Читать книгу WorldRunner (2). Die Gejagten - Thomas Thiemeyer - Страница 18

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Annika drückte Darius einen Wasserkanister in die Hand und griff sich selbst einen zweiten. Zusammen etwa dreißig Liter. Genug, um damit eine Weile über die Runden zu kommen. Ihre Taschen waren dermaßen mit Trockennahrung vollgestopft, dass sie dicke Beulen warfen.

»Glück muss der Mensch haben.« Darius’ Wangen glühten im Licht des Lagerfeuers. »Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich sagen, das war ein Zeichen des Himmels.«

»Zufall, mehr nicht«, sagte Vanessa. »Und noch sind wir nicht außer Gefahr. Sollten sie sich entschließen, jetzt zurückkommen, ist alles umsonst.«

»Weswegen wir jetzt die Biege machen«, sagte Jeremy. »Wir haben mehr als genug. Lasst uns verschwinden.«

Annika blickte nach oben.

Jeremy wippte ungeduldig mit dem Fuß. »Was ist los? Gibt’s noch irgendetwas?«

»Interessiert euch denn gar nicht, was die so in Aufregung versetzt hat?«

»Hätte, könnte, würde.« Jeremy verzog den Mund. »Wir sind nicht hier, um Kaffeesatz zu lesen. Unser Ziel war es, Nahrungsmittel zu beschaffen, und genau das haben wir getan. Also los.«

»Unser Ziel ist es, das Spiel zu gewinnen«, hielt Annika dagegen. »Sollten die wirklich das Rätsel gefunden haben und bereits an der Lösung arbeiten, dann nutzen uns die ganzen Nüsse und Müsliriegel nichts. Dann sind wir raus. Verstehst du das? Aus und vorbei.«

»Was hast du vor?«

»Na, da hochschleichen und sie belauschen. Von mir aus könnt ihr hier warten oder zurückgehen, das ist mir egal. Aber ich muss wissen, was sie gefunden haben.«

»Und wenn ich es dir verbiete?« Ein zaghafter Versuch, Macht zu demonstrieren, den Annika aber sofort durchschaute. »Kannst es ja mal versuchen«, sagte sie. »Also, wollt ihr warten oder kneift ihr lieber?«

Jeremy war hin- und hergerissen.

»Sei nicht blöd, Jeremy«, sagte Vanessa. »Lass uns den Rückzug antreten. Soll sie doch ins offene Messer rennen.«

»Also gut, wir machen die Biege«, stimmte Jeremy zu.

Annika nickte. »So viel zum Thema Teamgeist. Nichts anderes habe ich von euch erwartet. Wäre Tim hier gewesen, er hätte mich begleitet.«

»Wenn hier einer nicht teamfähig ist, dann ja wohl du«, giftete Vanessa, doch Annika hörte ihr nicht zu. »Hier, für dich, Großer.« Sie drückte Darius den zweiten Kanister in die Hand. »Wir sehen uns im Lager.«

Sie drehte sich um und erklomm die Treppe. Ihre Bewegungen waren geschmeidig wie die einer Raubkatze. Sie verschmolz geradezu mit ihrer Umgebung. Inzwischen hatte sie ihre Technik so weit perfektioniert, dass sie nicht das leiseste Geräusch verursachte. Sie war sicher: Hätten die Anasazi heute noch gelebt, sie wären bestimmt von ihr beeindruckt gewesen.

Oben angekommen, duckte sie sich hinter einen Mauerrest. Den Stimmen nach zu urteilen, musste sie sehr nah sein. Sie kroch ein paar Meter nach links und hob den Kopf. Vor ihr lag ein weiterer Tempel. Er war zwar kegelförmig und nicht pyramidenförmig wie ihrer, doch was sie gemeinsam hatten, war die geflochtene Kuppel auf der Spitze.

Vom polnischen Team war nichts zu sehen. Nur ihre aufgeregten Stimmen drangen aus dem Inneren. Annika sah sich um. Dunkelheit kroch aus den Vertiefungen, überzog das Plateau mit tintenschwarzen Schatten. Die beste Gelegenheit, sich unbemerkt zu nähern. Ihren ganzen Mut zusammennehmend, rannte sie auf den Tempel zu. Niemand bemerkte sie. An einem der zahlreichen schießschartenförmigen Fenster machte sie halt, hielt den Atem an und hob den Kopf.

*

Fassungslos starrte Tim auf ihre Entdeckung. Die Wand war übersät mit Bildern und Zeichnungen, die wie steinzeitliche Höhlenmalereien aussahen.

Der Kojote rannte nervös von links nach rechts.

»Ich glaube, du versperrst ihm den Fluchtweg«, sagte Malte. »Komm besser von der Tür weg.«

»Du hast recht«, sagte Tim. »Er kann ja nichts dafür. Lassen wir ihn raus.« Er trat zur Seite und wartete ab.

Als der Kojote bemerkte, dass der Weg frei war, stieß er ein Winseln aus, näherte sich vorsichtig und schoss dann wie von der Tarantel gestochen hinaus ins Freie.

»Ich habe mal gehört, dass sie sich hauptsächlich von Mäusen ernähren«, sagte Malte mit schiefem Grinsen. »Hier in der Stadt gibt’s sicher ’ne ganze Menge.«

»Ja …« Tim konnte seinen Blick nicht von den Zeichnungen abwenden. »Wie konnten wir die beim ersten Mal übersehen?«, murmelte er. »Wir haben den Tempel doch gründlich abgesucht.« Dann hatte er eine Idee. Er holte sein Feuerzeug aus dem Rucksack und entzündete einen kleinen Ast, der voller vertrockneter Blätter hing.

»Was tust du da?«, fragte Malte.

»Abwarten.« Knisternd sprangen die Flammen von Zweig zu Zweig. Als es hell genug war, schaltete Tim seine Stirnlampe aus. Wie von Zauberhand verschwanden die Bilder.

»Das ist ja ein Ding«, murmelte Malte. »Wie bist du dadrauf gekommen?«

Tim schaltete die Stirnlampe ein und sofort waren die Darstellungen wieder da. »Mir kam der Gedanke, dass es etwas mit unseren Lampen zu tun hat. Als wir vorhin hier drin waren, hatten wir noch ausreichend Tageslicht, deswegen konnten wir unsere Lampen ausgeschaltet lassen. Jetzt hingegen ist es stockfinster.«

»Verstehe«, sagte Malte. »Auf Tageslicht und Feuer reagieren die Bilder nicht, nur auf Kunstlicht.«

»Vielleicht ist das Licht polarisiert«, murmelte Tim. »Eine spezielle Wellenlänge, auf die diese Bilder reagieren.« Er trat näher und fuhr mit der Hand über die unebene Wand. Wenn man nahe genug ranging, konnte man sehen, dass die Stellen, auf denen sich die Farbe befand, glänzten. Und da war noch etwas. Ein Geruch, der nicht in diese Umgebung passen wollte und der ihm schon vorhin aufgefallen war. Tim benötigte einen Moment, um herauszufinden, was das war. »Pinselreiniger«, murmelte er. »Nitroverdünner.« Er atmete scharf ein. »Diese Bilder sind neu. Sie wurden erst in jüngster Zeit hinzugefügt.«

»Ja«, sagte Malte. »Irgendeine Spezialfarbe, die auf die Wellenlänge unserer Lampen reagiert. Ebenso einfach wie genial. Das ist das Rätsel. Und du hast es gefunden.«

Tim trat einen Schritt zurück und nickte. Das Jagdfieber hatte ihn wieder gepackt. Endlich waren sie auf der richtigen Spur. »Hoffen wir, dass die anderen bald zurück sind.«

*

Annika presste ihr Ohr an die Öffnung. Angestrengt lauschend, versuchte sie, kein Wort zu verpassen.

»Was ist das, Jakub? Seit wann ist das da?«

»Muss die ganze Zeit schon hier gewesen sein, wir haben es nur nicht gesehen, weil unsere Lampen ausgeschaltet waren.«

»Und was stellen diese Bilder dar?«

»Eben das müssen wir rausbekommen. Deswegen sind wir doch hier.«

»Unsere Suppe wird kalt …«

»Willst du essen oder Rätsel lösen?«

»Ja, ja. Ist ja schon gut …«

Annika drehte den Lautstärkeregler weiter runter. Obwohl er schon sehr niedrig eingestellt war, fürchtete sie, die anderen könnten sie hören. Doch das polnische Team war viel zu abgelenkt. Und in der Tat war der Fund erstaunlich. Ein Bilderrätsel, das nur auf Kunstlicht reagierte? Sehr einfallsreich.

Von ihrer Position aus konnte sie erkennen, dass die Bilder eine Art Geschichte erzählten. Sechs Strichmännchen schienen dabei die Hauptrolle zu spielen. Sie tauchten in jeder einzelnen Darstellung auf. Man brauchte nicht viel Fantasie, um darauf zu kommen, warum es genau sechs waren. Jede dieser kleinen Figuren stellte einen der Spieler dar.

Die Bildergeschichten fingen links oben an in einer Szene, in der alle Männchen flach auf der Erde lagen. Dann ging es weiter zu einem Bild, auf dem die sechs auf Wanderschaft gingen. Sie betraten eine unbekannte Stadt. Eine Welt voller Götter und Dämonen. Die geisterhaften Wesen schwebten über ihnen und beobachteten sie. Was dann geschah, war schwer zu erkennen. Die Bilder wurden wirrer, unübersichtlicher. Es ging ziemlich hektisch zu. Mehrere Ereignisse schienen rasch aufeinanderzufolgen. Offenbar waren die sechs in Gefangenschaft geraten. Sie wurden umzingelt, überwältigt und eingesperrt. Da war eine hochgewachsene Gestalt mit einem Stab in der Hand. Die Gefangenen wurden an Pfosten gebunden. Bewacht wurden sie dabei von gruselig anzuschauenden Kreaturen, halb Mensch, halb Wolf.

Schlagartig fiel Annika Maltes Erzählung wieder ein. Die Skinwalker!

Annika spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Krampfhaft versuchte sie herauszufinden, wie es weiterging. Was war der Sinn hinter dieser Bildergeschichte, worin bestand das Rätsel?

Die Polen diskutierten schnell und aufgeregt. Annikas Programm hatte Schwierigkeiten mit der Übersetzung. Abgehackte Sprachfetzen drangen aus den Lautsprechern. Sie schaltete das Programm aus. Bisher war sie noch nicht entdeckt worden, aber das konnte sich jederzeit ändern. Ihr Instinkt sagte ihr, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, das Feld zu räumen und zu den anderen zurückzukehren. Es gab genug, worüber sie nachgrübeln und diskutieren konnten.

Ein dumpfes Schnauben riss sie aus ihren Gedanken. Sie war so in das Rätsel vertieft gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, dass da noch jemand anders war. Und zwar direkt hinter ihr!

Ihre Nackenhaare sträubten sich. Langsam, unendlich langsam drehte sie sich um.

*

Tim hörte es vor der Eingangstür schnauben. Ein dumpfer Laut, der definitiv nicht von einem Kojoten stammte. Das Team war zurück. Wurde aber auch Zeit!

»Wir sind hier drin!«, rief Tim. »Kommt rein, wir müssen euch etwas zeigen.« Wieder schnaubte es. Vermutlich war Jeremy sauer darüber, dass sie das Feuer noch nicht entzündet hatten. Aber es gab gute Gründe dafür.

»Keine Sorge wegen des Feuers!«, rief er. »Das haben wir im Nu angezündet. Das hier ist viel wichtiger.«

»Tim?«

Es war Malte. Seine Stimme klang verzerrt. Was war los mit dem Kleinen? Hatte er einen Krümel im Hals?

»Dreh dich mal um.«

Tim tat es. Im Türeingang war scherenschnittartig ein dunkler Schatten zu sehen. Kopf und Schultern von bläulichem Mondlicht umrahmt. War das ein Mensch?

Schlagartig wurde Tim bewusst, dass er sich geirrt hatte. Das war gewiss niemand aus ihrem Team. Das war etwas anderes.

»Großer Gott …« Tim sprang vor und wollte den Verriegelungsmechanismus an der Tür betätigen, doch das Wesen schien seinen Gedanken erraten zu haben. Im Gegenlicht war eine lang gezogene Schnauze zu erkennen. Ein Grollen ertönte, dann machte das Wesen einen Satz nach vorne und schnitt ihm den Weg ab. Frontal prallten sie gegeneinander. Tim glaubte, ein Güterzug habe ihn erwischt. Der Aufprall war so hart, dass er strauchelte und auf den harten Lehmboden schlug. Das Wesen war sofort über ihm und stemmte die Vorderpfoten auf seine Brust. Tim fühlte, wie es ihm die Luft aus der Lunge presste.

Er versuchte, seinen linken Arm zu befreien, aber wieder erriet das verfluchte Mistvieh seine Gedanken, packte seine Schulter und drückte sie zurück auf den Boden. Messerscharfe Krallen bohrten sich in Tims Kleidung.

»Hilf … mir …«, keuchte er, doch Malte war unfähig, sich zu rühren.

Ein roter Schleier vernebelte Tims Blick. Seine Augen tränten, tauchten die Welt in Schmerz und Angst.

In diesem Moment trat eine zweite Kreatur ins Licht. Die Krallen erzeugten beim Näherkommen ein klapperndes Geräusch auf dem Boden. Tim stockte der Atem. Was waren das für Geschöpfe?

Malte sackte zusammen und wurde gepackt. Beide wurden ins Freie gezerrt. Tim drang der Gestank nach vergammeltem Fleisch und Pilzen in die Nase. Würgend und hustend wand er sich auf dem Boden, versuchte, sich zu befreien, aber vergebens.

In diesem Augenblick hörte er, wie irgendwo jemand einen Pfiff ausstieß. Sofort ließen die Biester sie los. Tim bekam endlich wieder Luft. Er hob den Kopf und sah eine hochgewachsene Gestalt, die gemessenen Schrittes auf sie zukam. Sein Gesicht war mit schwarzer Farbe beschmiert. Über den Schultern hingen Wolfsfelle, auf dem Kopf trug er einen Bisonschädel. Die Hörner waren ebenfalls schwarz und ragten steil in die Höhe. In seiner Hand hielt er einen geschnitzten Stab. Riesenhaft sah er aus, breit wie ein Bär. Umrahmt von Mondlicht, wirkte er wie ein Urzeitwesen, das sich in die Gegenwart verirrt hatte.

»Wer seid ihr?«, flüsterte Tim. »Was seid ihr?«

Statt einer Antwort rammte der Schamane den Stab auf die Erde. Das größere der beiden Wesen packte Malte am Kragen und schleifte ihn die Stufen hinunter. Dann war Tim an der Reihe. Die Bewegung des Wesens war so kraftvoll, dass es Tim die Luft abschnürte. Strampelnd versuchte er, sich zu befreien, doch er konnte nichts ausrichten. Es war sinnlos.

Als sie ihm einen Sack über den Kopf zogen, versank seine Welt in Dunkelheit.

WorldRunner (2). Die Gejagten

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