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IV. Funktionale Selbstverwaltung

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Das BVerfG spricht dagegen von „einem historisch gewachsenen und von der Verfassung grundsätzlich anerkannten Bereich nicht-kommunaler Selbstverwaltung, der im Übrigen sehr heterogene Erscheinungsformen aufweist und zusammenfassend als funktionale Selbstverwaltung bezeichnet wird“.[37] Deren Organisationsformen hat der Verfassungsgeber zur Kenntnis genommen und durch Erwähnung im Grundgesetz ihre grundsätzliche Vereinbarkeit mit der Verfassung anerkannt.[38]

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Wichtig

„Die funktionale Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt insofern das demokratische Prinzip. Sie kann als Ausprägung dieses Prinzips verstanden werden, soweit sie der Verwirklichung des übergeordneten Ziels der freien Selbstbestimmung aller (vgl. BVerfGE 44, 125, 142; Emde 356 f.) dient. Demokratisches Prinzip und Selbstverwaltung stehen unter dem Grundgesetz nicht im Gegensatz zueinander. Sowohl das Demokratieprinzip in seiner traditionellen Ausprägung einer ununterbrochen auf das Volk zurückzuführenden Legitimationskette für alle Amtsträger als auch die funktionale Selbstverwaltung als organisierte Beteiligung der sachnahen Betroffenen an den sie berührenden Entscheidungen verwirklichen die sie verbindende Idee des sich selbst bestimmenden Menschen in einer freiheitlichen Ordnung.“[39]

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Die Organisation der funktionalen Selbstverwaltung in Gestalt der Kammern stellt im Ergebnis ein Instrument der „Entstaatlichung“ ursprünglich staatlich gebundener Berufe,[40] ja der „Befreiung aus staatlicher Vormundschaft“ (Taupitz) dar.[41]

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Hendler konzentriert den Begriff der funktionalen Selbstverwaltung auf drei dominante Aspekte: Als Teil des Staates wird Selbstverwaltung durch öffentlich-rechtliche Merkmale gekennzeichnet. Sie verkörpert die Betroffenenmitwirkung (Partizipationsprinzip) und erfüllt ihre Aufgaben in Distanz zum Staat eigenverantwortlich.[42] Dabei geht es – in Fortführung des Minderheitenschutzgedankens – um „Betroffenenschutz durch Betroffenenteilnahme“.[43] „Insoweit unterstützt und ergänzt Selbstverwaltung die grundrechtlichen Freiheitsgarantien auf der Ebene der politischen Willensbildung und Entscheidung.“[44]

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Dem steht die Pflichtmitgliedschaft in den Selbstverwaltungs-Organisationen nicht entgegen; sie ermöglicht als freiheitskonstituierendes Element, dass Aufgaben durch die Betroffenen, nicht durch den Staat wahrgenommen werden.[45] Selbstverwaltung bedeutet darüber hinaus Dezentralisierung. In der „Pluralisierung hoheitlicher Entscheidungsträger“[46] liegt ein Moment vertikaler Gewaltenteilung. Allerdings müssen die Bildung der Organe, ihre Aufgaben und Handlungsbefugnisse in ihren Grundstrukturen in einem parlamentarischen Gesetz ausreichend bestimmt sein. Dies setzt voraus, dass eine angemessene Partizipation der Berufsangehörigen an der Willensbildung gewährleistet ist.[47] Dazu gehört, dass die Organe (Vorstand, Vollversammlung oder auch Vertreterversammlung) nach demokratischen Grundsätzen gebildet werden und institutionelle Vorkehrungen getroffen werden, dass die Beschlüsse nicht einzelne Interessen bevorzugen.[48] Demokratie kann zwar ohne Selbstverwaltung, Selbstverwaltung jedoch nicht ohne demokratische Verfasstheit gedacht werden.[49]

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Hinweis

Unter funktionaler Selbstverwaltung wird im Gegensatz zur kommunalen Selbstverwaltung eine an die Funktion, vor allem an eine Berufsausübung anknüpfende Begründung von Selbstverwaltungsrechten und Verwaltungsträgern verstanden.[50]

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Immer wieder wird auch im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung das Kammersystem, u.a. unter dem Blickwinkel des europäischen Gemeinschaftsrechts, in Frage gestellt. Dabei hat der EuGH bereits 1983 entschieden, dass die Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Kammer mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.[51] Es sei allein Aufgabe der Mitgliedstaaten, den Umfang der nationalen Selbstverwaltung zu kontrollieren, um nachteilige Folgen für die Verbraucher und die Verfolgung des Allgemeininteresses zu verhindern.[52] Ebenso hat der BGH festgestellt, dass die Ausgestaltung der Pflichtmitgliedschaft in den deutschen Kammern der wirtschaftlichen und berufsständischen Selbstverwaltung europarechts-konform ist. Dies gelte insbesondere für die Grundprinzipien, das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 12 der Grundrechte-Charta, Art. 11 EMRK, die Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV, sowie die in Art. 101 ff. AEUV enthaltenen Bestimmungen des europäischen Kartellrechts“.[53]

Auch die Bundesregierung hat wiederholt festgestellt, dass der Status der Kammern europarechtlich für sie nicht zur Disposition steht.[54]

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Allerdings unterliegt Selbstverwaltung den Anforderungen von Transparenz, Effizienz, Folgenabschätzung und Kontrolle. Das Europarecht gibt der verfassten Selbstverwaltung in Gestalt berufsständischer Kammern – beispielsweise bei der Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie – neue Impulse, die nicht nur auf den Aufgabenbestand wirken, sondern zur Modernisierung des Kammerwesens beitragen können.[55] Nicht verkannt werden darf, dass Reglementierungen, so u.a. die staatlichen Gebührenordnungen (auch vom EuGH) kritisch gesehen werden.[56] Regelungen „zur Sicherung einer ordnungsgemäßen Ausübung des Berufs“ verstoßen nach der Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Wouters[57] nicht gegen das Wettbewerbsrecht in Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag.

6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der SelbstverwaltungC. Selbstverwaltung › V. Perspektiven der Selbstverwaltung

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