Читать книгу WorldRunner (2). Die Gejagten - Thomas Thiemeyer - Страница 13
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Ein lang gezogener Schrei riss Tim aus dem Schlaf. Panisch schlug er die Augen auf. Wie erstarrt lag er auf dem Rücken und blickte nach oben. Ein tiefblauer Himmel wölbte sich über ihm. Rechts ein Felsen, links ein strauchartiger Baum, dessen Zweige Schatten spendeten. Durch das Geäst flirrte die Sonne.
Grillen zirpten.
Heiß war es hier. Heiß und trocken.
Tim hob seine Hände. Er trug die Handschuhe von Global-Games. Sie waren staubig und voller Steinchen. Wo war er? Wie war er hierhergekommen? Und wieso lag er auf dem Rücken?
Wieder ertönte dieser seltsame Schrei. Das Echo verhallte in weiter Ferne. Tim versuchte, den Laut einzuordnen. Das war kein Mensch. Eher klang es wie der Schrei eines Tieres. Eines …
Ein Schatten fegte über ihn hinweg. Tim zuckte zusammen. Mit weit ausgebreiteten Schwingen schwebte ein riesenhafter Raubvogel durch sein Sichtfeld. War das ein Adler?
Schlagartig richtete Tim sich auf. Er war jetzt hellwach.
Sein Körper steckte in dem grauen Overall, den ihm der Techniker vorgeführt hatte. Schwarze Stiefel, schwarze Handschuhe, rechts von ihm sein orangefarbener Rucksack. Ein seltsamer Gegenstand steckte auf seiner Nase. Die Brille. Aber …?
Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Die Ärzte, der Behandlungsraum, das Zeug, das sie ihm gespritzt hatten. Er hatte auf einer Pritsche gelegen, dann war er ohnmächtig geworden. Hatten sie ihn hierhergebracht? Wie viel Zeit war seither vergangen? Das Nachdenken bereitete ihm Unwohlsein. Sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. In diesem Moment erklang ein Rascheln von der anderen Seite des Baumes. Tim schrak zusammen. »Hallo?«
Das Zirpen der Grillen setzte für einen Moment aus.
»Ist da jemand?«
»Ja.«
Tim runzelte die Stirn. Eindeutig eine weibliche Stimme. »Annika, bist du das?«
»Nein, Vanessa.«
Warum kam sie nicht? Er musste selbst nachsehen. Auf allen vieren krabbelte er um den Baum herum. Da lag sie. Auf dem Rücken, genau wie er. Ihre blonden Locken ringelten sich wie Schlangen über den Boden. Sie trug ebenfalls Overall, Stiefel und Brille.
»Hi«, murmelte er.
»Wo … wo sind wir? Wie sind wir hierhergekommen?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte er.
»Toto, ich habe das Gefühl, dass wir nicht mehr in Kansas sind.« Der Satz schien völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Halluzinierte sie?
Sie drehte den Kopf in seine Richtung. »Kennst du den Zauberer von Oz?«
»Nein«, gab er zu.
»Nicht schlimm. Hilf mir mal hoch.«
»Ja klar.« Er reichte ihr seine Hand und beförderte sie in eine aufrechte Position.
Prüfend sah er sie an. »Wie fühlst du dich?«
»Ganz okay so weit«, erwiderte sie. »Ein bisschen schwindelig. Und Durst habe ich auch.«
»Geht mir genauso«, meinte Tim. »Warte kurz, ich sehe mal nach, ob ich etwas zu trinken finde.« Er zog den Rucksack hinter dem Baum hervor und öffnete ihn. »Gute Nachrichten«, sagte er erleichtert. »Hier drin ist eine Flasche mit Wasser und etwas Proviant. Deiner steht übrigens da drüben.«
Sie kroch auf ihren Rucksack zu und holte die blaue Flasche heraus. Sie öffnete den Verschluss und trank einen Schluck. »Schmeckt seltsam«, sagte sie und verzog den Mund. »Nicht wie Wasser. Eher wie ein Isogetränk.«
Tim probierte es. Vanessa hatte recht. Schmeckte wie das Zeug, dass sein Kumpel Farid immer trank. Der behauptete, es bringe seinen Mineralienhaushalt in Ordnung. Tim schraubte die Flasche wieder zu. »Wir sollten sparsam sein. Wer weiß, ob wir hier so bald etwas zu trinken finden.« Er sah sich um. »Eben habe ich einen Adler gesehen, glaube ich.«
»Dann war das also dieses seltsame Geräusch, ich habe mich schon gewundert.« Vanessa steckte die Flasche zurück. »Irgendwie habe ich mir das Spiel anders vorgestellt.«
»Ich auch.« Tim klopfte sich den Staub von den Klamotten. Um sie herum waren Felsen, dichte Sträucher und kleine Bäume. Was es schwierig machte, sich zu orientieren.
»Lass uns die anderen suchen«, sagte er und zog Vanessa auf die Füße. »Vermutlich sind sie nicht allzu weit weg.«
Sie warf ihm einen tiefen, langen Blick zu. »Danke«, sagte sie. »Danke, dass du in meiner Nähe warst. Du bist nett.«
Lange mussten sie nicht suchen. Nach wenigen Metern stießen sie auf Malte und Annika, danach auf Darius und Jeremy. Alle schienen zum selben Zeitpunkt erwacht zu sein und alle wirkten ziemlich verwirrt. Darius hatte seinen Rucksack ausgeleert und untersuchte den Inhalt. Doch es war nichts dabei, das Winston ihnen beim Briefing nicht schon gezeigt hatte. Eine Flasche, ein paar eingeschweißte Müsliriegel, Stirnlampe, Feuerzeug, Klettergeschirr und ein rotes Seil. Nichts davon half ihnen im Moment weiter. Ungehalten stopfte er alles wieder zurück. »Schöner Mist«, knurrte er.
»Wo zum Geier sind wir?«, stieß Jeremy erbost aus. »Ich dachte, wir würden ins Flugzeug steigen, irgendwo hingebracht werden und dann unsere Aufgabe lösen. Stattdessen pumpen sie uns so ein Zeug in die Adern, machen uns bewusstlos und setzen uns an einem wildfremden Ort aus. Dürfen die das überhaupt?«
»Stand sicher im Kleingedruckten«, sagte Tim mit schiefem Grinsen. Aber Jeremy hatte recht. So ganz koscher kam ihm das auch nicht vor.
»Hat jemand einen Plan, wo wir sind?«, erkundigte sich Vanessa.
»Könnte irgendwo am Mittelmeer sein«, murmelte Annika. »Griechenland oder so. Die Vegetation erinnert mich ein bisschen daran. Dann die Hitze und die Grillen …«
Tim hatte Zweifel. Gab es Adler in Griechenland? Auch hatte er das Gefühl, dass mit seiner inneren Uhr etwas nicht stimmte. Obwohl er lange geschlafen hatte, war er dennoch müde. Vielleicht lag das aber auch an dem Mittel, das man ihnen verabreicht hatte.
»Ich wüsste zu gerne, was die uns da gegeben haben«, sagte er. »Mein Schädel fühlt sich an, als hätte jemand mit dem Hammer draufgeschlagen.«
»Probiert mal das Zeug in der blauen Flasche«, sagte Malte. »Ich habe das Gefühl, es hilft gegen die Kopfschmerzen.«
»Gibst du jetzt hier die Befehle, oder was?« Jeremys Augen hatten dunkle Ränder.
»Das war nur ein Vorschlag«, sagte Malte entschuldigend.
»Na, dann ist’s ja gut. Darius und ich regeln das hier.« Er stand auf und schulterte seinen Rucksack. »Was hockt ihr hier noch rum? Vamos! Ich habe vorhin den Schrei eines Greifvogels gehört. Das Echo kam von dort drüben. Dort sollten wir beginnen.«
Tim schulterte seinen Rucksack und warf Annika einen vielsagenden Blick zu. Jeremy hatte sich kein bisschen verändert. Sollte er ruhig den Anführer spielen. Tim war der Letzte, der nach dieser Rolle strebte. Solange er keine Dummheiten anstellte oder leichtsinnig wurde, ging das für Tim in Ordnung.
Die Entscheidung, dem Echo zu folgen, erwies sich als richtig. Sie hatten etwa dreihundert Meter zurückgelegt, als die Felsen kleiner wurden, Bäume und Büsche verschwanden und sie hinaus ins Freie traten. Vor ihnen verlief eine steile Felskante, die sich kilometerweit in beide Richtungen erstreckte. Zu ihren Füßen gähnte ein tiefer Abgrund. Fast so wie der, den sie im Briefing gesehen hatten, aber mit feinen Unterschieden. Zum Beispiel gab es hier keinen Wasserfall. Rosa und gelb gestreifte Felsen markierten die Seitenränder, während im Tal unter ihnen dunkelgrüne Bäume wuchsen. Es gab keine Gebäude. Weder Straßen oder Autos, so weit das Auge reichte.
»Ist zwar schon eine Weile her, dass ich in Griechenland war«, murmelte Vanessa, »aber so wie hier sah es da nicht aus.«
»Nein«, räumte Annika ein. »Eher wie der Grand Canyon.«
»Wartet mal«, murmelte Tim. »Hat Winston nicht gesagt, die Brillen besäßen eine Menüfunktion, mit der man seinen Standort aufrufen könnte?«
»Hat er«, stieß Annika aus.
»Wieso warten wir dann noch?« Tim suchte nach dem Schalter, fand ihn an der rechten Seite und betätigte ihn. Ein leises Summen ertönte. Ein Raster legte sich über den Bildausschnitt. Die vertraute Stimme ertönte, während die Kamera die Umgebung auslas und interpretierte. Tim tippte auf den oberen Bildausschnitt. Augenblicklich öffnete sich das Systemmenü. Neben den Begriffen News, Wetter, Translator, Assistent und Hilfe, fand sich dort auch der Unterpunkt Maps. Tim tippte darauf und eine Weltkarte erschien. Eine kleine Textzeile blinkte am unteren Bildrand.
Searching for satellites …
Searching for satellites …
Searching for satellites …
Die Zeile färbte sich grün und ein neuer Schriftzug erschien:
Contact established.
Tim hielt den Atem an. Ein roter Punkt erschien. War das ihre derzeitige Position? Das konnte doch nicht sein …
»Um Himmels willen«, flüsterte Annika. »Das gibt’s doch nicht.«
»Wie sind wir denn hierhergekommen?«, flüsterte Vanessa.
Und Jeremy sagte: »Das liegt ja mitten in den …«
»… USA!« Maltes Stimme ähnelte der eines kleinen Tieres. »Mitten auf dem nordamerikanischen Kontinent!«
Tim versuchte, sich zu orientieren. »Irgendwo zwischen Las Vegas und Denver«, murmelte er. »Wie lange waren wir ohnmächtig? Das ergibt doch alles keinen Sinn.« Völlig benommen versuchte er, den Kartenausschnitt zu vergrößern. Er stellte fest, dass es ganz einfach ging, wenn man die Finger spreizte. Die Namen von Bundesstaaten erschienen.
»Colorado«, stieß er aus. »An der Grenze zu New Mexico, Utah und Arizona.«
»What …?« Darius wurde blass. Und auch der Rest der Truppe wirkte ziemlich geschockt. »Indianerland«, flüsterte Annika. »Hier steht’s. Dies hier dürfte das Stammesgebiet der Navajo sein.«
Jeremy, der seinen Schock schnell zu überwunden haben schien, grätschte auf seine übliche Art rein. »So ’n Quatsch«, stieß er aus. »Hier gibt’s doch keine Indianer mehr. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert.«
»Natürlich gibt es sie noch«, stellte Tim sich auf Annikas Seite. »Sie heißen jetzt zwar Native Americans oder Urvölker Amerikas, aber sie sind immer noch da. Und das hier ist ihr Stammesgebiet.« Er hatte inzwischen genug herausgefunden, um sicher zu sein. Darius bewegte seine Hände, als würde er ein unsichtbares Orchester dirigieren. »Ich kann hier überhaupt nichts erkennen. Die Karte will nicht tun, was ich ihr befehle.«
Tim ignorierte ihn und konzentrierte sich stattdessen auf die Zusatzinfos aus der Datenbank. »Das eigentliche Reservat liegt etwas weiter südlich«, sagte er, »aber Annika hat recht. Dies hier ist noch ein Teil davon.«
»Und was sollen wir hier?« Vanessas Stimme klang schrill. »Warum schicken sie uns in diese gottverlassene Gegend? Ich habe keine Lust, irgendwelchen halb zivilisierten Wilden in die Arme zu laufen.«
»Mal abgesehen davon, dass das rassistischer Bullshit ist, sollten wir ein bisschen auf unsere Wortwahl achten«, sagte Tim. »Vergesst nicht, was Winston gesagt hat: Diese Brillen können nicht nur empfangen, sondern auch senden. Solange wir online sind, sollten wir uns zweimal überlegen, was wir von uns geben. Wir wollen doch nicht dastehen wie Idioten, oder?«
»Dann lasst uns die Dinger doch abschalten«, sagte Darius. »Ich hasse es sowieso, ausspioniert zu werden.«
»Aber es ist nun mal Teil des Spiels«, sagte Tim. »Wenn uns die Zuschauer nicht sehen, verlieren sie das Interesse an uns. Ich bin dafür, sie anzulassen und möglichst viele Daten im Hintergrund abzurufen. Jeder noch so kleine Hinweis könnte wichtig sein. Ich nehme mal an, keiner von uns ist jemals hier gewesen, oder?«
Alle schüttelten die Köpfe.
»Na also. Beschränken wir uns darauf weiterzukommen. Wo liegt unser Claim, welches Rätsel wartet auf uns?«
»Und vergesst nicht, dass wir hier nicht alleine sind«, sagte Annika. »Irgendwo in dieser Gegend ist auch das gegnerische Team. Ich würde es gerne vermeiden, ihnen direkt in die Arme zu laufen.«