Читать книгу WorldRunner (2). Die Gejagten - Thomas Thiemeyer - Страница 17

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Nacht lag über der Felsenstadt. Ein strahlender Vollmond war im Nordosten aufgegangen und überzog das Tal mit bläulichem Licht. Tim saß auf der Umfriedungsmauer des Tempels und starrte trübsinnig in die Dunkelheit. Irgendwo dort unten versuchten Annika, Vanessa, Jeremy und Darius in diesem Moment, dem anderen Team ein paar Lebensmittel abzuluchsen. Was hätte er dafür gegeben, jetzt bei ihnen sein zu dürfen, aber Jeremy hatte all seine Forderungen abgeschmettert und ihn zum Wachdienst verdonnert.

Eine Bestrafung, ganz klar, aber wofür? Weil Vanessa Tim schöne Augen gemacht hatte? Aber er konnte doch gar nichts dafür. Andererseits hatte er nichts dagegen unternommen, dass Jeremy sich als ihr Anführer aufspielte, also musste er jetzt auch mit den Konsequenzen leben.

»Siehst du? Da ist es wieder«, flüsterte Malte. »Auf der anderen Talseite.«

In der verschwommenen Masse der Felsen war ein zuckendes Licht zu erkennen. Das gegnerische Team! »Zünden die etwa ein Feuer an?«

»Ja, und zwar ohne jeden Schutz«, sagte Malte. »Denen scheint völlig egal zu sein, ob wir sie sehen können.«

Tim rieb seine Arme. Es war kalt geworden. Sein Atem kondensierte zu kleinen Wölkchen. »Entweder sind die sackblöde oder sehr selbstbewusst.«

Ihm fiel ein, dass sie ebenfalls langsam ans Feuermachen denken sollten. Das war Teil ihres Jobs. Andererseits wollte er unbedingt sehen, was dort drüben passierte. Was, wenn Annika und die anderen in eine Falle tappten? Dass sie sich so offen zu erkennen gaben, ließ vermuten, dass sie die Möglichkeit eines Überfalls in Betracht zogen. Vielleicht legten sie es sogar darauf an.

Und DAS war ein wirklich beängstigender Gedanke.

*

»Nadia, kiedy kolacja? Umieram z głodu.«

Annika duckte sich und hob die Hand. Jeremy, Darius und Vanessa gefroren zu Statuen.

Vor ihnen in der Dunkelheit glomm die Spitze einer Zigarette auf. Eine weibliche Stimme antwortete von oben. »Już prawie gotowe. Możesz przyjść.«

»Ale nadszedł czas.« Der Junge warf die Zigarette zu Boden und trat sie aus. Dann stand er auf und erklomm den Hügel.

Annikas Herz schlug bis zum Hals. Das war knapp gewesen. Hätte sie nicht so schnell reagiert, wären sie direkt in die Falle gelaufen. Der Typ hatte wie ein moosiger Fels im Unterholz gelauert. Ein Glück, dass sie so eine feine Nase hatte. Es war der Zigarettenrauch gewesen, der sie gewarnt hatte.

Sie wartete einen Moment, dann winkte sie den anderen aufzurücken.

»Glück gehabt«, flüsterte Vanessa. »Noch einen Schritt weiter und er hätte uns entdeckt.«

»Habt ihr verstanden, was die gesagt haben?«, murmelte Darius.

»Laut Übersetzungsprogramm war das Polnisch«, erwiderte Jeremy. »Irgendetwas mit Hunger, Essen und dass er hochkommen soll. Die Entfernung war zu groß, deshalb konnte das Gerät nicht alles verstehen.«

Annika dachte daran, wie lange sie schon nichts mehr gegessen und getrunken hatte, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Aber für solche Gedanken war jetzt keine Zeit. »Kommt, weiter«, flüsterte sie. »Und seid um Himmels willen leise. Da sind vielleicht noch mehr von denen im Unterholz.«

Doch sie hatten Glück. Wie es aussah, waren alle inzwischen oben ums Feuer versammelt. Gelbe Flammen erhellten die Ruinen. Ihr Schein warf ein zuckendes Licht über die Gebäude.

Annika prüfte die Umgebung und entschied sich für die rechte Seite. Einige mächtige Felsen lagen dort, in deren Schatten man ungesehen nach oben gelangen konnte. Sie vermisste Tim. Dass Jeremy ihn aus dem Erkundungsteam gekickt hatte und stattdessen Vanessa mitgenommen hatte, war eine saudumme Entscheidung gewesen. Ihr war ohnehin ein Rätsel, wie diese Schnepfe es in ihr Team geschafft hatte. Irgendwie war Jeremy ihr etwas schuldig, aber worum es dabei ging, hatte Annika nie herausbekommen. Sie erinnerte sich, dass Vanessa damals ihr erstes Team kaltblütig abserviert hatte, als sich für sie mit Darius und Jeremy eine bessere Chance bot. Sie war berechnend, kalt und falsch. Blieb nur zu hoffen, dass Tim nicht auf ihr Getue reinfiel. Doch leider waren Jungs beim Anblick eines hübschen Gesichts manchmal mit erschreckender Blindheit geschlagen.

Unermüdlich arbeitete Annika sich den Hang empor. Die anderen folgten mit großem Abstand. Vorsichtig um eine Ecke spähend, sah sie das polnische Team, wie es um das Feuer herumstand und sich wärmte. Die Gruppe bestand aus zwei Jungs und drei Mädchen. Einer fehlte also. Über dem Feuer hing ein Kessel, aus dem ein verführerischer Duft stieg.

Sie duckte sich hinter eine niedrige Mauer und schaltete das Übersetzungsprogramm ein. Die Lautstärke auf geringste Stufe gestellt, lauschte sie, was da gesprochen wurde.

»Wo steckt Jakub? Hast du ihn nicht gerufen?«

»Er untersucht gerade den Turm. Meinte, etwas gesehen zu haben.«

»Jakub ist ein Spinner. Der sieht doch überall Zeichen. Kommt schon, lasst uns anfangen. Ich habe echt Hunger.«

Das Klappern von Löffeln war zu hören. Vorsichtig linste Annika um die Ecke. Der Reihe nach tauchten die Spieler ihre Blechtassen in den Topf und nahmen auf den umliegenden Steinen Platz. Jeder von ihnen hielt eine dicke Scheibe Brot in der Hand. Es roch nach Bohneneintopf. Annikas Magen vollführte Purzelbäume.

Neben den Trinkwasserkanistern entdeckte sie etliche Päckchen, die aussahen, als würden sie Trockennahrung enthalten. Kekse, Müsliriegel, Nüsse und so weiter. Kraftfutter. Und leicht zu transportieren. Das Problem war nur: Wie sollte sie da ungesehen rankommen? Das Feuer brannte ziemlich hell. Die Höhle war voll ausgeleuchtet. Als sie zurückblickte, sah sie Jeremy und die anderen, die ihr fragende Blicke zuwarfen. Sie zuckte die Schultern.

Während sie versuchte, einen Plan auszuhecken, ertönte vom oberen Teil der Stadt plötzlich ein Schrei. Polnische Worte drangen an ihr Ohr. Das Übersetzungsprogramm reagierte sofort. »He, kommt alle her! Ich habe etwas gefunden.«

Etwa fünfzig Meter entfernt stand ein blonder Junge und wedelte wild mit den Armen. »Kommt schon. Beeilt euch!«

Zum Glück war Annika vorsichtig genug gewesen, sie hätte sonst leicht entdeckt werden können. Was den Typen wohl so aufregen mochte?

Die anderen Spieler waren sichtlich ungehalten über die Unterbrechung.

»Hat das nicht Zeit?«, rief eines der Mädchen. »Wir sind gerade beim Essen.«

»Lasst sofort alles stehen und liegen«, lautete die Antwort. »Ich habe das Rätsel gefunden!«

Annika hielt den Atem an. Wie von der Tarantel gestochen, sprangen die Spieler auf und eilten die Stufen hinauf, manche von ihnen mit dem Bohneneintopf in den Händen. Es gab ein kurzes Gedrängel, dann war die Feuerstelle wie leer gefegt.

Annika atmete schwer. Es war so schnell gegangen, dass sie keine Zeit gefunden hatte, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch nur ein Idiot konnte übersehen, welche Chance sich hier bot. Sie sah ihre Mitspieler an und reckte den Daumen empor. »Jetzt oder nie.«

*

Tim kniff die Augen zusammen. Da drüben tat sich etwas.

»Sieh dir an, wie sie herumrennen«, flüsterte er Malte zu. »Als hätte jemand einen Knallfrosch in einen Hühnerstall geworfen. Kannst du erkennen, was die da treiben?« Er wartete, doch von Malte kam keine Reaktion. Verwundert blickte Tim zu ihm hinüber.

Malte schien beschäftigt zu sein. Er tippte mit den Fingern in der Luft, was aussah, als würde er eine unsichtbare Schreibmaschine bedienen.

»He, hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Hä, was? Warte, ich bin gleich fertig.«

Seit Malte herausgefunden hatte, dass der Browser eine Sicherheitslücke aufwies, nutzte er die Gelegenheit in zunehmendem Maß, um mit seinem Bruder zu chatten. Der Trick bestand darin, die Nachricht einzugeben, während das Gerät offline geschaltet war. So konnte niemand live mitverfolgen, was er da trieb.

Ganz wohl war Tim bei der Sache trotzdem nicht.

»Chattest du wieder mit deinem Bruder?«

Malte nickte aufgeregt. »Patrick schreibt, dass die Einschaltquoten durch die Decke gehen. Auf allen Kanälen wird über die Spiele berichtet. Es gibt sogar schon erste Public Viewings. Wir sind Stars.«

»Aha«, murmelte Tim. »Ich fände es trotzdem besser, wenn du vorsichtiger wärst und dich auf unsere Aufgabe konzentrierst. Da drüben geht etwas vor sich und ich kann es nicht richtig erkennen. Ist einfach zu dunkel. Sagtest du nicht, das Ding hätte eine Nachtsichtfunktion?«

»Nur noch einen Moment. Bin gleich fertig.« Malte tippte in die Luft, wobei er die interne Tastatur der Brille mittels seiner interaktiven Handschuhe bediente. Keine Frage, der Kleine war in technischen Dingen außerordentlich begabt, aber es machte Tim argwöhnisch, dass er solche verborgenen Kanäle kannte. War er wirklich in der Lage, die Programmierer von Stevenson-Enterprises zu überlisten? Tim musste an den Eintrag im Steckbrief denken, der während der Fernsehshow ausgestrahlt worden war. Hat eine verborgene Seite, die er niemandem zeigt.

»Malte?«

»Hm? Ja, bin schon fertig. So.« Er schloss das virtuelle Fenster und kam zu Tim herüber. »Da bin ich«, sagte er. »Was gibt’s?«

»Sag du es mir. Irgendetwas tut sich da, aber es ist zu dunkel, um Details erkennen zu können. Vielleicht könntest du mal …« Tim fuhr herum.

Da war ein Geräusch gewesen. Es kam aus den Gebäuden hinter ihnen und hatte wie ein Seufzen geklungen.

Er runzelte die Stirn. Manchmal erzeugte der Wind solche Klänge, aber Tim war ziemlich sicher, dass es das nicht gewesen war. Da war eindeutig etwas Lebendiges.

»Hast du das gehört?«, flüsterte er.

Das Labyrinth aus Mauern und Türmen wirkte blass und geisterhaft. Der Mond ließ die Sandsteinfassaden wie Nebelschwaden aufleuchten.

»Habe ich.« Malte rückte näher. »Und es war ziemlich nahe.«

Tim räusperte sich. »Hallo? Ist da jemand?«

Vergessen waren Annika, vergessen auch das Team und ihre Mission. Sie mussten herausfinden, was das gewesen war. Seine Stimme erzeugte ein gruseliges Echo.

Keine Antwort.

Tapptapptapp

Zwischen den Mauern war ein schnell dahinhuschender Schatten zu sehen. Das Wesen nutzte die Dunkelheit, um sich zwischen den Felsen voranzubewegen.

Wieder erklang dieses Seufzen.

Tim betätigte den Knopf seiner Lampe. Sollte das gegnerische Team ruhig auf ihn aufmerksam werden. Das Versteckspiel war ohnehin vorbei.

Sein Licht zuckte wie ein Laserschwert durch die Dunkelheit. Vor ihnen ragte der Tempel auf. Die Tür war weit geöffnet. Ganz klar: Das Seufzen war aus dem Inneren gekommen.

Maltes Stimme bebte. »Oh Mann, was machen wir denn jetzt?«

»Nachsehen natürlich.« Aber ganz so tapfer, wie es klang, war Tim nicht. Er hatte ja nicht mal eine Waffe. Ihre Knüppel hatten sie im Inneren des Tempels liegen lassen.

Tim trat an den Eingang, bereit, jederzeit zurückzuspringen, sollte sich etwas auf ihn stürzen. Doch alles war ruhig.

Zu ruhig.

»Hallo?«

Ein dumpfes Knurren antwortete ihm. Erschrocken richtete Tim den Strahl seiner Lampe auf den Ursprung des Knurrens. Staub tanzte wie Schneeflocken an ihm vorbei.

Malte stieß ein Quicken aus. »Da drüben, an der Wand.«

Wie zur Salzsäule erstarrt, blickte Tim auf die gegenüberliegende Tempelwand. Es war ein Kojote. Ein schmales, ausgemergeltes Geschöpf, das sichtlich verängstigt vor der Wand stand. Den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt, den Kopf gesenkt, stieß es ein bedrohliches Knurren aus. Doch das war es nicht, was Tims Aufmerksamkeit erregte. Da war noch etwas anderes. Etwas Größeres.

»Sieh dir das an, Malte«, hauchte er. »Ist es wirklich das, wofür ich es halte?«

Doch Malte sagte nichts. Er riss die Augen auf, formte den Mund zu einem O und starrte auf das riesige Gebilde.

WorldRunner (2). Die Gejagten

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