Die Frau platzierte ihre Aktenkoffer vor sich und blickte erwartungsvoll in die Runde. »Guten Abend, verehrte Damen und Herren, guten Abend, liebe Kandidaten. Mein Name ist Irene Jonas, ich werde Ihnen heute als Beraterin von GlobalGames zur Seite stehen. Bitte verzeihen Sie die Verzögerung. Es gab wetterbedingt noch ein paar Probleme, aber nun können wir anfangen. Bitte nehmen Sie Platz. Mein Kollege und ich werden Ihnen einige Instruktionen mit auf den Weg geben, Ihnen den Ablauf des Spiels erklären und letzte Fragen beantworten. Wir möchten Sie bitten, die unterzeichneten Verträge abzugeben und die Teilnahme an den Spielen damit offiziell zu machen.«

Dad holte den Vertrag aus seiner Tasche und zog dabei ein Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Tim blickte auf die eng beschriebenen Seiten. Er erinnerte sich noch gut an die heftige Auseinandersetzung mit seinem Vater, der der Meinung war, man dürfe so etwas auf keinen Fall unterschreiben. Erst als Tim ihm die Daumenschrauben anlegte, indem er Mom ins Gespräch brachte, war er eingeknickt.

Tims verstorbene Mutter war selbst begeisterte Geocacherin gewesen und hätte bestimmt gewollt, dass er teilnahm. Sie hätte ihm vertraut und sich darauf verlassen, dass er keine unnötigen Risiken einging.

Rückblickend betrachtet war das Argument nicht ganz fair – schließlich war sie nicht hier –, aber es führte zum erwünschten Ergebnis. Dad hatte den Stift genommen, widerwillig das Papier unterzeichnet und es in seiner Tasche verschwinden lassen. Rasch sammelte die Frau die Dokumente ein und überreichte sie ihrem Kollegen. Der zählte sie durch und nickte dann.

»Sehr schön«, sagte Frau Jonas und lächelte. »Das Spiel startet heute Nacht, um null Uhr, Greenwich Mean Time. Unser Ärzteteam wird euch im Anschluss an dieses Gespräch untersuchen und dann geht’s rüber zum Helikopter, der euch an euren ersten Einsatzort bringen wird. Alles verstanden so weit? Und nun darf ich euch Winston vorstellen. Er ist unser Technikexperte und wird euch die Funktion und Anwendung der neuen Geräte erklären.« Sie deutete auf den kleinen, rundlichen Mann mit dem Overall, der neben dem Rollwagen stand. Er bat die Runner nach vorne und erklärte ihnen die Geräte.

Zuerst war da eine neuartige Multimediabrille, die gleichzeitig als Kamera und Mikrofon, aber auch als Wiedergabegerät eingesetzt werden konnte. Da sie auf die jeweilige Sehstärke eingestellt waren, konnte Malte seine alte Brille ablegen.

Tim setzte seine auf und blickte hindurch. Sie war federleicht. Was daran so besonders sein sollte, erschloss sich ihm nicht. Es war, als würde man durch hauchdünnes Glas blicken.

»Als Erstes müsst ihr sie einschalten«, sagte Winston und wies sie auf einen verborgenen Schalter am Bügel. Kaum hatte Tim ihn betätigt, erschien ein feines Raster. Eine Stimme, die ihm seltsam vertraut vorkam, drang aus den eingebauten Lautsprechern: »Scanne die Umgebung, Runner. Dreh dich einmal um dich selbst.« Kurz darauf hörte er: »Scan abgeschlossen. Vielen Dank.«

Noch bevor ihm einfiel, wo er die Stimme schon einmal gehört hatte, ploppte wie aus dem Nichts eine Frauengestalt auf. Sie stand neben Winston und legte locker ihre Hand auf seine Schulter. Tim erkannte sie sofort wieder.

Es war die Rote Dame. Eine virtuelle Figur, die sie bereits während der Entscheidungsrunde kennengelernt hatten.

Sie wirkte so echt und lebendig, als stünde sie tatsächlich vor ihnen. Tim nahm die Brille ab und die Rote Dame verschwand. Sie war wirklich nur eine Projektion. Aber die beste, die Tim je gesehen hatte. Er war schwer beeindruckt.

Auch bei den anderen blieb der Effekt nicht ohne Wirkung. Manche von ihnen versuchten, die Frau zu berühren. Was natürlich nicht ging. Die Rote Dame lachte.

»Ich begrüße euch, Runner«, sagte sie. »Freut mich, dass wir uns wiedersehen. Ihr habt mir gefehlt. Hattet ihr eine gute Zeit? Uns stehen abenteuerliche Tage bevor.«

»Alter, das gibt’s doch nicht«, grunzte Darius. »Wie funktioniert das?«

»Netzhautprojektion«, sagte Winston. »Ein neuartiges Verfahren, bei dem Realität und virtuelle Bilder miteinander verschmelzen. Wir können damit nicht nur künstliche Personen einblenden, sondern eure komplette Umgebung verändern. Passt mal auf.« Er drückte bei seinem Laptop eine Taste. Ein kurzes Piepen, dann standen sie plötzlich an einem Abgrund.

Tim hielt den Atem an.

Konferenzraum: weg, Eltern und Angehörige: weg – nur sie und Winston. Neben ihnen donnerte ein Wasserfall in die Tiefe. Das Licht der tief stehenden Sonne beschien eine Felswand. Tim erkannte einen Fluss, der sich durch smaragdgrüne Wälder schlängelte. Ein Schwarm Papageien floh krächzend an ihnen vorbei. Die Rote Dame war immer noch da. Hinter einem Felsen hervortretend, blickte sie in den Abgrund. Tim folgte ihrem Blick und zuckte zurück. Himmel, war das tief!

Er wusste zwar, dass der Abgrund künstlich sein musste, aber es sah alles so verdammt echt aus. Lieber nichts riskieren. Er ging noch einen Schritt weiter zurück und stieß dabei gegen etwas Hartes. Die Illusion verschwand. Es war die Wand des Konferenzraums. Dad und Emily starrten ihn mit großen Augen an.

Tim war völlig benebelt.

»Was hast du gesehen?«, rief Emily. »Du hast dich ganz komisch benommen.«

Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Noch immer sah er das Nachbild des Abgrunds auf seiner Netzhaut. »Unglaublich«, murmelte er. »So was ist mir noch nicht untergekommen.«

»Das glaube ich gerne«, antwortete Winston. »Die Technik ist brandneu.«

»Darf ich auch mal?« Ehe Tim etwas dagegen unternehmen konnte, hatte Emily sich die Brille geschnappt und eingeschaltet. Tim konnte sehen, wie ihr Unterkiefer runterklappte. Sie machte einen Luftsprung und wäre um ein Haar hingefallen, hätte Dad nicht hinter ihr gestanden und sie aufgefangen.

»Ist ja irre!«, schrie sie. »Ich will auch so eine. Kann man die kaufen?«

Winston lachte. Er freute sich sichtlich über die Verblüffung. »Leider nein. Dies sind Prototypen, die während des Events zum ersten Mal einem längeren Testlauf unterzogen werden. Vielleicht in ein oder zwei Jahren.« Er nahm eine der Brillen und drehte sie um. »Der eingebaute Akku ist für eine Laufzeit von vierundzwanzig Stunden ausgelegt. Sollte der Ladestand gering werden, kann man sie leicht über die eingebaute Powerbank und die Solarzellen im Rucksack aufladen. Die Brille ist stoßfest, wasserdicht und unempfindlich gegen extreme Temperaturen. Das Besondere ist, dass ihr damit nicht nur empfangen, sondern auch senden könnt. Eine winzige Kamera hier oben zeichnet alles auf, was ihr seht, und schickt es an einen nächstgelegenen Satelliten. Wichtig dabei ist, dass ihr stets den Rucksack aufbehaltet. Er ist eure Verbindung nach draußen.« Er entnahm der Kiste einen orangefarbenen Sportrucksack, an dem seitlich das Logo von Stevenson-Enterprises prangte.

»Die Rucksäcke enthalten eine Sende-/Empfangseinrichtung und dienen gleichzeitig als Antenne. Leider können wir es euch nicht ersparen, sie während des gesamten Contests zu tragen, denn ihr werdet mitunter an Orten sein, an denen es kein Mobilfunknetz gibt. Andererseits braucht ihr die Rucksäcke ohnehin, denn sie enthalten Kleidung, Proviant und alles, was ihr sonst so für die Tour benötigt. Zusätzlich erhaltet ihr diese Handschuhe.« Er entnahm seinen Koffern sechs Paare schwarzer Handschuhe und verteilte sie. »Die solltet ihr ständig tragen. Sie sind nicht nur für den Einsatz an schwierigen Kletterstellen geeignet, sondern reagieren interaktiv mit der Brille. Setzt sie noch mal auf und schaut es euch an. Ihr solltet noch ein bisschen damit üben, ehe es losgeht.«

Tim nahm Emily die Brille vorsichtig wieder ab und setzte sie auf. Der Abgrund war verschwunden. Stattdessen lag vor jedem von ihnen ein Haufen bunter Holzklötzchen auf dem Boden. Virtuelle Klötzchen, wohlgemerkt.

»Versucht einmal, sie ohne Handschuhe zu stapeln«, sagte Winston. »Ihr werdet schnell feststellen, dass das nicht geht. Danach zieht die Handschuhe über und schaut, was passiert.«

»Stimmt«, hörte Tim Vanessa sagen. »Die Hände gehen einfach durch sie hindurch.«

Tim streifte die Handschuhe über und problemlos ließen sich die Klötzchen hochheben und an eine andere Stelle bewegen.

»Cool, oder?«, sagte Winston. »Wer zuerst einen Turm baut, hat gewonnen.«

Malte war der Schnellste. Sein Turm war zwar schief, aber er stand.

»Bravo, gut gemacht.« Der Techniker wirkte sehr zufrieden.

»Ihr seht, der Umgang mit Brille und Handschuhen ist einfach und intuitiv. Mit ihnen kommt ihr übrigens auch ins Hauptmenü. Tippt einfach oben rechts ins Bild und es wird sich eine Menüleiste öffnen. Dort findet ihr verschiedene Onlinedatenbänke, eine Karte, auf der ihr euren Standort abrufen könnt, aktuelle Wetterdaten, Übersetzungsprogramme und so weiter. Ich will euch die Überraschung nicht verderben, ihr werdet das alles selbst herausfinden. Ach ja, eine Sache noch.« Er nahm einen der Handschuhe und hielt ihn hoch. »Für den Fall, dass ihr ernsthaft in der Klemme steckt, findet ihr eine Fail-Safe-Vorrichtung an der Unterseite des Handgelenks.« Er klappte eine dünne Lasche auf, unter der sich ein roter Punkt befand. »Dies ist ein Notfallknopf. Er sorgt dafür, dass ihr umgehend abgeholt und an einen sicheren Ort gebracht werdet. Je nachdem, wo ihr euch gerade befindet, kann es eine halbe Stunde bis maximal eine Stunde dauern. Aber ihr dürft beruhigt sein. Sobald ihr den Knopf gedrückt habt, ist das Rettungsteam auf dem Weg zu euch.«

Tim runzelte die Stirn. »Dürfen wir danach denn weiterspielen?«

»Nein, leider nicht«, sagte die Frau im Businesskostüm. »Das Team, dessen Fail-Safe-Knopf gedrückt wurde, scheidet automatisch aus. Ihr solltet also auf keinen Fall leichtfertig damit rumspielen. Damit ihr ihn nicht versehentlich betätigt, müsst ihr während des Drückens eine Kommandozeile laut vorlesen. Sie steht neben dem Knopf auf der Innenseite der Lasche. Also Knopf drücken, Code vorlesen und ihr werdet abgeholt. Alles verstanden?«

»Alles klar.«

Tim schwor sich, diesen Knopf auf keinen Fall zu drücken.

»Was ist mit Geld?«, fragte Jeremy.

»Guter Einwand«, erwiderte Winston und deutete auf eine kleine Lasche an der rechten Rucksackseite. »Hier drin findet ihr eine Kreditkarte, die auf eure Gruppe zugelassen wurde. Darauf befinden sich umgerechnet zwanzigtausend US-Dollar. Ihr dürft das Geld benutzen, um Flüge zu buchen, Proviant zu kaufen und Dienstleistungen zu bezahlen. Wir sind der Meinung, dass der Betrag für euch sechs ausreichen sollte.« Er kratzte sich an der Stirn. »Brille, Handschuhe, Rucksack, Kreditkarte, Multifunktionswerkzeug. Da ist alles dran, was ihr so brauchen könnt: Messer, Dosenöffner, Schraubenzieher, Säge und so weiter. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas vergessen habe. Ach ja, die Overalls und die Schuhe.« Er griff in den Koffer und entnahm ihm ein graues Kleidungsstück sowie ein Paar knöchelhoher schwarzer Schuhe. Er faltete den Overall auseinander und hielt ihn hoch. »Sehr dünn, sehr leicht, trotzdem wärmend und isolierend«, sagte er. »Der Stoff ist extrem reißfest und hitzebeständig und wurde sogar bei Temperaturen unter null Grad getestet. Ein echtes Wunderzeug. Die Schuhe sind ebenfalls leicht und wasserabweisend. Sie haben ein gutes Profil und fühlen sich an, als wären sie mit euch verwachsen. Ihr werdet sie nie wieder ausziehen wollen. Das war’s jetzt aber wirklich.« Er packte die Kleidungsstücke wieder ein.

»Womit wir zu den Spielregeln kommen«, sagte die Frau. »Jedes Team besitzt ein Zeitkonto, das kontinuierlich runterzählt. Sobald ihr euer jeweiliges Reiseziel erreicht habt, fängt die Uhr an zu laufen. Die Aufgaben müssen binnen vierundzwanzig Stunden gelöst werden oder ihr scheidet aus. Wenn ihr es schafft, wird die Uhr zurückgestellt, gelingt es euch nicht – Adiós, muchachos. Ihr findet das Zeitkonto oben rechts in eurem Display. Ihr solltet euch aber nicht nur darauf verlassen – immerhin gibt es ein gegnerisches Team, das immer schneller als ihr sein könnte.«

»Es gibt noch eine Besonderheit«, sagte der Mann, der bisher ruhig im Hintergrund gestanden hatte. »Für den Fall, dass ihr mal nicht weiterwisst oder ein Rätsel nicht gelöst bekommt, dürft ihr euch Hinweise geben lassen. Sie sind nach Schwierigkeitsgraden gestaffelt. Von eins wie einfach bis fünf wie extrem. Aber Achtung: Hinweise kosten Strafpunkte im Zeitkonto. Sollten zwei Teams zeitgleich den Claim einloggen, dann gewinnt das Team mit dem besseren Zeitkonto. Es ist also immer hilfreich, möglichst wenig Tipps zu benötigen.«

»Ach ja und ehe ich’s vergesse«, sagte Frau Jonas. »Wenn eure Brillen eingeschaltet sind, werdet ihr online sein. Das bedeutet, die Zuschauer sind mit euch verbunden. Sie sehen und hören alles, was ihr seht und hört. Alles, was ihr erlebt, wird live über Fernsehkanäle und Streamingportale ausgestrahlt. Ihr solltet euch dessen bewusst sein und dementsprechend auf eure Wortwahl achten. Immerhin vertretet ihr unsere Nation und wir wollen ja ein gutes Bild abgeben. Eure Aufgabe ist es, den Zuschauern ein unvergessliches Spieleerlebnis zu bieten. Es soll für sie so spannend und emotional wie möglich sein. Dazu gehört auch, dass jeder von euch einen Livebericht bestreitet. Eine zwanglose Unterhaltung. Den Ort und die Zeit bestimmen wir. Für unsere Zuschauer ist das von allerhöchstem Interesse.«

»Und was sollen wir da erzählen?«, fragte Darius.

Die Frau zuckte die Schultern. »Was euch gerade durch den Kopf geht. Hauptsache, es ist ehrlich und authentisch. Vielleicht habt ihr ja Schwierigkeiten mit einem Rätsel oder ihr seid in einer fremden Umgebung. Vielleicht gibt es jemanden, den ihr besonders mögt oder den ihr hasst – solche Dinge. Hauptsache, es ist echt und emotional.«

»Warum nicht gleich Drähte in unser Gehirn schieben und unsere Gedanken lesen?«, grummelte Darius.

Die Frau lachte. »So weit ist die Technik leider noch nicht. Vielleicht beim nächsten Mal.« Es war offensichtlich, dass sie den Spott nicht verstanden hatte.

»Ich denke, das war’s von unserer Seite«, sagte sie. »Wir danken euch für eure Aufmerksamkeit und verabschieden uns nun. Viel Glück! Ihr habt jetzt noch ein paar Minuten, um euren Familien Auf Wiedersehen zu sagen, dann schließt ihr euch bitte unserem Mediziner hier an, der euch rüber in den Untersuchungsraum begleitet.«

Tim ging zu Dad und Emily. Sie waren inzwischen aufgestanden und hatten sich zu Annikas Eltern gesellt. Auch Maltes älterer Bruder Patrick stand dort. Ein Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren mit Baseballkappe, Kapuzenshirt und Cargohose. Sein Blick wirkte verschlossen und er sprach kein Wort.

»Ich bin mir immer noch unsicher, ob das eine gute Idee ist«, sagte sein Dad mit gesenkter Stimme. »Das klingt alles ganz schön gefährlich.«

Tim winkte ab. »Ihr habt sie doch gehört. Die Leute wissen, was sie tun. Wir versprechen euch, dass wir vorsichtig sind, nicht wahr, Annika?«

»Klar doch. Keine Risiken. Wenn wir an einem Punkt nicht weiterkommen, akzeptieren wir das. Zumindest für mich ist es eine Ehre, überhaupt dabei gewesen zu sein.«

»Für mich auch«, sagte Malte. »Wir sind ja bald wieder da.«

Annikas Mutter schien den Tränen nah. »Ich werde erst ruhig schlafen können, wenn ich weiß, dass alles vorbei ist«, sagte sie. »Schrecklich. Aber wenigstens können wir live mitverfolgen, wo ihr euch gerade aufhaltet und was ihr macht. Ich hoffe nur, dass meine Nerven das aushalten.«

»Keine Sorge, es wird schon alles gut gehen.« Tim versuchte, aufmunternd zu klingen, doch ganz so cool, wie er tat, war er nicht. Tatsächlich hatte er einen ziemlichen Kloß im Hals.

Er umarmte Emily und Dad ein letztes Mal, ließ sich von ihnen Glück wünschen, dann hieß es Abschied nehmen. Tim wuschelte seiner kleinen Schwester durch die Haare, dann schloss er sich Annika und den anderen an. In Begleitung des Arztes verließen sie den Konferenzraum.

Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss.

»Was sind das für Untersuchungen, die Sie mit uns anstellen?«, erkundigte sich Vanessa bei dem Arzt. »Was erwartet uns da?«

Der Mann grinste. »Lasst euch überraschen. Da wären wir. Alle Mann reinspaziert.« Er öffnete eine Tür, auf der ein rotes Kreuz prangte.

Tim sah sechs Pritschen, daneben Beistelltische, auf denen medizinische Apparaturen standen. Ein leises Summen und Piepen drang an seine Ohren. Weitere Ärzte befanden sich im Raum. Sie schienen auf sie zu warten. Nach einer oberflächlichen Untersuchung sah das nicht aus.

»Zieht euch bis auf die Unterwäsche aus und legt euch hin«, sagte der Mann.

»Wir sollen … was?« Vanessa zog eine Braue in die Höhe.

»Heißt das, Sie werden uns Blut abnehmen?« Maltes Augen waren weit aufgerissen.

»Das gehört dazu, ja. Los jetzt, hopp. Wir haben einen straffen Zeitplan.« Er wusch sich die Hände und trocknete sie ab. Die anderen folgten seinem Beispiel.

Malte schluckte. Tim sah, wie er die Lippen zusammenpresste. Sein Freund war ganz bleich geworden. »Komm mit mir«, flüsterte er Malte zu und fasste ihn am Arm. »Wir gehen dort hinüber. Du legst dich auf die Liege neben mir, dann können wir uns unterhalten.«

Gehorsam zogen sie sich aus, legten ihre Sachen auf einen Stuhl und gingen zur Liege. Neben ihnen war Darius. Er murmelte etwas wie: »… kann Nadeln nicht ausstehen …«, doch selbst er wagte es nicht, sich aufzulehnen. Tim fielen seine Muskeln auf. Kein Wunder, dass der Typ ihn mit einem Schlag zu Boden geschickt hatte. Darius wirkte, als würde er täglich Gewichte stemmen. Jeremy war das genaue Gegenteil. Schmal, bleich und mit eingefallener Brust. Ein Junge, der keinen Schritt zu viel machte und der lieber andere für sich arbeiten ließ, als selbst Hand anzulegen.

Während Malte sich neben ihn legte, blickte Tim verstohlen zu den Mädchen hinüber. Der Anblick von Annika war ihm noch vom Vorentscheid her vertraut, immerhin hatten sie fast eine Woche eng zusammengelebt. Überrascht war er von Vanessa. Obwohl sie im selben Alter war, besaß sie doch deutlich weiblichere Formen. Annika wirkte im Vergleich zu ihr geradezu knabenhaft. Fasziniert blickte er zu Vanessa hinüber, wandte aber schnell die Augen ab, als ihm bewusst wurde, dass sie ihn ansah. Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. Hatte sie etwas bemerkt? Als er noch einmal einen kurzen Blick riskierte, lief er direkt ins offene Messer. Sie zwinkerte ihm schelmisch zu.

Himmel!

Er legte sich flach auf die Liege und starrte an die Decke. Sein Herz galoppierte, als wäre er gerade die hundert Meter in Rekordzeit gelaufen. Na, das hatte er ja wieder fein hinbekommen.

Eine Ärztin trat neben ihn, prüfte Puls und Blutdruck und sah ihn verwundert an. »So aufgeregt? Meine Güte, du schwitzt ja. Es gibt es doch gar keinen Grund dafür. Nur ein kleiner Piks, dann hast du es schon überstanden.«

Sie stach ihm eine Nadel in die Armbeuge und legte einen Zugang. Über einen dünnen Schlauch strömte eine violett gefärbte Flüssigkeit von einem Apparat in seinen Arm. Verwundert blickte Tim die Ärztin an. Er hatte gedacht, sie würde ihm Blut abzapfen, stattdessen verabreichte sie ihm irgendetwas.

»Was ist das?«, fragte er besorgt.

»Ein Serum, das dich immun gegen so ziemlich jede Krankheit auf diesem Planeten macht«, sagte die Frau. »Ein ziemlich cooler Cocktail. Normale Patienten bekommen so etwas nicht, dafür ist es viel zu teuer. Aber für euch ist das Beste gerade gut genug.« Sie zog die Nadel wieder aus dem Arm und warf sie in einen Mülleimer. Dann klebte sie Tim ein Pflaster auf die Einstichstelle und sagte: »Das war’s schon. Schön liegen bleiben und fest hier draufdrücken.« Mit diesen Worten wandte sie sich Malte zu.

Tim drehte den Kopf. »Entspann dich, Malte«, sagte er. »Es ist total harmlos. Außer dem Piks wirst du nichts merken, ich versprech’s dir. Und danach fühlst du dich gut. Richtig gut.« Er lächelte.

Es stimmte. Er hatte das Gefühl, als würde goldener Honig durch seine Adern strömen. Der Raum wurde hell und weit. Ein überirdisches Licht strahlte von der Decke. Auch die Gesichter der Ärzte wirkten auf einmal freundlicher. Es waren doch nette Menschen. So großherzig, so freundlich. Tim hätte einen Baum umarmen können, so glücklich war er in diesem Moment.

Er spürte, wie er müde wurde. Müde und immer müder. Aber er durfte jetzt nicht schlafen. Es ging doch gleich los ins große Abenteuer.

Er musste fit sein. Wach.

Fit und … wach.

Ft un wch.

Chrrr

Binnen eines Wimpernschlags fiel er in einen ohnmachtsartigen Schlaf, der ihn auf eine Reise schickte, weit über die Grenzen seines Verstandes hinaus.

WorldRunner (2). Die Gejagten

Подняться наверх